Norbert F. Schaaf

Afghanistan Dragon


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der Zeit, als die Fremden brauchbare Dinge gebracht hatten, oder aus Cola-Büchsen gefertigte Trinkgefäße, und Salzbehälter, die ursprünglich Konservendosen gewesen waren. In dieser kleinen Hütte war Sanaubar an einem feuchtkalten Wintertag Ende der Neunzehnhundertachtziger Jahre zur Welt gekommen und ihre Mutter kurz nach der Geburt verblutet.

      Verfolgte man die Geschichte Karambars bis zu ihrem Anfang zurück, fand man den Namen dieser Ortschaft schon um jene Zeit erwähnt, da es weit im Norden, in den Tälern jenseits des Oxus, den Mongolenheeren des Dschingis Khan gelang, neue Reiche zu erobern. Das war an die achthundert Jahre her. Von da an waren die Völker aus den von den Mongolen eroberten Gebieten südwestwärts geströmt, und sie zogen auch über die Berge durch das Gebiet um Karambar. Viele von denen, die heute in den großen Städten des Landes wohnten, die Staat und Wirtschaft verwalteten, waren Abkömmlinge dieser Zugewanderten.

      Jene, die immer in den Bergen gewohnt hatten, waren dort geblieben. Die Gründung des Reiches der Paschtunen hatten sie aus der Entfernung verfolgt. Gewiss, sie begrüßten es, dass Afghanistan, das „Land der Tartaren“, erstarkte und dass es sich seiner Nachbarn erwehren konnte. Doch im Grunde veränderte das nicht ihr Leben. Zuweilen gab es Auseinandersetzungen mit anderen Stämmen, die ebenfalls in den Bergen angesiedelt waren, den Shinwari etwa. Doch man einigte sich immer wieder. Es gab Zeiten, da leistete man sich sogar Beistand, wenn die Steuereintreiber aus dem Süden in die Berge kamen und allzuviel badraga, den erpressten Binnenzoll, forderten oder auch bei den Einmärschen fremder Truppen, gleich ob aus Großbritannien, Russland, den USA oder der EU.

      Für die Bewohner der großen Städte im Süden und Westen war die Hochgebirgsbevölkerung immer eine unbekannte Größe gewesen. Man war daran gewöhnt, dass aus ihrem Gebiet das Opium kam, jene aus dem Mohn gewonnene Droge, die in der Geschichte Asiens schon oft eine Rolle gespielt hatte. Die Bergbewohner selbst genossen sie bislang nur sparsam, sie kannten ihre Wirkung. Meist nahmen sie sie gegen Schmerzen, oder sie kauten die zähe, braune Masse gegen den Hunger. Die modernen Dealer, die Drogenbarone, hatten sich gemäß der ihnen eigenen Geschäftstüchtigkeit nach und nach in den Tälern der Berge angesiedelt und traten als Zwischenhändler auf. Hin und wieder gab es Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den lokalen Machthabern, den Großgrundbesitzern und den Kriegsherren oder War Lords, die selbst das Geschäft machen wollten. Der Mohn blühte dessen ungeachtet weiterhin in den Bergregionen, und der kalte Wind wog die Blumen wie sanfte Ozeane, während in den Kapseln der weiße Saft heranreifte, bis die farbigen Blütenblätter schließlich abfielen und die Dorfleute mit ihren kleinen Messern kamen. Es gab in Afghanistan Millionäre, die ihren Reichtum einzig dem Opium verdankten. Von den Bergbewohnern indes wurde niemand reich. Selbst ein bescheidener Wohlstand blieb aus. Man fristete sein Leben, das war alles.

      Nun hatten die Fremden, voran die US-Amerikaner, die Kabuls Marionettenregierung ins Land gerufen hatten, den Drogengeschäften freien Lauf gelassen. Uniformierte, die mit Flugzeugen kamen, verdrängten die afghanischen Aufkäufer auf die Balkan- und die Russlandroute, teils mit Gewalt, teils mit besseren Preisen. Sie wollten nicht nur ein bisschen von der braunen Substanz kaufen, die durch komplizierte Destillationsprozesse in Heroin verwandelt werden konnte – sie wollten möglichst ganze Ernten. Und sie wandteen seltsame Mittel an, um ans Ziel zu gelangen. Sie bestachen, sie täuschten, sie überredeten, sie zwangen. Afghanistans Regierung, die auf ihrem Territorium ein halbes Dutzend Luftstützpunkte der Vereinigten Staaten hatte errichten lassen, duldete sie stillschweigend. In vielen Fällen machte sie sich zum Helfer der US-Amerikaner. Der Unmut darüber wuchs. Doch Amerikas Abgesandte verfügten in diesem Lande über so viel Macht, dass sie den Unmut nicht zu fürchten brauchten, jedenfalls nicht im Augenblick.

      3

      Jalaluddin, der alte Mann mit dem wettergegerbten Gesicht und dem eisgrauen, borstigen Haar, hockte auf dem Eisenholzstamm vor seiner Behausung in Karambar. Er war müde von dem langen Weg durch die Berge. Viele Tage war er, von zwei Männern begleitet, mit den Tragtieren hierher unterwegs gewesen. Er hatte in Faïzabad so lange gewartet, bis er eingesehen hatte, dass sich nichts mehr hatte ändern lassen. Nun grübelte er, wie das zu erklären sei, was sich da abgespielt hatte. Über dem Dorfplatz lag bereits Schatten. Der Sonnenball war hinter den Bergkuppen untergetaucht. Im Dorf herrschte Stille. Nur ein paar Hühner gackerten schläfrig, und aus dem Sträucherstreifen, der das Dorf säumte, kamen vereinzelte Vogelrufe. Kein Rauch von Kochfeuern lag in der Luft und nicht der Duft des Tabaks, den der Nachbar rauchte. Nur ein paar alte oder kranke Leute waren zuhause geblieben, die anderen waren auf den Feldern. Das Geplärr der Kinder fehlte.

      Sanaubar winkte Jalaluddin, der in Gedanken versunken auf dem Baumstamm saß, schon von weitem zu. Sie war außer Atem, denn fast den ganzen Weg vom Feld ins Dorf war sie gelaufen, nun ließ sie sich mit hart klopfendem Herzen neben dem Alten auf den Stamm sinken.

      „Jalaluddin, was ist denn?“ fragte sie besorgt.

      Er sah sie an und blickte dann über sie hinweg auf die Berge. Es dauerte lange, bis er das erste Wort sprach.

      „Sie haben Mir Khaibar verhaftet.“

      „Verhaftet? Wer? Und warum?“

      Immer noch über den Sinn der Vorgänge sinnierend, berichtete er: „Mir Khaibar hat mit dem Händler gesprochen und ist dann zurückgekommen. Damit wir mit den Packtieren nicht durch die Stadt mussten, hat uns der Händler eins von den kleinen japanischen Dreiradautos geschickt. Wir haben alles aufgeladen, und Mir Khaibar war mitgefahren, um den Handel abzuwickeln. Ich habe mir ein wenig Faïzabad angesehen. Ich war lange nicht in der Stadt. Am späten Abend war Mir Khaibar immer noch nicht zurück. Da bin ich zu dem Händler in Chakir gegangen. Der hat es mir erzählt. Die Polizei ist gekommen, als Mir Khaibar dabei war, die Säcke abzuladen. Polizisten aus Faïzabad. Sie haben ihn mitgenommen und die Fracht.“

      Das Mädchen starrte ihn an. Jalaluddin nickte müde. „Und sie haben nichts weiter gesagt, qariadar?“

      „Gesagt haben sie, dass sie ihn wegen unerlaubtem Verkauf von Rohopium mitnehmen.“

      „Dem Händler haben sie nichts getan?“

      „Nein. Er hat noch erwähnt, dass es das erste Mal war seit langer Zeit, dass so etwas geschah. Überall wird gelegentlich Opium angeboten, meistens kleinere Mengen, aber die Polizei hat sich sonst nie darum gekümmert.“

      „Weißt du, wohin sie ihn gebracht haben?“

      „Ins Stadtgefängnis. Ich war dort, aber man ließ mich nicht zu ihm. Ich bin auch zu einem Anwalt gegangen. Der Händler hat es mir geraten. Der Anwalt hat mit den Beamten im Gefängnis gesprochen. Und die haben ihm gesagt, er soll sich die Mühe sparen. Mir Khaibar wurde zur weiteren Untersuchung des Falles nach Kabul gebracht. Wenn er einen Beistand braucht, wird er ihn dort bekommen.“

      Jalaluddin hob die Hände und drehte die Handflächen nach oben, raue, rissige Handflächen. Eindringlich sah er Sanaubar an und schloss bedrückt: „So bin ich heimgekommen. Kein Geld, nicht einen einzigen Afghani. Das Opium ist verloren, und niemand weiß, was aus Mir Khaibar wird.“

      Eine Weile saßen sie nebeneinander und überlegten. Was da geschehen war, konnten sie sich nicht erklären. Gewiss, es gab das Verbot des Opiumhandels. Doch warum musste Mir Khaibar der erste sein, auf den es angewandt wurde? Und warum sollte er nach Kabul gebracht werden?

      Sanaubar entschied schließlich: „Wir müssen etwas unternehmen. Ich werde meiner Khala schreiben. Vielleicht wird sie herausfinden, wie wir Mir Khaibar helfen können.“

      Jalaluddin äußerte zögernd: „Du willst dich an Shalla wenden? Aber – vielleicht ist es ihr nicht recht?“

      „Sie wird uns helfen.“

      Shalla war die jüngste Schwester ihres früh verstorbenen Vaters. Ihr Leben war ein wenig seltsam verlaufen, Sanaubar wusste nicht viel darüber. Sie hatte ihre Tante ein einziges Mal gesehen, vor einigen Jahren, als Shalla in Begleitung ihres Mannes für einige Tage in das Dorf gekommen war. Und es war wohl der Mann, der Jalaluddin zweifeln ließ. Shalla war mit einem Kanadier verheiratet, der sich vor annähernd dreißig Jahren in Afghanistan niedergelassen hatte. Es hieß, sie habe diesem Kanadier, als sie selbst noch ein Kind gewesen war, das Leben gerettet, damals, während des