H. DERHANK

Der Zwilling


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ist, die sich auf einen seltsamen Helm beschränkt, wie eine Krone, die dir eine NTA aufsetzt, was Neurologisch-Technische Assistentin heißt, eine nach innen gestülpte Krone, deren Zacken sich durchs Haar bohren bis auf die Kopfhaut, in die sie vorher ein kühlendes Gel einmassiert hat.

      Noch vorher hat dir ein Fließbanddoktor - weil du das erste Mal hier bist - ganz automatisch auch eine kleine Menge Hirngewebe entnommen, so routiniert, dass es nicht einmal beim Denken gestört hat. Ein winziger Bohrer hat sich, während er noch mit dir sprach, unbemerkt durch deine lokal anästhesierte Schädelplatte geschraubt, ist eingedrungen bis ins Hirn, aus dem eine durch diesen Bohrer geführte nanometerdünne Sonde ein paar Zellen absaugte. Und du hast nichts davon gespürt und hätte er dich nicht darauf hingewiesen, du würdest gar nicht wissen, dass sie aus diesem entnommenen Gewebe neuronale Stammzellen extrahieren werden, die man mit manipulierten Viren impft, sogenannten 'Adenoviren', die das Nervenzellenwachstum anregen, mithilfe eines Hormons, das man wiederum aus einem Pilz gewinnt und das das Wachstum von Dendriten und Axonen antreiben soll, jenen Verbindungsstraßen, die das Denken ermöglichen, sodass fortan auf der Körperseite (und nicht Geistseite, aber was ist schon Geist?) irgendwo unter den idealen Bedingungen eines medizinischen Labors - oder vielmehr einer riesigen, für Millionen Gehirne ausgelegten Neuronenbank - für dich nun ein persönlicher Zellpool gezüchtet und eingelagert wird, dauerhaft am Leben gehalten in einer temperierten und sauerstoffversorgten Nährlösung, und fortan diese Biomasse der Grundstock für dein potenzielles Ersatzgehirn sein wird. Neuronale Stammzellen, die, falls man ein (dein!) abgestorbenes Gehirn wiederbeleben muss, als injiziertes Start-up für eine Neubesiedelung deiner Hirnrinde sorgen werden, Neubesiedelung oder auch

      Invasion.

      Der Raum, in dem sie dir den Helm aufsetzt, ist eine Art Verhörzimmer, aber nicht beklemmend, sondern eher angenehm, schlicht und schön, mit Holzfußboden, ein bisschen Kunst, unaufdringlich oder zurückhaltend, Stimulanz fürs Unbewusste, es ist ein schlichter, fast leerer Raum, dunkel (sind die Wände dunkel? Oder nur nicht beleuchtet?), und neben der Kunst ein Stuhl, Holz, und ein Tisch, auch Holz, darauf ein paar Blätter weißes Papier, und Stifte, und davor an der Wand ein Bildschirm. Und eine Musik (die ich mir vorher habe aussuchen dürfen), Klänge aus unsichtbaren Boxen, gute Klänge, guter Klang, obwohl ich kein Mozartfan bin, habe ich mir Mozart ausgesucht, das erste Krönungskonzert (ausgerechnet), auf einem Spinett gespielt, dazu ein angenehm sandelholziger Duft, das ganze Programm körperferner Sinnlichkeit, nichts was dir nahe geht, aber umso angenehmer in seiner Berührung, und, ach ja, einen Kaffee bekomme ich, auf dem Tisch in einer weißen Porzellanschale mit Milchschaum, ein sehr guter Kaffee, du bist perfekt für ein perfektes Backup.

      Die NTA legt dir einen mehrseitigen Fragebogen hin. Eine umfangreiche Erhebung der Dinge, die dich am meisten interessieren würden, würdest du nach vier Wochen von einer einsamen Insel zurückkehren. Du kannst wählen, ob sie dich interviewen soll, oder ob du die Fragen alleine beantworten willst. Man lege eine Akte an, erklärt sie dir, in der du deine nahe Zukunft so gut wie möglich einengst auf das Wahrscheinliche. Was hast du in den nächsten Wochen vor etc., es sind doch nur vier Wochen bis zum nächsten Mal, oder? Sie verspricht dir, dass alles, was du aufschreibst, unter euch bleibt, Datenschutz etc., und dass die Unterlagen in einem Ordner gesammelt werden, den man, sobald du gescannt bist, mit einem Siegel verplombt. Es gehe wirklich nur um die nächsten vier Wochen, die maximale Zeitspanne, an die du dich im Falle deines Todes nicht erinnern würdest: Was werden Sie lesen, welche Filme wollen Sie sehen, inter­essieren Sie sich für Politik oder Malerei, und wenn ja, welche? Sport? Fußball, nein, nein, aber Wissenschaft, immer gerne, Teilchenbeschleuniger und Kosmologie, und welche Zeitschriften? Papier oder analog, und treiben Sie Sport und welche öffentlichen Räume suchen Sie auf und an welchem Projekt arbeiten Sie gerade, Sie sind doch Architekt? Während du deine Zukunft aufschreibst, führt die Assistentin dich so geschickt und routiniert durch die Fragen, dass du gar nicht auf die Idee kommst, über diese Zukunft ernsthaft nachzudenken.

      Beim Ausfüllen eines separaten Bogens für wichtige Passwörter schaut sie betont weg. E-Mail, Handy und Konto, dieses Blatt kommt in einen Umschlag, den sie verschließt und mit einem Lackstift versiegelt. Anschließend nimmt sie den Fragebogen und alle Unterlagen an sich und lässt dich allein. Der Helm ist schwer, und die Sonden, oder was immer dich darunter piesackt, lösen ein eigenartiges Kribbeln aus. Die Maschine arbeitet also bereits. Der Wachscan hat begonnen. Aber der eigentliche kommt erst noch. Man wird mich anschließend in ein Schlaflabor bringen, das noch immer so heißt, obwohl man doch behauptet, aus der Laborphase längst raus zu sein. Ich stelle mir ein Krankenhausbett vor und mich selbst vollgestöpselt mit Geräten, und natürlich werde ich auch da den Helm tragen, denselben, klopf, klopf, klopf, aber das sollte ich besser lassen. Ich werde mich in die Hände eines Psychologen begeben, eines Schlafhypnotiseurs, man wird mich gleich hypnotisieren, hat die NTA gesagt, auf die sanfte Art, der Psychologe sorge nur dafür, dass man nicht ewig warten muss, bis ich einschlafe, trotz allem muss die Gesellschaft wirtschaftlich arbeiten. Ich werde hier nicht übernachten, aber ich werde bis zum Erreichen des traumlosen Tiefschlafs dort bleiben. Bis mein Gehirn nur noch Delta-Wellen aussendet. Und dann werde ich richtig gescannt. Komplett. Thomas Vanderra in der Sekunde Null. Das muss im Schlaf geschehen, technisch ist es zwar auch im Wachzustand möglich, ein Eins-zu-eins-Abbild des Gehirns zu erzeugen, aber im Falle einer Reinkarnation sollte man unbedingt mit dem Bewusstsein erwachen, zuvor eingeschlafen zu sein. Mich wach zu scannen hieße, mich im Falle meines Todes und einer anschließenden Reinkarnation von einem Wachmoment übergangslos in einen anderen Wachmoment zu schleudern. Was das Gehirn überfordern würde, traumatisieren, bis hin zu epileptischen Abfällen, und irreversiblen psychischen wie organischen Schäden. So die Theorie. Der vorhergehende Wachscan bildet zwar die Basis des Backup, er erzeugt den über das Jetzt-Empfinden hinausgehenden Gesamtstaus, und er soll im Fall des Falles die Reinkarnation mit der richtigen Grundierung unterstützen, Feuer frei über die Sonden der Dornenkrone. Was nur dann funktioniert, wenn man so einem wiederbelebten Zellklumpen obendrein noch eine Seele einhaucht, was wiederum mittels des Scans geschieht, des Scans dessen, was einen ausmacht, im Kopf.

      Seele?

      Mittels eines aus den gescannten und gespeicherten Daten erzeugten Magnetfeldes würden die vorhin entnommenen und kultivierten Zellen bei einer Neubesiedelung gezwungen werden, sich das tote Gehirn auf eine ganz bestimmte, individuelle Art einzuverleiben, es gewissermaßen systematisch aufzufressen und selbst zu diesem Gehirn zu werden, sie werden morphogenetisch gezwungen, sich nach einem vorgegebenen Plan zu entfalten, zu teilen und zu vernetzen, Axone und Synapsen zu bilden und so weiter. Der Begriff Magnetfeld ist dabei unzureichend, es ist ein zig Billionen Informationen umfassendes virtuelles Strukturgebilde, das man 'Morphocerebrales Feld' nennt. Und das dafür sorgt, dass die Hirnneubildung exakt in der Form geschieht, wie dein Gehirn zu dem Zeitpunkt gewesen ist, als es gescannt wurde.

      Aber noch sitze ich in dem Wachraum, noch bin ich ich, Thomas Vanderra, der noch nicht schläft, der alleine einen Film schaut und den Kaffee trinkt, und die Maschine über ihm summt und macht interessante Geräusche, die an die Innengeräusche startender Flugzeuge erinnern, das Summen und Klingen und die sanften, dumpfen Stöße beim Einfahren der Landeklappen, und der Film ist nichts Aufregendes, aber einer zum Wohlfühlen, du hast dir 'Drei' von Tom Tykwer ausgesucht. Der Film läuft ohne Ton, stattdessen Mozarts Spinettmusik, das ist Absicht, du sollst dich nicht zu sehr darin verlieren, aber du kennst die Geschichte der Drei, die sich am Ende lieben, eigentlich den ganzen Film hindurch, zwei Männer, eine Frau, und dann denke ich doch an Franka, obwohl ich mir vorgenommen habe, beim Backup meines Geistes jeden Gedanken an sie zu verdrängen. Obwohl ich mir vorgenommen habe, mich nicht an sie erinnern zu müssen, im Falle, dass. (Was natürlich nicht geht, du weißt das!)

      Für einen Moment scheint mir die Gegenwärtigkeit des Raums nicht real, die Situation wird zur Szene, verliert sich in etwas Vorgestelltem, wie eine aufgerufene Erinnerung, wie es unter dem Scanner gewesen WAR oder eine auftauchende Ahnung, wie es dort sein KÖNNTE: Ich nehme einen gelb leuchtenden, halbtransparenten Ballon über mir wahr, futuristisch, und der Ballon ist verbunden mit dem Helm, den ich noch immer trage, in dem sich unzählige heiße Nadeln in meinen Kopf gebohrt haben, durch die Kopfhaut, durch den Schädelknochen bis ins Hirn, so haben sie gesagt, die Ärzte, aber, nein, das stimmt nicht, nicht durch die Knochen, nicht einmal durch die Haut, es käme nur auf eine perfekt gleichmäßige Verteilung