Wilhelm Thöring

Unter dem Ostwind


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gezogen hatte, glänzt von Nässe.

      „Nein, was da an Schnee herunter kommt!“ ruft sie. „Und mir ist, als würde der Frost auch zunehmen ...“

      Was die Schwägerin über das Wetter sagt, kommt der Antonya gelegen. Sie erhebt sich mit den Worten: „Dann müssen wir aber fahren!“ Sie winkt den Kindern, hüllt sie in ihre Pelze.

      „Ja, wenn es so ist ...“, meint ihr Mann und bricht nun endlich auf.

      „Stani, und ihr habt nicht über das väterliche Erbe gesprochen!“ sagt sie mit leisem Vorwurf über die Schulter. „So etwas verträgt keinen Aufschub, es drängt nach Klarheit! Vor allem für ihn.“ Sie nickt zu Jendrik hin.

      Amalie verschwindet wieder nach nebenan an ihre Arbeit, und ihr Mann sagt kleinlaut gegen den Tischplatte: „Gesprochen werden muss ... das ist wahr ...“

      Stanislaus stellt sich hinter seinen Bruder, er legt ihm beide Hände auf die Schultern und flüstert mit ihm, worauf Jendrik wie erleichtert nickt.

      Endlich zieht Stanislaus Mantel und Handschuh an und stellt hier in der Wohnung schon den Pelzkragen hoch. „Wir werden das in Lodz besprechen. Bald, bald…“

      „In Lodz?“ fragt Amalie aus dem Nebenraum. „Jendrik, willst du bei diesem Wetter nach Lodz fahren?“

      „Nicht nur er – ihr alle!“ ruft der Schwager vergnügt. „Mit Kind und Kegel!“

      Antonya ist irritiert, macht den Mund auf, als wollte sie etwas sagen. Von Amalie ist ein erstaunter Ausruf zu hören.

      Wenig später sitzen Stanislaus und Antonya mit den Kindern in der Kutsche, alle in dicke Pelze gepackt, unter den Stiefeln die heißen Steine, die die ganze Zeit auf dem Herd gelegen haben, und durch dichtes Schneegestöber fahren sie ostwärts nach Lodz.

      Für die Erdmanns hat es nie einen anderen Ort gegeben, zudem sie sich gehörig fühlten, als dieses aufstrebende Städtchen in Polen, in dem sie mit vielen anderen Deutschen seit Menschengedenken leben, und die sie ihre Heimat nannten, weil hier ihre Nachkommen geboren und weil sie hier starben und begraben wurden.

      Seit jeher spricht man Polnisch und man spricht Deutsch. Das Russische, das als offizielle Sprache vom Zaren für diesen Bereich verfügt worden ist, das vermeiden und missachten sie ebenso wie die Polen. Russisch spricht man nur, wenn es nicht zu umgehen ist und wenn es klugerweise geboten scheint. Doch gibt es bei fast allen Deutschen hier eine auffällige Besonderheit in der Sprache: hier sprechen sie eine Mundart, wie man sie im Schlesischen hören kann, anderswo klingen andere Dialekte durch. Viele Bräuche, die ihnen teuer sind und die sie pflegen, trifft man auch bei den Polen an. Niemand kann sagen, wo sie ihre Wurzeln haben, ob im Polnischen oder im Deutschen. Es sind ihre Bräuche, die sie von der Generation vor ihnen und diese wiederum von der vorigen Generation übernommen haben. Und das ist richtig so und gut. Darin sind sich nicht nur die Erdmanns, darin sind sich alle Deutschen einig: so, wie wir es übernommen haben, so soll es weitergehen und bleiben, weil es sich bewährt hat und weil es Heimat schafft.

      Allen seinen Kindern hat der tote Siegismund polnische Namen gegeben, sehr zum Ärger seiner Frau, die darauf bestand, eine deutsche Familie bleiben zu wollen. Alles Polnische lehnte sie ab, die Sprache ebenso wie polnische Namen bei Deutschstämmigen; und jedes Mal, wenn eins ihrer Kinder starb, dann hielt sie das für eine Strafe des Himmels, weil sie ihre Herkunft verleugneten. Nachdem sie die fünf älteren Kinder begraben hatte, wartete sie darauf, dass ihr auch die beiden letzten, Stanislaw und Jendrik, genommen werden als Strafe dafür, dass sie das Deutsche verraten habe.

      Nicht nur im Brauchtum hat es Vermischungen gegeben, zu Vermischungen ist es gekommen, weil sich die Menschen vermischt haben. Das wissen sie und darauf verweisen sie, wenn die Kinder dieses oder jenes erklärt haben wollen.

      Erdmanns kleiner, aber wachsender Wohlstand hat Neider im Ort, doch niemand kann ihnen etwas nachsagen. Sie waren immer rechtschaffen, waren ehrlich und verlässlich, sie waren fromm – und dennoch waren sie manchem ein Dorn im Auge.

      Es wurde über sie Folgendes erzählt, und Erdmanns wussten davon, sie sagten aber nichts mehr dazu, und sie widersprachen nicht: Man erzählte sich die Geschichte von einem Arnulf, der im Sommer des Jahres achtzehnhundertvierundvierzig, als die Hungerrevolution aus friedlichen und wortkargen schlesischen Webern Rebellen werden ließ, sich zu ihrem Anführer aufgeschwungen hat. Sengend und mordend fegten sie durch die Dörfer des Eulengebirges und schrieen nach Gerechtigkeit. Keiner sei fürchterlicher und gnadenloser gewesen, als jener Arnulf, so dass auf seine Ergreifung ein Kopfpreis ausgesetzt wurde. Preußische Truppen kamen und suchten nach ihm, um ihn für seine und die Verbrechen der anderen zur Rechenschaft zu ziehen.

      Wie konnte dieser Arnulf seinen Kopf aus der Schlinge ziehen? Indem er floh. Durch Polen war er bis an den Bug gezogen und hielt sich in einem unbekannten Nest versteckt. Nach einigen Jahren, als Gras über seine Sache gewachsen war, ist er nach Zdunska Wola gezogen; hier hat er ein Fleckchen Land erworben, hat eine Hütte gebaut, in die ein Webstuhl passte, hat geheiratet, ist wohl auch anständig geworden und hat unter den hier ansässigen Deutschen das Geschlecht der Erdmanns begründet.

      Dem verstorbenen Siegismund ist es vor vielen Jahren in den Kopf gekommen, die Sache auf einer Gemeindeversammlung richtig zu stellen: nicht auf den Rebellen Arnulf gehe ihr polnisches Geschlecht zurück – nein, ihr Geschlecht sei viel älter! Ihre Wurzeln liegen wahrscheinlich noch vor der Zeit des Großen Peter und der Katharina. Den Arnulf hätten die Alten noch kennen und von ihm erzählen können. Das mit dem Arnulf, so argumentierte er, liege erst einmal gut fünfzig Jahre zurück. Ist nicht er, der Weber Siegismund Erdmann, schon im Jahre achtzehnhundertachtundzwanzig in dieser Stadt geboren worden?

      Wie kann der Rebell Arnulf dann Ahnherr der Erdmanns in dieser Stadt sein, frage er jene, die mit solchem Blödsinn eine anständige Familie zu beschädigen suchen?

      Zudem sei alles in den Kirchenbüchern nachzulesen. Man brauche nur den Pfarrer zu bitten, der werde jeden, der der Sache auf den Grund gehen möchte, aufklären können.

      Im Jahr nach dem Tod von Siegismund Erdmann dachte Jendrik daran, die Geschichte seiner Familie zu ergründen, um die Wahrheit seinen Kindern einmal erzählen zu können. Vielleicht wird sogar eins von ihnen sie aufschreiben! Wer kann das sagen?

      Davon könnte, wenn es interessiert, später erzählt werden.

      Es ging auf Weihnachten zu. Bei den Leuten, die Vieh im Stall stehen haben, wurde geschlachtet. An den Hauswänden lehnten die Leitern mit den kopfüber hängenden, aufgeschlitzten Schweinen, die von Kindern während des Auskühlens bewacht wurden. Blutleer und weiß wie ein Bettlaken hingen sie, und mancher Nachbar, der sie hängen sah, beschloss bei sich, diesem Haus gegen Abend einen Besuch abzustatten.

      Auch Jendrik hat den Schlächter kommen lassen. Er wollte es nicht so machen wie die Nachbarn, die mit einem Beil auf das Schwein losgingen und dessen durch Mark und Bein dringendes Quieken oft lange und meilenweit zu hören war. Bei ihm ging die Tötung leise und rasch vonstatten. Und dass die Kinder dabei zusahen, das duldeten er und sein Frau nicht. „Bei so etwas gehören Kinder ins Haus“, hat Amalie gesagt. „Besser noch, sie gehen weg!“ Und darin gab er ihr Recht.

      „Wenn die blutige Arbeit getan ist, wenn das Fleisch nicht mehr als Schwein zu erkennen ist, ja, dann mögen sie kommen und helfen“, sagte sie. „Ich leide es auch nicht, wenn sie das aufgeschlagene Schwein bewachen.“

      Beim Wursten, beim Zerlegen und Einpökeln haben sie zusehen und auch helfen dürfen, wenn sie helfen konnten.

      Oder sie haben das Feuer gehütet und Wasser gekocht und in den riesigen Töpfen gerührt. Den leergedrückten Darm ließ Amalie sie reinigen, auch beim Abbinden der Würste durften sie helfen.

      Am Abend wurde jedes mit einer kleinen Wurst belohnt, die es ohne Brot essen durfte. Wie freuten sie sich erst auf Weihnachten! Denn dann kamen alle diese Herrlichkeiten auf den Tisch.

      „Solange müsst ihr warten“, sagte die Mutter. „Vorher gibt’s nichts!“

      Die Wolken hängen