Norbert F. Schaaf

Afghanistan Dragon


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nicht. Dennoch würde es bald im Dorf eine Besserung geben. Mir Khaibar, der qariadar, der Dorfälteste, war zusammen mit Jalaluddin, dem Onkel des Mädchens Sanaubar, nach Faïzabad gezogen, vor mehr als zwei Wochen schon. Die beiden Männer hatten alle verfügbaren Kamele mit Rohopium beladen, um es in Faïzabad, der ersten großen Stadt im westlichen Tal, gegen Geld einzutauschen. Dafür würden sie alles kaufen, was das Dorf benötigte: Salz, Mehl, Dörrfisch, geräuchertes Geflügel, Speiseöl, Tee, Zucker, Seife und Zahnpasta.

      Vor dem Aufbruch der Karawane waren lange Debatten darüber geführt worden, ob man sie bewaffnen sollte oder nicht. Eine Anzahl junger Männer war bereit gewesen, zum Schutz mitzugehen. Schließlich hatten sie sich entschieden, lieber unbewaffnet aufzubrechen. Gewiss, sie könnten einer der in den Bergen vagabundierenden Horden von al-Qaida-dozds in die Hände fallen. Die Banditen würden die Männer töten und das Opium rauben, um es selber den Fremden zu verkaufen, mit denen sie auf gutem Fuß zu stehen wussten. Doch Mir Khaibar hatte gemeint, mit einigem Geschick ließe sich eine solche Begegnung vermeiden. Ebenso wie Jalaluddin kannte er jeden Steg in den Bergen, und die Karawane würde auf einer Route marschieren, die so gut wie sicher war.

      Die Männer müssten indes längst zurück sein. Sanaubar war ein wenig beunruhigt. Sie lebte seit ihrer Kindheit bei ihrem Onkel. Kaka Jalaluddin hatte versprochen, ihr aus Faïzabad eine Haarspange mitzubringen und noquls, die leckeren Konfektstücke in Form von Maulbeeren. Nun war sie neugierig, ob er das auch nicht vergessen hatte. Sanaubars Haar fiel weit über ihre Hüften herab, geflochten in einen dicken Zopf. Wer sie auf dem Mohnfeld sah, das Gesicht voll von verkrustetem Hühnerblut und von Erde, konnte dennoch feststellen, dass sie ein außerordentlich schönes Mädchen war. Sie hatte ein zierliches Kinn, hohe Wangenknochen, ausdrucksstarke rehbraune Augen, dichte, wunderschöne geschwungene Brauen, eine glatte Stirn und in der Mitte gescheiteltes Haar, das wie ein kostbarer Schal ihre Hüften umspielte. Sie bewegte sich mit einer fließenden Grazie, die Blicke auf sich zog. Als der ausländische Pilot der ersten Maschine, die bei Karambar gelandet war, sie angesehen hatte, war er überrascht gewesen. „Was machst du hier in den Bergen? Du gehörst nach Kabul! Dort könntest du mit deinem Aussehen eine Million machen!“

      Sanaubar hatte nur lachen können. Der Pilot war von ihrem Lächeln auf den Lippen und von ihren großen dunklen Augäpfeln mit den sanft geschwungenen Lidern so beeindruckt gewesen, dass er ihr mehrmals Geschenke aus Kabul mitgebracht hatte, ein Kleid, ein Stück duftender Seife oder Schokolade. Er hatte lange um sie geworben, und das Mädchen war ihm ausgewichen. Warum hatte er sich so töricht angestellt? Hatte er nicht gemerkt, dass sie nicht mit ihm allein sein wollte? Es ihm offen zu sagen, wäre unhöflich gewesen. Also hatte sich ihr Onkel Jalaluddin eines Tages entschlossen, dem Amerikaner mitzuteilen, dass Sanaubar einem jungen Mann versprochen sei, der Vollwaise war und wie das Mädchen seit seiner Kindheit in Jalaluddins Haus lebte und nach seiner Rückkehr vom Studium in Kabul auch wieder leben würde. Jalaluddin hatte ihre Eltern gekannt. Sie waren kurz hintereinander gestorben am Berghusten, jener tückischen Krankheit, die es seit jeher in den Bergen gab.

      Der allein stehende Jalaluddin hatte den Jungen wie einen Sohn aufgezogen. Als er entdeckt hatte, dass Khaled ein außergewöhnlich kluger, begabter Junge war, hatte er durch Vermittlung der Tante Sanaubars, die in Kabul lebte, einen Studienplatz für ihn gekauft. Damals war ihm das noch aus dem Ertrag des Opiumhandels möglich gewesen. Heute war er froh, wenn Khaled in diesem Sommer das Studium beendete, sein Examen machte und nach Karambar heimkehren würde.

      Für jeden im Dorf war klar, dass Sanaubar und der Student dann heiraten würden. Und Khaled würde dem Dorf raten können, wie aus der Lage herauszukommen war, in die es die Fremden gebracht hatten.

      Auch Sanaubar wartete mit Ungeduld darauf, dass Khaled kam. Sie befürchtete zwar nicht, dass er sich in Kabul ein anderes Mädchen gesucht hatte, denn sie wusste, dass er sich in der großen Stadt nicht wohl fühlte und über manche Lebensgewohnheiten der Leute dort den Kopf schüttelte. Er ging auch Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg, bei einer Demonstration war ihm das Nasenbein eingeschlagen worden. Und Sanaubar sah, dass in Karambar möglichst bald etwas verändert werden musste, wenn das Dorf nicht zugrundegehen sollte. Das Unternehmen, das Mir Khaibar und Jalaluddin begonnen hatte, der heimliche Verkauf von Opium in Faïzabad, würde ein wenig helfen, wenn auch nicht auf die Dauer.

      Wie oft sagte Khaled zu ihr: „Dostet darum.“ Und sie bestätigte: „Ich liebe dich auch.“ Er nannte sie: „Meine malika, meine gul.“ Und sie fühlte sich wie eine Königin, wie eine Blume. Und er sagte: „Du bist maghbool wie der Mond.“ Khaled sah sie ehrlich als eine ausgesprochene Schönheit, sie selbst sich allenfalls als apart. Sie habe einen kleinen melancholischen Zug um die zart geschwungenen Lippen, sagte ihr Khaled, und ein heiteres Lächeln in den Augen. Dieser Ausdruck aber könne wechseln, dann sehe er Melancholie in ihren Augäpfeln und das Lächeln um ihren Mund und wieder umgekehrt – je nach ihrer Stimmung und ihrem Befinden. Selten einmal lächelten Augen und Lippen zugleich. Und stets nur, wenn sie sich unbeobachtet glaubte.

      Sanaubar schätzte freilich am meisten an Khaled, dass er sie teilhaben ließ an seinen wissenschaftlichen Forschungen und politischen Ansichten, an seinen Gedanken und Plänen, an seinen Befürchtungen und Hoffnungen. Khaled und Sanaubar gingen liebevoll miteinander um und voller Zärtlichkeit, doch nicht dies, sondern ihre Diskussionen ritzten das Bewusstsein.

      2

      Versonnen, mit lächelnden Augen und Lippen, ritzte das Mädchen geschickt eine Mohnkapsel nach der anderen. Ab und zu streckte es sich und schaute nach der Sonne, die nur noch knapp über den Berggipfeln im Westen stand. In einer Stunde würde das Licht fahl werden. Das bedeutete jedoch nichts weiter, als dass die Sonne hinter den Felszacken entschwand, danach dauerte es noch zwei Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit, und Sanaubar wollte zur Nacht ins Dorf zurück. Sie blieb nicht in einer der aus Zweigen und Lehm errichteten Hütten am Rand des Felsens, wie die meisten anderen Frauen, die sogar ihre Kinder mit hierher genommen hatten. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Jalaluddin und Mir Khaibar heute noch zurückkehren würden, da wollte sie zu Hause sein.

      Sie wunderte sich, als sie einen Mann aus der Schlucht herauskommen sah. Die Männer arbeiteten jenseits des Berges, auf einem Steilhang, an dem das Ernten noch schwerer war als auf dem leicht aufsteigenden Feld. Es war noch zu früh, dass die Männer sich einstellten, um gleich ihren Frauen den Abend zu Hause zu verbringen. Doch der Mann rief schon von weitem ihren Namen.

      Sanaubar steckte das Messer weg und trat vorsichtig, so dass sie möglichst keine der Mohnpflanzen knickte, vom Feld auf den schmalen Pfad, der zur Schlucht führte, und lief dem Mann entgegen. Als sie vor ihm stand, sagte er ein wenig betreten: „Geh ins Dorf zurück, hamshira jo!“

      „Dann ist die Karawane gekommen, ja?“

      „Jalaluddin ist da.“ Er drehte sich um und ging.

      Sanaubar wunderte sich zwar, dass er so bedrückt erschien, doch lief sie los, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Auf dem Weg summte sie eine alte Hazara-Weise über Tulpenfelder vor sich hin, eine afghanische Melodie, die immer dann in ihrem inneren Ohr aufklang, wenn sie an ihre Liebsten dachte – Khaled und Shanzai.

      Drei Dutzend Häuser, an den Rändern eines kleinen Plateaus verteilt, bildeten das Dorf Karambar. Ein wenig niedriger Wald stand ringsum, ein paar Flächen waren mit Büschen und Gestrüpp bewachsen, und dazu gehörten die liebevoll angelegten kleinen Felder mit Trockenreis, Gemüse, Erdnüssen, Minze und Kartoffeln, auf deren Gedeih und Ernte so wenig Verlass war wie auf ausreichend Wasser. Die Häuser verdienten ihren Namen kaum, es waren meist recht primitive Hütten aus gebrannten Ziegeln, mit einem Lehm- und Strohgemenge beworfen. Die Lehmhütte, in der Sanaubar geboren war und ihr ganzes Leben gewohnt hatte, war spärlich eingerichtet, aber sauber, beleuchtet von zwei Petroleumlampen. Es gab ein unteres Stockwerk für die Männer, ein oberes für die Frauen. Matratzen oder Matten lagen an allen Seiten der Räume, dazwischen abgetretene Herati-Teppiche mit ausgefransten Rändern, in je zwei gegenüberliegenden Ecken standen dreibeinige Stühle und kleine Holztische. Die Wände waren nackt bis auf ein angenageltes Regalbrett und einen Wandteppich. Der im Frauenstockwerk hatte eingenähte Perlen, die die Worte Allah-u-akbar formten, ein saughat, ein Souvenir von einer Auslandsreise des Hausherrn. Ein paar Töpfe und Pfannen hingen oben an Pfosten, ein Bild