Wilhelm Thöring

Unter dem Ostwind


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Zeit zu Zeit durch den Ort, und immer trägt er diese Kiepe und diese Reisetasche, die sie hier Valise nennen, und unter deren Gewicht der Jan mit den Jahren schief und verbogen geworden ist.

      In Jendriks Kinderjahren war der Hausierer Jan von einem Geheimnis umgeben gewesen. Später dann bröckelte das auseinander, als er erfuhr, dass der Jan nur ganz alltägliche Dinge wie Wäscheknöpfe, bestimmte Garne und Nadeln, Haarspangen oder Manschetten und Chemisetten in seiner Kiepe hatte. Darüber war Jendrik, wie mancher andere Junge in seinem Alter, enttäuscht, denn es war schön jemanden zu kennen, auf dem ein Geheimnis lag. Enttäuscht rotteten sich Jungen und Mädchen zusammen, sie lachten über den schiefen Jan, sie hänselten ihn oder warfen ihm auch schon einmal faules Obst oder einen Kohlstrunk hinterher. Denn sie hörten, was manche Mutter dem Jan zurief: Mach, dass du weiterkommst, Jan! Was du uns verkaufen willst, das bekommen wir im Kolonialwarenladen billiger. Außerdem können wir wählen und müssen uns nicht mit dem wenigen zufriedengeben, was du uns vorlegst!

      Daraufhin war der Jan seltener gekommen. Aber wenn das Wetter für längere Zeit schlecht war, wenn hoher Schnee lag und man nicht in die Stadt fahren konnte, dann war auch der Jan wieder da.

      Aber jetzt kommt er über das Feld geradewegs auf Jendrik Erdmann zu, der sich seine Arme und gefrorenen Hände um den Leib schlägt.

      Jan ruft etwas, aber Jendrik kann es nicht verstehen. Er sieht es nur an den kondensierenden Stößen seines Atems, und dass sein Kopf ihm die gerufenen Worte mit ruckartigen Bewegungen entgegenschleudert.

      „Bist du es, Jendrik? Das Wetter fängt an, verrückt zu spielen!“ ruft der Jan. „Wann haben wir so früh schon einmal solchen Frost gehabt?“

      Lachend ruft Jendrik: „Für einen wie dich, Jan, der auf der Straße lebt, könnte es immer Frühjahr oder Sommer sein.“

      „Nein“, sagt Jan und streckt ihm seine blaugefrorene Hand hin. „Die Kälte ist gut, sie ist gesund und härtet ab. Leute, die bei Wind und Wetter auf der Straße leben, die bekommen keinen Schnupfen ... Ich bin in Radom gewesen, und da hatten sie schon Schnee. Und das vor vier Wochen!“

      „So, so, in Radom warst du. Mit all dem Zeugs da auf dem Buckel?“

      „Wo soll ich’s lassen? Du weißt, ich lebe davon! – Man trifft doch immer wieder einmal einen guten Menschen, der einen auf seinem Fuhrwerk mitnimmt.“

      Jan hat seine Lasten abgestellt, er haucht in die Hände und klemmt sie unter die Achseln. Auch ohne sein Gepäck steht er krumm und schief, und mit seinem ledernen Gesicht blickt er Jendrik Erdmann von unten herauf aus wässerigen und triefenden Augen an. Von weitem könnte man den Jan für einen jungen Menschen halten, aber wenn er so vor einem steht, dann sieht er alt, dann sieht der Jan uralt aus, beinahe wie ein Fossil oder wie ein urweltlicher Vogel mit seinem schmalen Gesicht und der langen Nase.

      Tonlos spricht der Jan gegen die Erde: „Jetzt jagen sie auch da die Juden. Zuerst im Osten, und hier und da auch um Warschau herum ... Es ist wie bei einem schwelenden Feuer, Jendrik. Keiner merkt, wie es sich ausbreitet und das Unheil in jede Ecke trägt. Alle Welt läuft zu den Juden hin und kauft bei ihnen, kauft und kauft und steht hoch in der Kreide, und andere borgen sich Geld bei ihnen ... Ja, und wenn die Schulden zu einem Berg angewachsen sind, dass sie nicht mehr aus noch ein wissen, dann wird gejammert und geschrieen, man nimmt ihnen alles weg und jagt sie davon und schlägt sie am Ende tot ...“

      „Man schlägt sie tot? Hast du das gesehen, Jan?“

      Der Jan nickt mit seinem schiefen Kopf zu ihm auf, und seine roten, triefenden Augen blinzeln etwas. Jendrik weiß nicht, ob die Kälte Jans Augen glasig werden lässt oder das Mitleid, der Kummer über diese schrecklichen Zeiten. Etwas verlegen fragt der Jan: „Was meinst du, kann deine Frau etwas brauchen? Soll ich zu ihr gehen? Ich habe neue ...“

      „Jan, mein Vater stirbt ...“

      „Oh“, Jan wischt mit dem Ärmel seine tropfende Nase. Und dann: „So, so, dein Vater stirbt. Jetzt ist er an der Reihe.“

      Diese Nachricht macht den Hausierer unsicher, er weiß nicht, wo er hinsehen soll. Er dreht seinen Hals im Kragen, als bekäme er keine Luft, und dann zieht er die Pelzmütze vom Kopf und kratzt seinen kurzhaarigen Schädel, dass es klingt, als schmirgele jemand splitteriges Holz.

      Jan sieht wie auch Jendrik nach dem Haus hinüber, das sich unter den Kranz der nackten Kastanien hinduckt, das aus seinem Schornstein zaghafte Zeichen in die Luft schickt: Seht her, hier ist noch Leben.

      Der Hausierer Jan lehnt sich gegen das Fuhrwerk. „Weißt du, Jendrik, dass wir beide, dein Vater und ich, einmal in Czestochowa gewesen sind?“ Jan spricht immer wie ein Deutscher, wenn er mit Deutschen spricht, aber jetzt spricht er den Namen dieser Stadt wie ein Pole aus.

      „In Tschenstochau? Du und mein Vater? Ist das wahr?“

      „Jendrik, da war er noch jung, und ich auch!“ Der Jan lacht und hustet zugleich. „Ich glaube, dich hat es damals noch gar nicht gegeben. Eine Laune von ihm. Er wollte es kennen lernen, mein Leben, meine ich ..., er wollte auch einmal auf der Straße sein, heimlich in Scheunen schlafen oder unter Bäumen, wollte ...“

      Jan bricht ab und macht mit der Hand die Bewegung: lassen wir das. Nach einer kurzen Pause sagt er: „Er ist mit mir in Jasna Gora gewesen. Er hat sogar vor der schwarzen, vor unserer wundertätigen Madonna gebetet, ja, ja ... Später hat er mir einmal gestanden, dass es sein größtes Erlebnis gewesen wäre. Ja, er meinte, wir Katholiken hätten es mit unserem Glauben leichter als ihr. Wir haben vieles greifbar, meinte er, haben es fast in den Händen. Ihr braucht bei allem mehr den Kopf, sagte er, den Verstand ... Weißt du, Jendrik, damals hat er als Lutherischer gespürt: Bei ihr, bei der schwarzen Mutter Gottes, ist das Herz Polens, weil die Wundertätige im Herzen eines jeden Polen lebt. Es könnte sein, dass er sie auch gerne im Herzen getragen hätte. Denn der Pole verehrt, er liebt sie, Jendrik, und dein Vater ist durch und durch Pole gewesen. Wir verehren sie, weil sie viele Wunder getan hat, und, Jendrik, sie wird auch das allergrößte Wunder tun, nämlich: dass alle Polen freie Menschen werden, die sich nicht dem Zaren beugen müssen; auch keiner anderen Macht, nicht den Preußen, nicht den Österreichern ...“

      Während Jan das erzählte, ist er im Sprechen eifriger geworden, doch ist er wieder leise und unsicher. Er sagt:

      „Siehst du, Jendrik, so ist das ... Und jetzt stirbt er ... Barmherzige Mutter Gottes, hilf ihm in seiner schweren Stunde.“ Jan schlägt mit seinen verfrorenen Fingern das Kreuzzeichen.

      „Ach, sie geben Zeichen, Jan. Sie rufen mich!“

      „Ja, dann musst du gehen“, sagt Jan traurig. „Der Allmächtige sei mit dir ..., mit deiner Familie ... ja, und auch mit ihm! – Warte einen Augenblick.“

      Jan kramt unter dem Tuch in seiner Kiepe. „Hier, nimm das für ihn mit. Sag ihm, dass es von mir ist.“

      Er drückt Jendrik einen Rosenkranz in die Hand, und eilig behängt er sich wieder mit seinem Gepäck und geht durch das Birkenwäldchen davon.

      Jendrik sieht seine Frau über das Feld gelaufen kommen. Manchmal stolpert sie und droht hinzufallen. Sie wirft die Arme in die Luft und ruft immerzu, und endlich kann er sie verstehen. „Jendrik! Jendrik! Er ist tot! Er hat einfach aufgehört zu atmen! Großer Gott!“

      Jendrik bindet das Pferd los, und langsam, als hätte er viel Zeit, geht er seiner Frau entgegen.

      Die Kutsche seines Bruders, der aus Lodz kommen wollte, die hat er nicht gesehen.

      Jetzt haben sie den alten Erdmann begraben.

      In der Nacht seines Sterbetages hatte es zu schneien angefangen, und ein unablässiger Ostwind hat den Schnee an den Hauswänden zusammengeblasen und ihn an manchen Stellen bis an die Dachkante zusammengeweht und die Stuben verdunkelt.

      Auch das Fenster zu Erdmanns Sterbezimmer ist zugeweht. Seinen Sarg haben sie an den Platz gestellt, an dem zuvor sein Bett gestanden hat. Im Sarg sah der tote Erdmann noch erhabener und abweisender aus, fast drohend mit den zu Fäusten geballten Händen auf der Brust; ihm ist sein guter schwarzer Anzug angezogen worden, und rings