Norbert F. Schaaf

Afghanistan Dragon


Скачать книгу

Hodler blickte den Fahrer verwundert an, da dieser den Motor noch nicht anließ, sondern ihn fragend ansah. „Ist noch etwas?“

      Der Fahrer hatte längst begriffen, dass dieser kleine Mann zum ersten Mal in Kabul war. Er würde ihn trotzdem nur in vertretbarem Ausmaß betrügen. Nachdenklich sagte er jetzt: „Pul-e-Mahmood Khan, das wären dann sechzig Afghani, Mister...“

      „Aah“, machte Hodler. Es war offenbar üblich, sich vor der Fahrt über den Preis zu einigen. Er rechnete schnell, ehe er anbot: „Ich habe noch kein afghanisches Geld eingewechselt. Würden Sie mit drei Euro zufrieden sein?“ Immerhin lag der Flughafen nur etwa drei Kilometer nordöstlich der Hauptstadtperipherie.

      Der Fahrer startete sogleich. „Damit bin ich sehr zufrieden, Mister.“ Ein Fahrgast, der nicht kleinlich war. Eigentlich wären zwei Euro für die Fahrt in dem nicht mehr ganz neuen und auch nicht gerade modernen Wagen genug. Während Hodler sich zurücklehnte, empfahl ihm der Fahrer: „Mister, wenn Sie einen bestimmten Tipp wollen, sagen Sie es bitte. Einen guten Stadtführer? Wir haben hier sehr gute Badehäuser mit Massage.“

      Hodler lächelte. Er kannte das aus den Reiseführern, die er gelesen hatte. Doch er war nicht gekommen, um in einem hamam zu schwitzen und sich massieren zu lassen. Ein Restaurant, das war schon wichtiger.

      Der Fahrer riet ihm: „Marco Polo oder Haji Baba, das sind die Restaurants mit der besten einheimischen Küche. Wenn Sie chinesisch essen wollen, empfehle ich Ihnen den Golden Dragon oder das Great Shanghai. Beide in der Kocheh-Morgha, der Chicken Street, wo Sie auch Teppiche und Antiquitäten erwerben können – alles sehr billig und bestimmt echt. Ein Taxi fährt Sie von Ihrem Hotel in ein paar Minuten dorthin. Bezahlen Sie nicht mehr als hundert Afghani, das ist reichlich!“

      „Danke“, sagte Hodler. Hühnerstraße, dachte er, das klingt fast schon abgeschmackt. Der Chauffeur sprach ein einigermaßen gutes Englisch, doch das war wohl in dieser Stadt nichts Außergewöhnliches. Hodler blickte aus dem Fenster. Seine Augen klaubten automatisch all die Merkmale auf, die stützten, was vorab bekannt war: Ruinen, Kreuze, Grabhügel mit wehenden Flaggenfähnchen, Waffen, Einschusslöcher, Brandspuren, ausgebrannte Panzer, gestrandetes schweres Gerät und am Straßenrand einbeinige Kinder, einarmige junge Männer, minderjährige Witwen.

      Die Stadt begann mit niedrigen Behausungen, doch dahinter türmten sich hohe Betonklötze in den Sandfarben von Schmirgelpapieren der neuen Bauten auf. Der Gegensatz konnte nicht größer sein: Eine riesige, neuerrichtete Moschee mit integrierten Schulgebäuden neben Glaspalästen für Banken, Hotels und Hochzeitshallen sowie einem gerade aufgebauten überdimensionierten Shopping-Center mit westlichem Interieur und der entsprechend modisch gestylten, vielfach weiblichen Kundschaft. Manchmal hatten die Architekten diesen modernen Bauwerken ein paar Arabesken verliehen, die daran erinnern sollten, dass dies ein orientalisches Land war. Ein Anblick, der Hodler nur bedingt beeindruckte.

      Spürfahrzeuge donnerten vorbei, Panzer, Jeeps, Geländewagen der Schutztruppen und Kleinbusse der Nicht-Regierungsorganisationen. Ab und zu passierten sie knallbunte einzelne Zapfsäulen, die Tabernakel der Epoche des Klimawandels. Wenn er sich recht erinnerte, hatte sich so oder so ähnlich der Autor Roger Willemsen in dem Bericht seiner afghanischen Reise ausgedrückt.

      Vor dem Hotel half der Fahrer ihm, die Koffer zu tragen. Hodler bedankte sich freundlich, doch der Mann wehrte den Dank ab. Er wünschte einen guten Aufenthalt und entfernte sich, zufrieden mit sich und dem unerfahrenen Fahrgast, dem er trotzdem nicht so viel Geld abgenommen hatte, wie es vielleicht möglich gewesen wäre.

      Hodler schrieb sich in das Gästebuch ein und erstand die Kopie eines Stadtplans, während ein Hoteldiener in burgunderroter Polyesterlivree, weißem Hemd mit Ansteckkrawatte und steifer Schirmmütze bereits mit seinem Gepäck im Treppenaufgang verschwand, vorbei an einem mit einer Kalaschnikow bewaffneten Guard. Der Fahrstuhl war wohl wegen Stromausfall außer Betrieb. Der junge Mann, der Hodler abfertigte, nickte höflich, als der Gast sich erkundigte, ob er ihm auf der Karte eine paar Wege zeigen könne.

      „Ja, sehr freundlich. Das Büro für industrielle Kooperation?“ fragte Hodler. „Es soll in der Straße fünfzig, der Sarak-e-Mehmana liegen.“

      „Straße fünfzehn“, korrigierte der junge Mann lächelnd. Er kannte nicht nur die Straße, sondern auch dieses Büro, ließ es sich jedoch nicht anmerken. Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Karte. „Hier, nicht weit vom Kriegsopfer-Hospital, Sir.“

      Unvermittelt fiel der Strom aus. Kommentarlos klappte der Portier sein Handy auf und orientierte sich am kalt-blauen Licht der Displays. Das Gespräch ging weiter.

      „Und dann“, sagte Hodler, „suche ich noch einen Herrn, der hier eine Fabrik für Seidenfasern besitzt. Leider weiß ich die Straße nicht, nur seinen Namen. Mister Spencer Wright.”

      „Oh, Mister Wright!“ Der junge Mann machte mit seinem Bleistift ein Kreuz auf die Karte. „Natürlich ein bekannter Name. Große Fabrik für echte Seide, ja Sir. Hier finden Sie ihn. Darulaman-Boulevard, nicht weit vom Hafis Park. Möchten Sie seine Telefonnummer, Sir?“

      „Dafür wäre ich Ihnen sehr verbunden“, gestand Hodler erleichtert.

      Der junge Mann schrieb eine Nummer aus dem Telefonverzeichnis ab und gab Hodler den Zettel. „Sie können von Ihrem Zimmer aus telefonieren, Sir.“

      Auf seinem Zimmer öffnete Hodler sogleich die Koffer und entnahm einen neuen, hellen Anzug. An der Wand hing ein eingeschweißter DIN-A4-Computerausdruck mit Touristen auf Liegestühlen vor Bambushütten darauf. Unten aufgedruckt stand: AFGHANISTAN. Auf dem Bett lag eine Tagesdecke aus mit fetten roten Rosen bedrucktem Velours. Durch das aus Europa oder China importierte Plastikfenster blies der stetige Kabuler Wind sandfarbenen Staub herein, die Sommersonne warf sandgefärbte Strahlen hindurch. Nach dem Duschen bestellte Hodler einen Imbiss aus Sandwiches und Früchten. Danach hatte er das Bedürfnis, ein Stündchen zu schlafen, und er schob den Besuch im Büro für industrielle Kooperation auf bis zum frühen Nachmittag. Den in der Mitte des Zimmers an der Decke befestigten Ventilator, der den Zusatz „vollklimatisiert“ im Hotelprospekt rechtfertigen sollte, stellte er ab. Er schlief kaum eine Stunde, doch als er aufwachte, fühlte er sich ausgeruht.

      Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass er noch Zeit hatte. Er las Mitschriften aus TV-Gesprächsrunden, die er sich aus dem Internet ausgedruckt hatte, von Aussagen des langjährig orienterfahrenen Deutsch-Franzosen Pierre Scholl-Latour, der sagte, es gehe den großen amerikanischen Konsortien nicht nur darum, die Erdölförderrechte in Aserbaidschan, Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan zu erwerben, weswegen sie sich überhaupt erst wieder für Afghanistan interessierten, sondern auch darum, den Transport des „schwarzen Goldes“ sicher und kostengünstig unter eigene Kontrolle zu bringen. Den US-amerikanischen Prospekteuren sei daran gelegen, die russischen Leitungen und die iranische Route zu umgehen. Stattdessen hätten sich die texanischen Investoren für den Bau einer eigenen Pipeline durch Afghanistan entschieden. Nun gelte es, diese Trasse politisch und militärisch zu stabilisieren. Nicht aus Dankbarkeit für ihren heldenhaften Kampf gegen den Sowjet-Giganten nehme man sich der Afghanen wieder an, sondern „aus schnödem Kalkül und merkantiler Habgier“.

      Ein Leichnam herrsche über die menschenwimmelnde, hässliche Metropole Kabul, die vom Krieg so grausam verstümmelt worden sei. Gerade weil die Machtverhältnisse an der Spitze Afghanistans extrem verworren seien, gewinne der tote Massoud eine so überdimensionale Bedeutung. Gewiss gebe es da den Interimspräsidenten Hamid Karzai, einen Paschtunen aus vornehmem Geschlecht, der der Königsfamilie aus Kandahar nahestehe. Karzai sei in der Stunde des großen Gedenkens an den Tadschiken Massoud in die USA abgereist. „Dort gehört er auch hin“, sagten die Afghanen; denn längst sei dieser ehemalige Pfründenempfänger der texanischen Öl-Firma Unocal in den Augen des Volkes zur US-amerikanischen Marionette geworden, der verlängerte Arm der USA. In Washington habe man den extravagant gekleideten Feudalherrn, dessen Anhang weggeschmolzen sei wie das Gletschereis im Klimawandel, nachsichtig als „Gucci-Mudschahid“ belächelt. In Kabul sei man weniger tolerant. Dort wisse man, dass die absurde Versammlung auf dem Petersberg bei Bonn in Deutschland, die ihn im Herbst 2001 zur tragenden Figur des Post-Taliban-Regimes proklamiert habe, eine fremdgesteuerte Farce gewesen sei, bei der die