Maxi Hill

Laila - Die Farben der Klänge & Verfluchte Liebe


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als ich sie mir vorgestellt hatte.

      Laila schien viel über das Leben nachzudenken und sie hatte Recht. Das wusste ich seit meiner Kindheit von meinem Vater. Hitlers Granaten haben nicht Stalin getroffen und Stalins Bomben nicht Hitler getötete. Das sei die größte Lehre deutscher Geschichte, die aber kein Kind in der Schule lerne. Nicht hüben und nicht drüben. Diese Lehre war für den kalten Krieg untauglich und wenigstens der musste seine Rechtfertigung behalten.

      Sollte ich jetzt mit Laila diskutieren? Sollte ich ihr sagen, dass Krieg immer todbringend ist? Jetzt? Hier? Krieg war keine Lösung, gewiss nicht. Aber es war erst recht kein Thema für zwei Menschen, die sich in solch schönen Momenten lieben sollten. Ich spürte, wie sich meine erwartungsvolle Spannung langsam in Nichts auflöste.

      »Das Einzige, was unersetzbar zerstört wird, sind die Menschen. Wer kann das wirklich gut heißen«, raunte sie mit tief gesenktem Kopf, ohne mich eines Blickes zu bedenken. Von der Liebe war Laila weit entfernt. Ich bemühte mich, verständnisvoll zu erscheinen und sprach, als hätte ich drei Pfund Kreide gefressen.

      »Laila. Wir haben zu wenig Einblick in diese Dinge, um urteilen zu können. Es ist eine neue Form von Krieg. Nie da gewesen. Ein Krieg der Kulturen.«

      Ich war nicht blind geboren und kannte wohl den Hintergrund jenes Krieges, den sie meinte. Die Kultur alleine war es nicht, solange Öl nicht schon als Kulturgut galt, was bei den Amis nie auszuschließen war.

      Laila löste sich behutsam aus meiner Umarmung und suchte meine Hand, ehe sie erwiderte:

      »Solange es keine Kultur des Streitens gibt, wird es den unsinnigen, gottlosen Streit der Kulturen geben.«

      Nur ein paar Schritte trennten uns noch von der Straße. Um die Ecke hinter der Mauer, im Schutz des kleinen Wäldchens, stand mein Alfa. Ich war froh, das Leben der Stadt zu spüren und hoffte, das Getöse des Verkehrs in der viel befahrenen Straße könnte Lailas schreckliche Gedanken wieder auf das Hier bringen. Hätte ich wenigstens jetzt geschwiegen.

      »Du bist von da, nicht wahr? «

      Ich versuchte sie wieder zu umarmen. Sanft, aber bestimmt entwand sie sich meiner bittenden Geste.

      »Ich bin Deutsche. Ich bin hier geboren und aufgewachsen.«

      Ich hatte etwas Entscheidendes übersehen, damals wusste ich es nicht, und lange danach auch nicht. Deshalb rührte ich in der tiefsten Wunde, die Laila zu verleugnen suchte. In unseren endlosen Gesprächen erfuhr ich einiges über sie. Was sie gerne aß, welche Filme sie bevorzugte, was sie am liebsten machte und woran sie wirklich glaubte oder worauf sie hoffte. Aber noch niemals hörte ich ein einziges Wort über ihr bisheriges Leben, ihre Familie, ihre Herkunft.

      »Wo ist deine Familie, wo leben deine Eltern?«

      Sie hatte sich längst endgültig von mir entfernt und starrte mich mit ungewissem Entsetzen an, ehe sie schrie: »Lass mich in Ruhe! Lass mich wieder in Ruhe!«

      Ein paar Schritte lief sie rückwärts vor mir her und ruderte mit den Armen; in ihrem Kopf schien es gleichermaßen wirr auszusehen.

      »Laila, es tut mir leid«, brachte ich einigermaßen genervt heraus, doch das war sehr dumm. Warum sollte es mir leidtun? Es war eine Frage, nichts als eine geistlose Frage, die durchaus eine geistlose Antwort vertragen hätte. Sie hätte sagen, von mir aus auch schreien können: Das geht dich nichts an! Ich hätte es klaglos ertragen. Doch sie schrie mir ins Gesicht:

      »Ach ja, es tut dir leid? Es tut dir irgendetwas leid, Matthias Braun, nur die Menschen im Bombenhagel nicht?«

      Tief gebeugt verbarg sie ihr Gesicht in den zitternden Händen. Jeder Versuch, sie zurückzuhalten, prallte an ihrer eintönigen Antwort ab: »Lass mich in Ruhe …«

      Dann rannte sie los, an der Friedhofsmauer entlang bis zum großen, ziegelroten Portal. Von der anderen Straßenseite glotzte ein Ehepaar herüber und schüttelte unisono die Köpfe. Ich rief ihr noch nach: »Laila, komm zurück …« Doch sie war hinter der Friedhofsgärtnerei verschwunden. Ich trottete weiter und blieb vor dem kunstvoll gewölbten Ziegelportal stehen, das den verwitterten Resten der Mauer die letzte Würde verlieh, die der geweihten Stätte gebührte.

      Seit einigen Jahren schlich ich heimlich an diesen Ort. Noch niemals war mir aufgefallen, wie prachtvoll sich das hundertjährige Backstein-Portal vor den schlanken Fichten und hohen Kiefern ausmachte. Es ärgerte mich, dass ich in Kunstgeschichte meistens geschwänzt hatte. Ohne Legende beherrschte ich es nie, einen Bau- oder Kunststil zu erkennen. Ob es der Jugendstil ist? Ich betrachtete das Bauwerk aufmerksam. Den zehn Meter breiten und ebenso hohen Rundbogen zierten drei Türmchen. Sie fanden eine Wiederholung beidseitig auf der tiefer gelegen, mit schrägen Zinnen gekrönten Backsteinmauer. In unserer Stadt gab es viele gut erhaltene Relikte des Jugendstils. Etwas hatte mich vor ein paar Jahren schon einmal wütend gemacht. Ausgerechnet ein aus Wuppertal stammender Geschäftsführer einer hiesigen Firma schwärmte von den vielen prächtigen Bauten. Hatte ich keinen Heimatstolz? War ich zu uninteressiert? Hatte ich zu wenig Sinn für das Schöne oder doch nur zu wenig Kenntnisse? Bin ich ein Ignorant?

      Es zog mich da hinein. Ein paar Schritte ging ich den Kiesweg entlang der Kapelle entgegen, die in ihrem Stil dem Portal glich. Auf dem kerzengeraden Weg lag der süße Duft von Rhododendron vermischt mit der Herbe von Wacholder. Winzige Putten säumten die Wiese. Hinter den dichten Büschen sah ich sie wieder. Laila. Nur kurz. Anmutig aber zielsicher schritt sie in Richtung des Südfeldes. Eine kurze Zwiesprache mit Oma Hannah konnte mir jetzt gerade recht sein, doch alles in mir sträubte sich und ich redete mir ein, weder wegen Laila noch wegen einer anderen Frau je meine Rituale verändern zu dürfen. Omas Geburtstag und auch ihr Todestag lagen nicht in zeitlicher Nähe. Auch hatte ich keine der Blüten bei mir, die ich gewöhnlich auf den schwarzen Marmor legte. Ich kehrte um in der Gewissheit, Laila würde eine kleine Andacht brauchen, um ihre Nerven zu beruhigen. Ich ließ ihr Zeit. Einmal musste sie wieder herauskommen. Lange lungerte ich in der Nähe der Straßenbahnhaltestelle herum. Mir war zum Kotzen zumuten und ich fragte mich immer wieder: Warum zum Teufel willst du dieser Frau einen guten Ruf vortäuschen. Hattest du das je nötig? Hast du je einen guten Ruf vermisst? Bist selber schuld. Hättest du sie genommen, da unten am Fluss im weichen Gras …

      Ich war mir damals schon sicher, es ging nicht wirklich um die Rolle, die ich bei Laila spielen wollte. Es ging ja nicht einmal mehr um mich. Nein. Es ging um Laila. Sie ist krank, dachte ich. Ich muss ihr helfen. Zu dieser Zeit begriff ich nicht, wie nahe ich am Grat des Sadismus wandelte. Oder kann man es anderes bezeichnen, wenn man sich zu einem Wesen hingezogen fühlt, das einem die Nerven massakriert?

      Wie ich so grübelnd eine Zigarette nach der anderen rauchte, zögerte ich noch ein wenig, mich in den Alfa zu setzen und zu Cora zu fahren, oder vielleicht zu Stella? Nur der Gedanke an Laila hielt mich davon ab, heute mit einer Frau zu pennen. Ich würde ihretwegen wieder nicht in Stimmung sein. Das wäre fatal.

      Die Sonne meinte es gut. Ich schloss die Augen, lümmelte mich auf den schmalen Mauervorsprung und lehnte meinen Kopf an die Klinkersteine. Beinahe hätte ich sie verpasst. Laila kam schleppenden Ganges an der Mauer entlang. Sie sah mich nicht. Ihr Blick fiel starr ins Nichts, ihre Arme hingen kraftlos an ihr herab.

      Ich sprach sie nicht an, legte nur meinen Arm um ihre Schultern und schob sie behutsam in Richtung des kleinen Wäldchens. Sie protestierte nicht, sträubte keinen noch so schwachen Muskel gegen mich und ließ es sogar geschehen, in den Alfa Romeo gedrückt zu werden. Sie schien weit weg von dieser Welt zu sein. Apathisch schweigend saß sie da und blickte in eine Leere, die ihr nur der kranke Kopf zu sehen befohlen hatte. Ja, so wird es sein, dachte ich. Oder ist es doch der Krieg? Fühlt sie mit einem Menschen, der ihr nahe steht, den sie vielleicht über alles liebt? Ich war mindestens genau so verstört wie das «hilflose Kind» neben mir und ich fand keine Erklärung. Nur eines wusste ich genau – sie war ein Fall für die Psychiatrie, und ich wollte dafür sorgen, dass man sich um sie kümmerte. Nur am Wochenende ging das nicht. Aber gleich am Montag. Ottmar würde schon wissen, was zu tun ist.

      Auch zu Hause in ihrer Wohnung verbesserte sich ihr Zustand nicht. Laila saß reglos auf der hellen Couch in der Nische und kümmerte sich nicht darum, dass ich da war.