Wilhelm Thöring

Unter dem Ostwind


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Der Tote erweckte den Eindruck, als grinse er hämisch vor sich hin oder als errege etwas seinen Unwillen. Die Nachbarn, die an seinen Sarg traten, schien der Tote weit zurückzuweisen. Niemand verweilte über die geziemende Zeit. Sie blieben verschreckt und ängstlich an den Wänden stehen und drängten nach kurzer Zeit zur Tür hinaus.

      Selbst dem Pfarrer schien nicht wohl zu sein, den erhabenen toten Erdmann bei der Trauerfeier im Rücken zu haben. Den Leuten kam es vor, als habe der Tote seinen Kopf gleichsam lauschend erhoben und das Kinn auf die Brust gepresst, und er ertrug es, dass die Trauergemeinde in der Stube und draußen im Flur laut und falsch und viel schneller sang, als es bei einer solchen Feier schicklich war.

      Erleichtert sahen die Menschen nach der Trauerfeier zu, wie der Sarg zugenagelt wurde und der Tote unter dem Sargdeckel verschwand. Die Hammerschläge dröhnten bis in den Hof, verkündeten es bis in den abgelegensten Winkel von Erdmanns Haus: jetzt ist dieses Letzte auch getan, niemand muss sich mehr vor dem Anblick des Toten fürchten!

      Schweigend wurde Siegismund Erdmann aus seinem Haus getragen, und schweigend geleiteten sie ihn, der nicht erst als Toter, sondern schon zu Lebzeiten einen wunderlichen Respekt genossen hatte, auf den Friedhof, wo neben dem Grab seiner Frau sein eigenes auf ihn wartete.

      Nachdem der Pfarrer das seine getan hatte, umstand seine große Familie in einem weiten Kreis das Grab und sah zu, wie die Männer hastig, unter den Pelzmützen mit roten und verschwitzten Gesichtern, Erdmanns Grab zuschaufelten. Und als sich nach kurzer Zeit der Hügel über die Stelle wölbte, wo man ihn eben in die Erde gesenkt hatte, fühlten sich alle wie von einer drückenden Last befreit. Die Erwachsenen wurden auf dem Heimweg gesprächig, und neben ihnen stapften immer noch niedergeschlagen und nichts begreifend die Kinder. Alle hatten es eilig, ins Warme zu kommen.

      Amalie hat mit zwei Nachbarinnen die große Stube für die Leichenfeier ausgeräumt. Jendrik meinte, man könne sich auch in der Stube versammeln, in der der Vater gestorben sei, denn sie wäre schon lange leergeräumt.

      „Wo sein Sarg gestanden hat?“ hat sie ungläubig gefragt. „Da sollen wir essen? Ja, glaubst du denn, dass einer da hineingehen wird? Nein, wir räumen die große Stube aus!“

      Jetzt sitzen sie in der großen Stube und können es vor Hitze kaum aushalten.

      „Können wir nicht ein Fenster aufmachen?“ fragt Jendrik.

      „Ich habe sie doch schon alle abgedichtet!“ ruft Amalie. „Siehst du das nicht?“

      „Dann die Tür“, schlägt jemand vor.

      „Soll uns der Schnee ins Haus wehen?“ gibt Amalie zu bedenken.

      Gleich nach dem Leichenschmaus sind die entfernten Verwandten aufgebrochen, die mit dem Fuhrwerk gekommen sind. „Bei dem Wetter ... Man weiß ja nicht ...“ entschuldigen sie sich.

      Später meint Jendrik: „Es ist die Hitze, die sie vertrieben hat. Hier drinnen ist es heiß wie in der Schmiede.“

      „Einmal ist es zu kalt, ein andermal zu heiß“, mault Amalie, die mit unordentlichem Haar und roten Flecken im Gesicht das Geschirr einsammelte.

      Es ist später Nachmittag geworden; an dem langen Tisch sitzen nur noch die beiden Erdmannsöhne, Jendrik und Stanislaus, mit ihren Frauen und Kindern, und auf der Ofenbank hocken zwei Nachbarinnen, dick und unbeweglich; sie sehen in ihren schwarzen Tüchern wie aufgeplusterte Krähen aus und warten darauf, Amalie beim Einräumen der großen Stube behilflich sein zu können.

      „Ihr könnt gehen, wartet nicht“, sagt die Hausfrau. „Das, was zu tun ist, machen mein Mann und ich, wenn die Verwandtschaft aufgebrochen ist. Ihr habt zu Hause sicherlich noch genug zu tun.“

      Die beiden Krähen tuscheln, dann stehen sie schwerfällig, beinahe widerwillig, auf und verlassen die große Stube.

      Jendrik und Stanislaus sitzen weit weg vom Ofen, einander gegenüber. Wer die Brüder so sieht, könnte glauben, es seien zwei ungleichartige Parteien, die durch Reichtum und Armut, die durch Abneigung getrennt werden. Sie haben etwas getrunken, der Wodka hat sie rot gemacht und manchmal auch laut dazu. Es scheint, als liege etwas in der Luft; hin und wieder sehen die Brüder Jendrik und Stanislaus Erdmann sich kurz an, als müsse etwas gesagt werden, das unangenehm ist und die Lage verschärfen kann. Ihnen fehlt der Mut, über das Eigentliche, über die Aufteilung des väterlichen Erbes zu sprechen. So erzählt jeder von seiner Arbeit. Jendrik, der Jüngere, von seinen Feldern und seiner Webware und wie er bemüht ist, seinen Teil der väterliche Hinterlassenschaft zu einem ansehnlichen Anwesen zu machen. Stanislaus, der Ältere, spricht von seinen Geschäften und von seinem Ärger mit den Arbeitern in seiner Lodzer Tuchfabrik. Und dass die Leute sich zu Bünden zusammenschließen und ihm das Leben mit unerhörten Forderungen versauern. Von expansiven Plänen erzählt er, von Transaktionen und auch von den vielfältigen Sorgen, die einen Mann seines Standes täglich heimsuchen. Da brauche man schon hin und wieder ein wenig Ablenkung, ein kleines, ein harmloses Vergnügen, das einen die Lebensschwere vergessen lässt. Er denke zum Beispiel an die Jagd. Ein paar Enten, Karnickel, vielleicht einmal ein Rehbock oder ein Wildschwein ... Das reiche ihm durchaus. Aufregender sei es aber, wenn es heißt: in einem Wald ganz in der Nähe ist ein Bär gesehen worden, „ ...und wenn du dich aufmachst, um ihn zu erlegen, dann hörst du: der Bär? Ja, ja, den hat’s gegeben, aber der ist schon im vergangenen Jahr hier durchgezogen!“

      Kopfzerbrechen bereite ihm auch die Reitbahn, die er bei dem Gut seiner Schwiegereltern anlegen lassen möchte. Und dann dränge seine Frau darauf, dieses oder jenes zu bekommen. „ ...Du kennst sie nicht, Bruder ... den Kopf voller Kapricen ...“ raunt er über den Tisch, wobei er heimlich zu ihr hinüberfeixt. „Das gehört wohl zum Adel dazu.“

      Seine Frau Antonya Erdmann, eine geborene Gräfin von Zlotczinska, die aus der Gegend von Zambrow stammt, sitzt für sich allein, als wollte sie in der engen Stube von niemandem berührt werden. Ob diese Abgrenzung von ihr gewollt ist oder nicht, das weiß keiner, nicht einmal sie selbst weiß es. Da sie aber von nicht geringer Herkunft ist, meint die Verwandtschaft, und die Nachbarn meinen das auch, sie sei hochnäsig und auf Besonderheiten bedacht.

      Steif und unnatürlich gerade, schweigsam, sitzt Antonya die ganze Zeit auf ihrem Stuhl. Ihr kommt es nicht in den Sinn, der Schwägerin zu helfen, die daran gegangen ist, wieder die alte Ordnung in der Stube herzustellen.

      „Amalie, setz dich zu uns“, bittet Jendrik. „Das alles können wir später machen ...“

      Amalie hat nichts gehört; in einem fort schleppt sie Bänke und Stühle, Böcke und Bohlen, die als Tische dienten, aus der Stube.

      Antonya fragt: „Habt ihr kein Mädchen, die das machen kann? Schwägerin, warum rackerst du dich mit dem schweren Zeug ab?“

      „Für so etwas haben wir kein Mädchen!“ antwortet Amalie.

      Antonyas Blick geht zu den beiden Brüdern, irgendetwas an den beiden lässt sie ungeduldig werden.

      „Ist es nicht Zeit, dass ihr endlich zur Sache kommt?“ fragt sie gereizt.

      Ihr Mann winkt ab. „Später, später ...“

      Seitdem der Vater sich zum Sterben hingelegt hatte, haben auch die beiden Brüder wieder zueinander gefunden. Zaghafte, vorsichtige Gespräche haben eine Barriere abgebaut, die beide mit den Jahren für immer unüberwindlicher hielten.

      Seit der Zeit, als sie sich verheiratet haben, lebten sie wie Fremde. Der ältere mit Erfolg, mit Ansehen und Wohlstand in der Stadt, der jüngere als Bauer und Weber auf dem Lande in einem Haus, das sich zwar zusehends vergrößerte, das aber bis heute ein aus Lehm gebautes Bauernhaus geblieben ist.

      Plötzlich zieht Antonya ihre Uhr hervor, die sie an einer langen Kette unter ihrem Kleid trägt. Das Deckelchen klappt auf und sie tippt mit spitzem Finger gegen das Glas; sie hält ihrem Mann das Ührchen hin und mahnt: „Stani!“

      Wieder winkt ihr Mann ab: „Einen Augenblick noch.“

      Antonya versteckt das Ührchen wieder in ihrem Ausschnitt. Sie sitzt noch steifer auf ihrem Stuhl, wie auf dem Sprung.

      Amalie