Norbert F. Schaaf

Afghanistan Dragon


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Karawanserei schlafen, bevor sie den Rückweg antrat.

      4

      Beim steilen Landeanflug hinter dem eisbedeckten Hindukusch auf Kabul International Airport nahmen die Passagiere neugierig und skeptisch die weite Stadtlandschaft der afghanischen Kapitale in Augenschein. Nach den gefältelten Bergketten im Karakulmuster, eine steinerne Springflut eng rollender Felswellen, sahen sie nun in den Schutt geschrammte Strukturen, alle Ton in Ton mit Siedlungsumrissen in erstarrten, grundlegenden, naturnahen Formen: sandbraune Stadt in einer sandbraunen Ebene zwischen sandbraunen Bergen in einem sandbraunen Dunst aus Staub. Die Karrees der Gebäudeblöcke schienen unversehrt, wie über Meilen ausgerollter, grobtexturierter Filzteppichboden. Umfassungsmauern standen neben Bombenkratern, Einzelwände neben Schürfblessuren. Ein paar leuchtende Farbtupfer stachen hervor, die Karos der Grünflächen und Parks. Beim Näherkommen wirkte die Haut der Erde indes windelweich geprügelt, schwerverletzt und großflächig verschorft.

      Den umkämpften Airport Kabuls flankierten Flugzeugwracks, demolierte Helikopter, baufällige Hangars, Autofriedhöfe und verlassene militärische Stellungen.

      In den ersten Morgenstunden des neuen Tages landete die vierstrahlige Boeing problemlos. Sie kam nach stark klimaschädlichem, Zirruswolken bildendem Langstreckenflug über Hawaii und Bangkok aus den Vereinigten Staaten. Die schwere Maschine rollte langsam aus und blieb unweit der Abfertigungsgebäude stehen. Noch einmal heulten die Düsentriebwerke auf, bevor sie abgestellt wurden. Die kleinen Karren mit den Gangways fuhren heran, die Türen wurden geöffnet, ein Strom von Reisenden quoll heraus: Journalisten und Geschäftsleute, Soldaten und ausländische Zivilisten mit mürrischen Gesichtern. Begrüßt von Transparenten mit den Konterfeis von Präsident Karzai, Kriegsheld Massoud und Siemensvorstand Kleinfeld: Welcome to Kabul. Der Flug war ein wenig unruhig gewesen. Man schätzte dies nicht, in der Nacht wollte man in seinem Sessel zurückgelehnt schlafen. Doch nun schien alles vergessen zu sein.

      Kabuls Flughafen war ein reiner Repräsentationsbau ohne intaktes Innenleben. Die Passagiere drängten sich durch dunkle Gänge, vorbei an abgeschälten Wänden mit offenliegenden Leitungs- und Rohrsystemen. Es gab provisorische Schalter und ein asthmatisches Förderband, das die Gepäckstücke durch ein Mauerloch in die völlig überfüllte Wartehalle spie. Schmale Neonröhren sprühten asymmetrisch-flatteriges, nervtötendes Licht gegen unverputzte Ytong-Blöcke und auf überreizte Passagiere.

      Die Zivilisten fanden sich in Grüppchen zusammen, Ausländer, fast ausnahmslos. Sie würden in schlecht klimatisierten Zimmern unmoderner Hotels wohnen, und nach zwei, drei Wochen würden manche zurückfliegen, mit Kamerachips voller Schnappschüsse, mit ein oder zwei nachgemachten „echten“ Seidenteppichen oder Antiquitäten, mit einem Lapislazuli-Kästchen, einem Talisman gegen den bösen Blick, einige auch mit einer Erkrankung, die durch Penicillin zu heilen war. Das Land verdiente an den Besuchern. An den Soldaten verdiente es auf andere Weise. Meist waren es Angehörige der Einheiten, die auf den Stützpunkten stationiert waren, Piloten, Ranger, GIs. Der Krieg war scheinbar vorbei, doch die Regierung der Vereinigten Staaten betrachtete Afghanistan weiterhin als einen großen, unversenkbaren Flugzeugträger in Mittelasien, und besonders die US-Amerikaner blieben hier, solange das irgend möglich war. Sie zahlten einen hohen Preis dafür. Doch das Geschäft war auf ihrer Seite. Afghanistan nahm eine erhebliche Menge jener Konsumgüter auf, die US-Amerika in Massen erzeugte und die anderswo nur noch schwer abzusetzen waren. Wenn man dafür Stützpunkte erkaufen konnte, so war das ein guter Handel. Aber selbst das fiel schon nicht mehr so sehr ins Gewicht. Ein großer Teil der einheimischen Industrie befand sich ohnehin in den Händen US-amerikanischer Monopole, ganz gleich ob sie Waschpulver herstellten, Kattun oder Coca-Cola. Diese Stadt wirkte im Kern wie ein Anhängsel der Vereinigten Staaten. Die Herrschaften, die sie regierten, garantierten das. Was das Land betraf, so sah das ganz anders aus.

      Der kleingewachsene, untersetzte Mann, der als einer der letzten aus der Boeing gestiegen war und sich ein wenig verloren vorkam, während er zur Abfertigung ging, fiel nicht auf. Er war in einen hellen Anzug gekleidet und trug einen leichten Borsalino-Reisehut, der seine Sean-Connery-Halbglatze verhüllte, nicht aber seinen Haarkranz aus silbergrauen Locken. Um den Hals trug er an einem dünnen schwarzen Lederband eine randlose Brille mit leicht getönten Gläsern, so dass sie seine Augen nicht verbargen, aber doch die Farbe der Augäpfel verschleierten. Weniger um seine Augen zu schützen, als vielmehr die seiner Mitmenschen. Seine Pupillen waren nämlich von zweierlei Farbe. Wenn er in den Spiegel blickte, kam er sich vor wie ein Husky; das rechte Auge war rehbraun sanft, das linke azurblau weichherzig. Er hatte indes schon des Öfteren erfahren, dass sich manch ein Zeitgenosse irritiert fühlte. In diesem Land der Dschinns und des Aberglaubens würde mancher sich wohl mehr als irritiert fühlen. Der Mann kratzte sich den graumeliert spießenden Dreitagebart, er nahm begierig die Szenerie auf, die sich ihm darbot. Er reiste offenbar einzeln, und er hatte wohl auch keine Reisebekanntschaft gemacht, denn er schlenderte für sich allein zur Abfertigung, wo er nach einigem Warten seinen Pass vorlegte.

      Der Beamte las laut den Namen: „Professor Beat Hodler?“

      Der kleine Mann nickte.

      „Arzt?“

      Wieder nickte er. Der Beamte blätterte in dem Pass, fand das Visum und stempelte es ab. Mit einem freundlichen Lächeln übergab er dem Mann das Dokument zurück und bedeutete ihm, sich zur Zollabfertigung zu bemühen, einem niedrigen Tisch, der viele Meter lang war und auf den die Fluggäste ihre Gepäckstücke wuchteten. Hodler hatte keine Eile. Er stellte sich neben seinen Rollkoffern auf und wartete. Er blickte einzelnen kleinen Grüppchen vermummter Frauen nach, die indes polychrome Armreifen und goldene Ringe trugen und phantasievoll gemusterte mit Borten versehene Burkas mit eingewebten Edelsteinen. Ob es der Versuch war, Individualität herzustellen, Harnisch zu beseelen, oder lediglich Zeichen für das Vordringen der globalen Märkte zu den Körpern auch der afghanischen Frauen, sogar den verschleierten? Ein US-Amerikaner mit einem Gerätekoffer schlenderte vorüber, auf seiner Brust der T-Shirt-Aufdruck TEARS DOWN GROUP. Ein Beamter erschien und blickte Hodler fragend an, worauf der Schweizer seinen Gepäckschein reichte und auf die beiden nicht gerade großen Koffer deutete. Der Beamte erbat nochmals den Pass, erkundigte sich wiederum, ob Hodler Arzt sei, und als ihm das bestätigt wurde, legte er eine Hand auf einen der Koffer und fragte: „Berufsgepäck?“

      Hodler verneinte.

      Der Beamte wollte wissen: „Führen Sie Medikamente mit?“

      „Kopfschmerztabletten.“

      „Alkohol, Drogen?“

      „Nein.“

      Der Beamte setzte ein Lächeln auf, während er Pass und Gepäckschein aushändigte. Mit einem Stückchen Kreide machte er kleine Kreuze auf die Koffer, bevor er Hodler höflich einen angenehmen Aufenthalt wünschte. Hodler bedankte sich ebenso freundlich. Seine Koffer waren nicht schwer. Er rollte sie mühelos aus der Halle. Auf dem Vorplatz mit seinem breiten Sicherheitsabstand zu allen, die hier auf Heimkehrer warteten, blickte er sich suchend um. Unter den Werbebannern für Handys und neue Suppen sah er ausgemergelte Gestalten, die Gesichter von Entbehrung gezeichnet, die jedoch nach innen zu glühen schienen, mit hungrigen, stechenden Augen. Menschen mit solchen Augäpfeln vermochten ihr Leben in die Haut anderer einzubrennen. Die Männer schauten mit geschlossenen Mündern. Sie hatten allen Grund zu Misstrauen gegenüber den Ankömmlingen, die alle etwas wollten: ihren Profit, ihren Einfluss militärischer und politischer Art, ihr Land, ihre Frauen, ihre Würde. War je etwas Gutes gekommen von draußen, seit sie auf diese Welt gekommen waren?

      Hodler entdeckte die Reihe Taxis, japanische und nordamerikanische Autos. Einer der Fahrer lief herbei und verstaute die Koffer, während Hodler einstieg.

      „Man hat mir das Hotel Oriental empfohlen“, sagte der Professor, als der Fahrer sich hinter das Lenkrad klemmte. „Ist es ein vernünftiges Hotel?“

      Der Fahrer war ein noch junger Afghane, der sehr kurz geschnittenes Haar trug und überhaupt den Eindruck eines Soldaten machte, der gerade ausgemustert worden war und in einem neuen Beruf zu arbeiten begann. Er wiegte den Kopf und antwortete: „Oriental ist ein gutes Hotel, Mister. Nicht eins von den teuersten, aber sauber und modern.“

      „Klimatisiert?“

      „Natürlich!