Maxi Hill

GIFT geschädigt


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      Aaron rieb seine Hände gegeneinander und stand da, wie die kleinen Jungen vor ihrer Großmutter stehen, wenn sie sich trotzig verweigern.

      »Ole, es gibt Fragen, die man sich im Leben besser nie stellt, weil man die Antwort fürchtet.«

      Schrimp legte seine Hand auf Aarons nervös zuckenden, weil er ahnte, was in seinem Kollegen vorging. Er ahnte nur nicht, warum das Vergessen so früh bei Aaron Barthels einsetzte. Untypisch für sein Alter und untypisch für einen Beruf, der das Hirn auf Höchstleistung trainiert. Sein Problem konnte von der zeitweiligen Benommenheit rühren, von der Aaron manchmal erzählte. Benommenheit kommt von Durchblutungsschwäche und die wiederum setzt die geistige Leistung auf Sparflamme. Andererseits litt Aaron unter der Häme des Kollegiums. Klar konnte die Luft in der Schule besser sein. Klar ließ bei dem permanenten Geldmangel die Sauberkeit der Räume auch mal zu wünschen übrig. Im Allgemeinen ging es dieser Schule gut. Sie hatten noch stundenweise Putzkräfte. Bei Aaron aber lag das Problem nicht an der Sauberkeit. Es lag tiefer. Oder höher? Erst unlängst hatte Schrimp beobachtet, wie Aaron an den Leuchtstoffröhren herumexperimentierte. Die wurden nicht geputzt. Die sahen gelb und verkeimt aus. Aber gab es nicht genug Dreck auf den Böden und den Fensterborden? Von den Bänken ganz zu schweigen; auf denen tummelten sich jede Stunde verschwitzte Hände.

      Aaron glaubte, von den Leuchtstoffröhren kämen Schadstoffe in die Raumluft. Konnte sein. Konnte auch nicht sein.

      Aaron Barthels galt im Kollegium als zart besaitete Mimose. Das war seiner pedantischen Art geschuldet, mit der er die Fächer Deutsch und Musik unterrichtete. Schrimp hatte nichts dagegen gesagt und das stieß ihm jetzt bitter auf. Ein wenig forsch versuchte er, der leidlichen Diskussion um Aarons Befindlichkeit zu entgehen und sein feiges Schweigen zu vergessen.

      »Du musst sehen, wie du da längs kommst, aber erwarte nicht, dass ich fromme Sprüche aus dem kleinen Katechismus ablasse. Ich kann nun mal nicht über meinen Schatten springen.«

      Aaron hatte verstanden. Er senkte den Kopf und drehte dabei seinen Körper auf den Hacken um. Nicht einmal beim Griff zur Klinke hob er ihn wieder. Es schien, als läge am Boden sein Problem. Als er ging, näselte er ein paar Worte ins Nichts: »Keiner kann über seinen Schatten springen. Aber ich kann auf Dauer mein Gewissen nicht unter den Teppich kehren.«

      Die Tür klickte geräuschlos ins Schloss. Aaron war so lautlos wie er gekommen war wieder verschwunden.

      Die Menschen sind verschieden, dachte Schrimp. Manche jammern den ganzen Tag, andere schämen sich für ihr Leid. Es war nicht so, dass er Aaron nicht mochte. Er mochte ihn sogar mehr als manch anderen Kollegen. Das lag an der Musik. Er spürte die Wirkung von Musik auf seine Schüler. Wer musizierte, konnte sich besser auf andere einstellen, war sozialer, weniger aggressiv. Musik schien auch ein guter Lernmotor zu sein. Schüler, die ein Instrument spielten, konzentrierten sich im Unterricht besser. Und Aaron hatte einen großen Anteil an der Musikalität der Schüler dieser Schule, die eigentlich eine naturwissenschaftliche Prägung hatte.

      Die erste Stunde war wie jedes Jahr Klassenleiterstunde mit allerlei Informationen und Organisatorischem. Nichts für Schrimp, der das Prickeln brauchte, das Köpferauchen der Klugscheißerchen, die sich im verzwickten System der Evolution verhedderten und die sich wohl deshalb nichts so sehnlichst wünschten wie den Glauben an die Schöpfung, der man nicht auf den Grund zu gehen hatte.

      In der ersten großen Pause war Schrimp nach frischer Luft zumute. Er ließ die Fenster breit öffnen und trieb die Klasse vor sich her auf den Schulhof, wo ausgerechnet Aaron Hofaufsicht schob. Am Zaun gleich neben der Turnhalle stieg dichter Qualm über den Köpfen der Schüler auf und es schien in der Tat, als ob einige Schüler das Teufelszeug nach anderthalb Stunde Abstinenz bitter nötig hätten. Die Lehrer waren keine Vorbilder. Sie hatten ein Raucherzimmer, aber zuweilen sah man sie mit einem Glimmstängel direkt auf dem Treppenabsatz am Hofeingang stehen.

      Aaron rauchte seit einiger Zeit nicht mehr und das war das sicherste Zeichen, dass es ihm nicht gut ging. Schrimp stellte sich neben ihn, biss in einen Apfel und schwieg derweil. Bei dem Pausenlärm war es gut zu schweigen, aber Aaron schwieg, als beachte er Schrimp nicht einmal.

      »Tut mir leid, wegen vorhin«, sagte Schrimp irgendwann mit vollem Mund. Aaron rieb wieder seine Hände gegeneinander, wurschtelte in den Taschen seines Jacketts herum und kramte eine kleine gelbe Schachtel heraus, nahm mit zittrigem Griff ein Bonbon und schob es zwischen die blassen Lippen. Erst dann ließ er sich auf Schrimp ein.

      »Das wird nicht das letzte Leid bleiben. Glaub mir.«

      Irgendetwas hatte Aaron verändert. Das spürte Schrimp.

      »Weißt du, wie dein Gesicht aussieht?«

      Aaron atmete tief, so wie Raucher tief atmen, wenn sie besonders viel von dem tödlichen Gift benötigten, um ihre Nervosität zu bekämpfen. Aaron aber sog nur den von Eukalyptus getränkten beißenden Speicheldunst bis in die krächzenden Bronchien. Seine Stimme blieb gelangweilt:

      »Ich weiß. Fräulein Brown hat es mir schon gesagt: Like raining cats and dogs. Oder so ähnlich.«

      Schrimp schickte einen säuerlichen Blick herüber. Auch wenn Aaron mit Englisch rein gar nichts am Hut hatte, verstand er ihn, aber so wie Aaron die Sache interpretierte, hatte er es nicht gemeint. Er hätte das blasse Gesicht als Braunbier und Spucke bezeichnet, nicht als Regen, der für ihn ein Synonym für Übellaunigkeit war. Aaron war nicht übellaunig. Eigentlich nie. Und das war das Beachtliche an diesem Mann. Wer mit einer solchen Frau gestraft ist, dürfte ruhig übellauniger sein.

      Nein, mit Hanna wollte niemand gerne zusammen sein. Vermutlich mied man auch Aaron wegen seiner griesgrämigen Frau.

      Auch Schrimp hatte mit Aaron nicht wirklich etwas hergemacht. Weder Musik noch Deutsch waren je seine Interessen gewesen, nicht einmal, als seine alten Lehrer an der Waterkant ihn noch den lütten Ole nannten. Jede Unterhaltung mit Aaron landete früher oder später bei den Lehrfächern, direkt oder indirekt. Das zumindest hatte sich inzwischen geändert.

      Im Winter vor zwei Jahren fanden sie sich plötzlich - und zur Überraschung beider Seiten – im gleichen Hotel auf Rügen wieder. Schrimp erinnerte sich gut. Für den ersten Eindruck war Hanna verträglich gewesen und dennoch spürte man, wie sie Aaron zu dominieren versuchte. Erst war das Zimmer nicht warm genug und Aaron musste eine Auseinandersetzung mit der Reiseleitung führen. Nach ihrem Triumph, als sie daraufhin für den gleichen Preis eine Suite bekamen, hatte Aaron erst recht das Nachsehen. Er musste für sie um die gewohnte Sorte Müsli beim Frühstück kämpfen und um einen besseren Platz im Bus, wenn sie Ausflüge machten.

      Das alles ging Schrimp und Inka nichts an, aber abends, wenn sie gemeinsam zum Essen in eines der Restaurants im Ort liefen, ging das Gezeter auch ihnen auf die Nerven. Der Weg – obwohl es ein erholsamer Gang auf der verschneiten Uferpromenade war - dauerte Hanna viel zu lang. Schrimp war da fein raus, aber Inka nicht. Sie musste die Nörglerin ertragen. Er hatte es so eingerichtet, dass er mit Aaron zumeist ein paar Schritte voraus ging. Sie hatten sich einiges zu erzählen, was ihnen im hektischen Schulbetrieb nur selten gelang.

      Einmal war bei Aaron der Geduldsfaden gerissen. Er hatte nicht gleich auf eine Bemerkung von Hanna reagiert und sie beschimpfte ihn prompt wegen übler Stimmung, die ihr den Urlaub verderbe.

      »Üble Stimmung?«, maulte Aaron in einer Art, die man bei ihm nie vermutet hätte. »Üble Stimmung ist genau das, was du permanent verbreitest.«

      Wahrscheinlich schämte er sich vor ihm und Inka für Hannas Art. Bei Fedders ging es nie polternd zu, eher einmal zu sanft für ihr Alter. Und sie ignorierten sich nicht. Im Gegenteil, bei ihnen hatte man das Gefühl, sie konnten sich nicht nah genug sein. Das war dann später auch der Grund für Aarons vorsichtiges Lästern. Immerzu sprach er listig vom Liebesleben der Nacktschnecken, bis Schrimp sich darauf einließ.

      »Besser Sex mit einer Nacktschnecke, als eine Gottesanbeterin zu begatten.«

      »Was ist an der Gottesanbeterin so schrecklich?«

      »Das Liebesleben. Es ist kurz und schmerzlich. Er wird dabei gefressen.«

      »Von