abzuholen. Am Wochenende stand eine Tagestour mit Freunden um den Spremberger Stausee im Programm, wo immer ein ausgiebiges Mittagessen abfiel, das den Frauen die Zeit am Küchenherd ersparte. Inka war nicht böse, wenn sie mal nicht kochen musste. Sie kochte gut, aber nicht selten hörte Schrimp ihr Klagen von der vielen Zeit, die die Zubereitung eines guten Mahles benötige, um ruckzuck verschlungen zu werden. Gewöhnlich vermutete er hinter Inkas Klage einen Seitenhieb auf seine Art zu essen. Er aß wesentlich schneller als sie und wartete nicht selten ungeduldig auf den Abgesang, um sich den wahrhaft interessanten Dingen zu widmen. Irgendwie hatte Inka auf andere Weise Recht. Hausarbeit war zeitraubend und uneffektiv. Seit die Kinder aus dem Haus waren, hatte sie eine passable Methode entwickelt, um stets Hausgemachtes auf den Tisch zu bringen und trotzdem nicht täglich am Herd stehen zu müssen.
Er nahm den Weg über die Spree, überquerte die Kollwitz-Brücke und lief geradeaus weiter durch den Puschkin-Park. Hier außerhalb der alten Stadtmauer verliefen im Mittelalter die Graben- und Wallanlagen zum Schutz der Stadt. Jetzt gab es hier einen gut gepflegten Grüngürtel um die Altstadt herum. Durch die Reihe der Sträucher und Bäume blinkte das Gegenlicht der hellen Fassaden jener Häuser, die von den Alteingesessenen keines Wortes gewürdigt wurden, die ihn aber, als er hierher gezogen war, geradezu fasziniert hatten. Diese Stadt war gesegnet mit Jugendstilbauten. Das Konservatorium war nur einer von vielen. Früher befand sich dort das einzige Gymnasium der Stadt, vorbehalten für Arbeiter- und Bauernkinder. Ein staatliches Eigentor für jene Proleten, denen der Staat einst die höhere Bildung zukommen ließ. Danach waren deren Kinder keine Arbeiterkinder mehr, standen nun vor den selbst gebauten Schranken und durften sie nicht passieren, um das Werk ihrer Eltern fortzuführen. Dieser Zustand engstirniger Reglementierung hielt viele Jahrgänge an. Schrimp grinste verschlagen. Das gehörte zur Geschichte, die zuweilen kuriose Geschichten erzählt. Vorbei.
Unter den Platanen und uralten Eichen saßen kleine und größere Gruppen Jugendlicher, deren Fahrräder auf der gut gepflegten Wiese wild durcheinander lagen. Am kleinen Hang zur Stadtmauer hin gab es eine Versammlung junger Mütter mit ihren Babys, die im Schutze ihrer Wagenburg die Kleinen stillten oder windelten. Dazwischen tobten ausgelassen zwei Hündchen und hinterließen krankmachende Exkremente, obwohl unweit eine der neuen Hundeservice-Stationen stand, wo man neuerdings eine Tüte für die Entsorgung ziehen konnte. Das Bild der Mütter hätte Inka gefallen, das Bild kotender Hunde wäre nichts für sie. Inka …
Seine Gedanken waren noch nicht zu Ende gedacht, als eine Frau auftauchte, die ihm bekannt vorkam. Keine Frage, sie kam direkt auf ihn zu. Konsequent und ohne lange Floskeln sagte sie in ziemlicher Erregung:
»Herr Fedder. Ist es wahr, dass Sie die Schüler giftige Pflanzen sezieren lassen?«
Vom dunklen Haar der Frau hing eine Strähne über die Schulter nach vorn bis über das Revers des hellgrünen Kostüms. Ebenso hellgrüne Augen versprühten jenen Unmut, den er bei dieser Art Frauen ganz und gar nicht mochte. Diese »Art« war jene, die von der Männerwelt als attraktiv bezeichnet wurde. Was aber war attraktiv an dieser Frau, wenn aus so köstlichen Lippen so grimmige Worte stürzten?
»Guten Tag«, sagte er. »So viel Zeit muss sein. «
»Hamm. Simone Hamm«, sagte sie und schien einen Augenaufschlag lang verwirrt zu sein. Das gefiel ihm. Er suchte in ihrem Gesicht und glaubte, es sähe sogar ein wenig beschämt aus. Das gab sich, als sie weiterzureden begann. »Ich denke, Sie wissen, wie es Sebastian geht. Und ich denke, Sie wissen, was Sie ihm und den anderen Kindern zumuten.«
Weil Schrimp nur still seinen Kopf schüttelte und sich zurechtzufinden versuchte, wurde sie schrill. »Beten Sie zu Gott, dass Basties Zustand nichts mit der Ambrosia-Pflanze zu tun hat. Aber wenn doch, dann treffen wir uns wieder. Schon bald.«
»Woher wissen Sie …?«
»Sie wissen offenbar nicht, was Sie anrichten können.«
Sebastian Hamm war seit diesem Schuljahr im Leistungskurs registriert, obwohl er nicht gerade das stärkste Pferd im Biostall war. Er galt aber bisher nicht als Schürzenkind, das sich an der Mutterbrust ausheulte. Natürlich war Schrimp der Zustand des Jungen bekannt. Natürlich hatte er in diesem Moment nicht im Mindesten daran gedacht. Es ging auch nicht um Mut oder Experimente, es ging um die Fähigkeit, die Natur zu erkennen und die richtigen Schritte einzuleiten, wenn Widrigkeiten erkannt werden. Und das zumindest hatte der Leistungskurs der Elfer inzwischen mit Bravur bewiesen.
»Soweit ich weiß, leidet Sebastian seit Langem unter unerklärlichen Symptomen. Von der Pflanze können die nicht sein, die gibt es erst seit diesem Sommer. Wir untersuchen das Terrain jährlich. Alles, was je dort wuchs, ist katalogisiert …«
»Dann legen Sie ab jetzt einen neuen Katalog an. Kategorie Eins: Wir treffen uns beim Direktor. Kategorie Zwei: Wenn das nichts nützt, ziehen wir zum Schulamt und weiter zum Amtsgericht.«
Die Nachmittagssonne stand schon schräg und schien ihm ins Gesicht. Er blinzelte und vielleicht sah es aus, als belächelte er ihre Sorgen.
»Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen.«
Nicht, dass allein ihre grünen Augen pure Galle versprühten, der Frau war eine gewisse Atemlosigkeit anzumerken. Noch ehe er sie aufklären konnte, die Entdeckung bereits ordnungsgemäß gemeldet und die Pflanzen auf Bitte des Amtes vorschriftsmäßig entfernt zu haben, eilte sie davon. Zurück blieb nur ein ganz gewisser Duft. Kein unangenehmer. Ein süßer, aber dezenter Duft.
Schrimp hob die Nase und ebenso die Schultern und er dachte, da könne er nichts machen. Hysterische Leute gebe es immer. Leute, die überall Gespenster sahen und alles infrage stellen mussten. Herrje, wie viele davon gefährdeten bereits den Alltagsfrieden. Aaron war auch einer von denen. Verständlich. Aaron hatte ein Problem und er suchte nach Schuldigen. Und diese Frau? Hatte auch sie ein Problem und suchte nach einem Schuldigen, ob der ins Raster passte oder nicht?
Aus dem Park kommend schritt Schrimp lang aus, ging am japanischen Teehaus vorbei, das mal wieder restauriert worden war. In boshafter Regelmäßigkeit fiel es den Vandalen zum Opfer, die nichts Besseres mit sich anzufangen wussten, als Unmengen von Unrat zu produzieren, Bierflaschen zu zerschlagen und Leute anzupöbeln. Dagegen waren seine Schützlinge die reinsten Lämmer, auch wenn ihr Wissensdrang zuweilen nervte, auch wenn ihre rosarote Schläue ihm manchmal die grüne Galle bescherte, auch wenn es Eltern gab, die ihren Krösus in Watte packen möchten, wie diese Frau Hamm. Manchmal fragte auch er sich, wie manch ein Schüler es schaffte, all seine Interessen zu bündeln oder gar im Besonderen auszuleben. Sebastian Hamm war so einer. Ob seine Eltern nur zu hohe Erwartungen hatten? Denkbar, bei dieser Mutter. Andererseits lagen gerade Sebastians Hobbys nicht eben dort, wo Menschen wie diese ehrgeizige Grille, die längst seinen Blicken entschwunden war, ihre Kronjuwelen aufzubewahren pflegen. Musikschule ja. Aber Karate-Klub? Oder diese Jazz-Band, vielleicht auch Hip-Hop oder Pop? Schrimp kannte sich da nicht so genau aus und nachdenken wollte er nicht länger, das Wochenende war zu kostbar für unnützen Ärger.
Aaron B.
Aaron verbrachte jetzt mehr Zeit mit anderer Lektüre, als mit den vertrauten Klassikern. Er las nicht nur, er vermehrte seine ungewöhnlichen und irgendwie auch heimlichen Handnotizen, die schon einen breiten Ordner füllten. Wenn er gerade nicht in einem medizinischen Ratgeber blätterte, wenn er keines der Chemiehandbücher nach etwas durchforstete, was er auch zu verstehen in der Lage war, dann saß er am Klavier und spielte nervige Etüden. Seine Stakkatos brachten Hanna zur Weißglut, seine Finale grandioso hatten zur Folge, dass sie das Haus verließ und erst am Abend zurückkam, wenn Aaron wieder Vernunft angenommen hatte. Er hielt Hanna nicht davon ab. Ihm behagte das Alleinsein und dann wieder verzweifelte er daran - je nach Tagesform. Es gab schon Tage, da stand er gestiefelt und gespornt im Flur in der Absicht, Ole Fedder aufzusuchen. Wenn die Sache je einen Verbündeten notwendig machte, dann musste es Schrimp sein. Und dann gab es Tage, an denen er nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte. Es ging ihm nicht gut, doch sein Hausarzt hatte keinen Grund dafür gefunden und Hanna hatte immer den gleichen Spruch drauf: »Geh endlich zu einem Spezialisten, oder hör auf zu jammern.«
Er jammerte gar nicht. Im Gegenteil. Er spielte aller Welt den