Maxi Hill

GIFT geschädigt


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Lachen wollte kein Ende nehmen und das war für Hanna Grund genug, wütend das Restaurant zu verlassen und den weiten Weg auf der Strandpromenade von Binz in der Dunkelheit und allein durch den frisch gefallenen Schnee zurück zum Hotel zu stapfen. Seitdem gab es beinahe keinen Tag, wo Aaron und Ole - der von Aaron jetzt auch Schrimp genannt wurde - nicht über die schönste Nebensache der Welt philosophierten. Natürlich stets die anderen Kollegen betreffend, vornehmlich die weiblichen.

      Seit einem halben Jahr aber redete Aaron über Impotenz, über das Älterwerden und über Krankheiten, für die man in jungen Jahren allenfalls ein müdes Bedauern übrig hatte.

      Ambrosia

      Sie saßen lustlos in den Bänken, obwohl es die erste Stunde war. Einige hatten ihre Köpfe über ausgestreckten Armen auf den Tisch gelegt. Nicht einmal Schrimps rasanter Schritt und das Schlagen der Tür störte ihr morgendliches Phlegma. Er hatte ganz selten einen Grund über Disziplin zu klagen, im Gegensatz zu anderen Kollegen. Er hatte so seine Methoden.

      »Wir drehen hier keine Doku über den Gammelfleisch-Skandal.«

      Seine Schüler wussten, was er damit meinte und erst recht, wenn er ihnen eine Drohung mal nicht auf Plattdeutsch zumutete: Nur wer dieser Schule würdig sei, dürfe in diese Schule gehen. Schrimp klatschte hart in seine kräftigen Hände: »Auf geht's. Zeit, die Welt zu retten.«

      Kaum einen Sekunde verging, da war von Phlegma keine Spur mehr, da flogen die Blöcke unter die Tische, ratzten zwanzig Stühle über das staubige Linoleum, um unter der Bank eingeklemmt zu werden. Bei diesem Wetter gingen die Schüler – Jungen wie Mädchen - gerne mit Schrimp in die Natur. Erstaunlich war, dass er an diesem Tag mit ihnen ging. Gewöhnlich reservierte er für Exkursionen die Doppelstunden. Heute hatten sie nur eine Stunde Biologie und heute war noch etwas anders.

      »Was hat Schrimp gesagt?«

      »Was er immer sagt. Zeit, die Welt zu entdecken.«

      »Nein«, stritt Sebastian Hamm, »er hat was von retten gesagt.« Sofort flog ihm das Lästern der anderen entgegen.

      »Hast wohl deinen Brummkreisel im Schädel mal wieder nicht abgestellt. Warum soll er denn was von retten gesagt haben?«

      Auf der Hintertreppe, die über den Schulhof führte, stoppten Schrimps Schritte für einen Moment. Er schaute hinüber zum Damm, der entlang der Spree als Radfernweg ausgebaut worden war. Von hier aus in östlicher Richtung hatte die Schule ihr Biotop. Heute bog er aber nach Westen ein auf den schmalen, nur von Anliegern benutzten Trampelpfad zwischen den von Efeu umrankten Erlen, die Inka so mochte. Wenn die Morgensonne helle Streifen zwischen die dicken Stämme zauberte und die Spree im Dunst des Tages erwachte, geriet Inka regelmäßig ins Schwärmen sooft sie den Weg gemeinsam liefen. Auch er hat dafür ein Auge, aber an diesem Morgen bewegte ihn etwas ganz anderes.

      Am Ende des Pfades, da wo der Rest einer kleinen Mauer die Ruine der alten Wollefabrik begrenzte, ließ er die Schüler warten. Schrimp zog einen Wust aus seiner Tasche; ineinandergelegte Atemmasken aus festem Textil und einige Gummihandschuhe.

      Männliches Kichern und weibliches Kreischen durchbrach die Stille der Natur. Keines der Mädchen wollte ihr schönes Gesicht mit einer Maske verunstalten, gerade jetzt, wo sie einmal nicht frontal mit steifen Mienen vor ihm sitzen mussten. Jetzt waren sie auf Augenhöhe. Jetzt konnten sie ihm schöne Augen machen, ihre Körper strecken und sogar kleine Reize einsetzen. Jetzt heimsten sie jeden Blick von ihm ein, der sie traf und den sie deuteten, wie es einer jeden beliebte. Schrimp blieb hart. Er diskutierte nie lange herum. Jeder hatte einen Atemschutz anzulegen und Handschuhe überzustreifen. Nur diejenigen mit einer Latexallergie durften sich zurückhalten.

      Noch war er nicht sicher, ob sie es herausbekommen würden, was er zuerst selbst kaum glauben wollte. Doch sein Verdacht bestand zu Recht. In diesem Sommer gab es reichlich Niederschlag. Zusammen mit dem salzigen Boden und der Wärme hatten die Pflanzen während der Ferienwochen einen rasanten Wachstumsschub erfahren. Jetzt würde kein Mensch mehr achtlos an ihnen vorbeigehen, aber gerade jetzt ging von der Pflanze eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Gesundheit aus.

      An der Mauer stand ein beachtlicher Busch einer krautigen Pflanze, die von den Schülern sofort als Korbblütler erkannt wurde. Während Schrimp ihn aus allen Positionen fotografierte, stritten sich die pfiffigsten Schüler bereits über Gattung und Unterart.

      »Beifuß«, mutmaßte einer.

      »Wermut«, sagte ein anderer. Lehrer Fedder ließ beides nicht gelten. Er verwies auf die behaarten Stängel, die der Wermut nicht aufweise, sowie auf die dunklere und überdies behaarte Unterseite der Blätter. Also auch kein Beifuß.

      Da war es wieder, das Köpfe-Rauchen der Klugscheißerchen, das er genoss wie ein alter Krauter seinen Priem. Trotzdem. Er musste schon einen sehr guten Tag haben, wenn er den Quenglern bestätigte, dass es sich um eine Art Traubenkraut handelte. Mehr verriet er nicht. Die ganze Wahrheit würde der Leistungskurs zutage befördern und dem musste er noch eine möglichst harte Nuss übrig lassen.

      Für heute ließ er am Rest der Pflanze die Unverzagten verzagen, die Zweifler verzweifeln und die Interessenlosen sich langsam dafür interessieren. Alles wurde protokolliert, aber niemand kannte diese Pflanze: Gedrungen buschig. Dreifach gefiederte Blätter. Verzweigte Stängel, zuweilen rötlich. Fingerförmige, aufrecht stehende ährige Traubenblüte. Und in den Blüten reiften winzige Früchte, die Fedder in kleine Plastiktüten füllen ließ, ebenso wie noch vorhandenen Blütenstaub, Blätter und Stängelteile. Dann war die Stunde zu Ende.

      Einer vom Leistungskurs, ein ziemlich redseliger, dicklicher Bursche mit Stoppelhaaren und Nickelbrille, der bei Projektarbeiten nie ein Ende fand und den Schrimp regelmäßig aus der Schule treiben musste, um keinen Zoff mit seinen Eltern zu bekommen, dieser Junge pirschte sich an Schrimp heran. Ob er vielleicht die Teile unter dem Mikroskop betrachten dürfe, er würde schon herausbekommen, worum es sich handelte. Eine Ahnung hätte er schon.

      »Kümmt Tiet, kümmt Rat, Tobias«, sagte Schrimp in seinem unverwechselbaren Platt und wenn er up platt snackte, dann war er guter Dinge, das wusste jeder in der Schule. Schrimp schob den Jackenärmel über die Uhr zurück und drängte die Klasse zum Rückmarsch. Nur die Warnung – niemand solle sich einer solchen Pflanze ungeschützt nähern – die gab er allen mit auf den Weg. Dann wies er sie an, Hände und Gesicht zu waschen, bevor sie zur Essenpause gingen.

      »Das ist ja wie bei den ersten Menschen.« Die Stimmen maulten weit weg im Zug der Klasse, die grüppchenweise zurücktrottete.

      »Wieso? Hatten die ersten Menschen auch schon Lehrer?«

      »Nee. Die lebten ja im Paradies.«

      Ganz geheuer war Schrimp bei einem gewissen Gedanken nicht. Die Pflanze musste noch stehen bleiben, bis er Tags darauf der Parallelklasse die gleiche Nuss zu knacken vorgesetzt hatte. Aber danach müsste er sofort zum Amt, eine Meldung machen. Heute muss alles gemeldet werden, dachte er und erinnerte sich noch gut an die vermutete Salmonellengeschichte, die im letzten Sommer beinahe ein Chaos ausgelöst hatte. Für jeden unnormalen Stuhlgang, für jede Übelkeit und jeden verqueren Pups wurde ein extra Protokoll angefertigt. Es waren keine Salmonellen, aber der Aufwand war auch kein Problem gewesen. Sicher war sicher. Hier aber ging es auch um die Menschen da draußen, die gutgläubig die Blüten berührten oder gar pflückten.

      Schrimp hatte vor, die nächste Pause im Lehrerzimmer zu verbringen, obwohl er dort selten zu finden war. Nicht weil er menschenscheu war. In seinem Kabinett im ersten Stock gab es immerzu etwas vorzubereiten. Diesmal kam er nicht umhin. Am Stundenplan hatte sich etwas geändert. Das war normal für den Schuljahresbeginn und er musste diese Änderung in seinem Plan korrigieren. Neuerdings konnte jeder sein Wehwehchen anbringen, seine Springstunden monieren. Nur auf Fächer mit notwendigen Exkursionen wie eine solche, die er soeben hinter sich gebracht hatte, wurde keine Rücksicht genommen. Den Stundenplan baute Krüger und er baute ihn im Sinne seiner Busenfreunde. Dazu gehörten weder Ole Fedder noch Aaron Barthels und ebenso wenig Fräulein Brown. Das war kein Geheimnis.

      Die Atmosphäre im Lehrerzimmer