Wilhelm Thöring

Unter dem Ostwind


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war, dass sie vollgestopft waren und nicht zogen.

      Amalie Erdmann erneuert die Tannenzweige in den Stuben, sie liebt es, auch zwischen den Doppelfenstern Tannengrün zu haben. Die größeren Kinder helfen ihr, und die kleinen stehen da und staunen und quälen sie mit ihren unzähligen Fragen.

      „Nein“, sagt sie schon müde geworden. „Den Baum holt der Vater aus dem Wald. Aber die Äpfel und silbernen Nüsse, die hängt das Christkind daran. Aber nur, wenn ihr bis dahin brav seid und eure Mutter nicht immerzu mit tausend Fragen drangsaliert!“

      Jendrik Erdmann kommt in die Stube. Er geht auf Strümpfen, seine Stiefel hat er vor der Haustür ausgezogen; schweigend wärmt er seine Hände an der Ofenwand. Schließlich sagt er, und es klingt, als spräche er mit sich selbst: „Ich sollte in Vaters Stube noch drei Webstühle stellen. Wenn ich die Ostwand zum Stall hin abbreche und sie um ein paar Fuß versetze ...“

      Die Frau sieht auf. „Vaters Stube?“ Sie erhebt sich schwerfällig und stöhnt leise, und als sie vor ihm steht, stemmte sie beide Arme in ihren Rücken; der Mann beachtet das nicht; ihm war es nie aufgefallen, wenn diese Art von Schwerfälligkeit ihr zu schaffen machte.

      „Er liegt noch nicht lange unter der Erde, und da willst du aus seiner Stube so etwas machen? Sie mit Webstühlen vollstellen?“

      Er lacht sie listig an: „Mein Bruder vergrößert, hast du es nicht gehört? Und wir, Malchen, vergrößern auch! Natürlich in einem anderen Maßstab und in einer anderen Weise als er es macht.“

      „Wo willst du das Geld für die Webstühle hernehmen?“

      Er gibt ihr keine Antwort darauf. In Gedanken ist er weiter, und er sagt zu ihr: „Dann nehme ich noch zwei oder drei Leute in den Dienst.“

      „Auch das noch! Weißt du, was das kostet?“ Was soll sie weiter dazu sagen? Ja, das kennt sie. Was Jendrik sich einmal in den Kopf gesetzt hat, das führt er auch aus. Anfangs hat sie ihm widersprochen, wenn sie nicht überzeugt war, hat sich gegen solche Pläne gewehrt. Nach ihrem Dafürhalten war manches zum Scheitern verurteilt. Und doch gelang ihm, was er plante.

      Weil er am Ende recht behielt, darum schweigt sie jetzt und wendet sich wieder ihrer Arbeit und den Kindern zu.

      Abwartend steht der Mann eine Weile in der Tür, dann geht er nach draußen an seine Arbeit.

      Alle Unebenheiten und Vertiefungen im Feld hat der Wind mit Schnee zugeblasen. Es ist bitterkalt geworden, und die Fensterscheiben bleiben auch am Tage zugefroren. Obwohl die Pumpen und Brunnen rechtzeitig mit Stroh und Säcken umwickelt und abgedeckt wurden, geben sie kein Wasser mehr; vor einem solchen Frost sind sie nicht zu schützen. Die Menschen gehen so dick eingepackt, dass sie sich auf der Straße kaum erkennen. In entlegenen Dörfern, so erzählte man sich, seien Wölfe gesehen worden, und es habe schon die ersten Erfrierungstoten gegeben, alte Menschen vor allem, die sich beim Holzsammeln einen Moment ausruhen mussten und die auf ihrem Platz eingeschlafen und erfroren seien.

      Der Himmel ist hoch und unnatürlich blau. Nur an wenigen Stellen zeigen sich ein paar hingewehte Wolken, die wie gefegter Schnee auf einer Eisfläche aussehen. Die Sonne steht kalt und bedrohlich hinter dem Wald, der jetzt schon lange Schatten über die verschneiten Felder wirft.

      Heute geht Jendrik Erdmann seinen Weihnachtsbaum schlagen, und der dreizehnjährige Berthold, die ein Jahre jüngere Adelheid und der zehnjährige Edmund dürfen den Vater begleiten. Die Kinder schweigen, weil der Vater sie geheißen hat, still zu sein. Der scharfe Frost, hat er gedroht, schneide ihnen weit hinten im Hals die Adern durch, so dass Blut aus Mund und Nase fließt. Und außerdem würde der Luchs sie hören, und der Luchs, so ist dieses Tier, springt von seinem Baum herunter und wird versuchen, sie wegzuschleppen. Das wirkt. Wenn sie nicht schon so weit im Feld wären, dann würden die Kinder sofort kehrtmachen. Jetzt müssen sie weitergehen, und darum halten sie sich so dicht hinter dem Vater, dass sie ihm hin und wieder in die Hacken treten. Manchmal bleibt der Vater stehen, um ihnen Spuren im Schnee zu zeigen, Spuren von Kaninchen, von Fasanen und einmal sogar eine vom Fuchs und von einer Wildkatze. Zielstrebig drängt sich der Vater in eine Schonung zu seinem Baum, wie er sagt. Es ist ein Baum, der merkwürdigerweise keinen Schnee mehr trägt und der wie ein Fremdling, dunkel und auffällig, unter den anderen steht. Auf den hat es der Vater abgesehen, den schlägt er.

      Als sie später den Ort erreichen, ist die Sonne schon lange untergegangen und der Abendstern steht einsam an seinem Platz.

      Am Heiligabend schneit es ohne Ende.

      Vom frühen Morgen an ist Amalie Erdmann damit beschäftigt, das Haus zu putzen und alle die Dinge vorzubereiten, die zum Weihnachtsfest gehören und die getan werden müssen. Und diesmal fällt es ihr besonders schwer; in ihrem Leib ist seit langem ein kleiner Schmerz, ein völlig unbedeutender Schmerz zuerst, der aber von Woche zu Woche gewachsen ist und der sich nach und nach bis in die äußersten Glieder ausgebreitet hat.

      Die kleinen Kinder sind ihr lästig heute, und gegen ihren Willen herrscht sie sie an und scheucht sie von einem Winkel in den anderen; heute wird sie sie zeitig ins Bett schicken. Das Gequengel ist ihr unerträglich, sie mag es nicht hören, warum sollen die Quälgeister bis zur Mitternachtsmette aufbleiben dürfen?

      Die Mitternachtsmette – wie gerne ist sie alle Jahre zuvor in diesen Gottesdienst gegangen. Heute würde sie viel lieber zu Hause bleiben. Bestimmt wird sie in der Kirche einschlafen, denn sie ist so müde, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann.

      Später Abend ist es geworden, als sie die Arbeiten endlich beendet hat. Amalie streut zuletzt noch weißen Sand in die Stube und verbrennt ein paar Tannenzweige im Herd. Das ganze Haus soll von weihnachtlichem Duft durchzogen werden. Das muss sein, sagt sie sich, das gehört dazu. Auch wenn Jendrik meint, es rieche wie in katholischen Kirchen, sie geht sogar mit glimmenden Zweigen von einer Stube in die andere.

      Als das getan ist, wäscht sie sich über der Schüssel und setzt sich auf die Ofenbank, um sich vor dem Kirchgang ein wenig auszuruhen.

      Von weither strömen die Menschen zum mitternächtlichen Gottesdienst in die Stadt. Die Vornehmen und Reichen kommen mit ihren Kutschen oder Schlitten und füllen den Platz vor der Kirche. Sogar in den angrenzenden Straßen stehen ihre Gefährte, und die dampfenden Leiber der Pferde täuschen Wärme und Behaglichkeit vor.

      An einigen Stellen des Platzes brennen Feuer in eisernen Behältern, die von Kutschern und Knechten umlagert sind, wo sie ihre Füße warm stampfen und die Wodkaflasche kreisen lassen und wo sie über ihre Herrschaft herziehen und sich auch schon einmal streiten. Manchmal kommt jemand aus der Kirche, und wenn die Tür sich öffnet, flutet ein Schwall von Licht in die Nacht, der für einen Augenblick alle Straßengeräusche verstummen lässt.

      Sie singen: „Lobt Gott, ihr Christen allzugleich in seinem höchsten Thron.“

      Über den Kutschern und Knechten an ihren Feuern, über den ergeben wartenden Pferden, brausen die Glocken und wetteifern mit der singenden Gemeinde. Alle sollen es wissen, sie sollen den Jubel draußen auf den Straßen und hinter ihren Wänden hören: dass der Dienst vor dem Herrn getan ist und das Fest hat begonnen.

      Diesem rauschenden Jubel aus Hunderten von Kehlen, dem unrhythmischen Takt der vier Glocken können sich auch die Fuhrknechte nicht entziehen. Trotz der grimmigen Kälte ziehen sie ihre Pelzmützen vom Schädel und singen mit, so gut sie es können. Es sind solche darunter, die durch das Singen und das Glockengetöse, und vor allem durch Erinnerungen, angerührt werden und feuchte Augen bekommen.

      Die Kirche leert sich nur langsam. Jeder will die für das Fest erforderlichen Oblaten haben, die in der Sakristei oder an der Kirchentür gekauft werden können und die zu Hause vor dem Weihnachtsessen untereinander geteilt werden. Darauf umarmen und küssen sich die Menschen, und unter Lachen und mit Tränen in den Augen wünschen sie einander ein gesegnetes Christfest.

      Bei den Erdmanns wird in diesem Jahr das Brechen und Teilen der Oblaten fast widerwillig getan; beide Eltern reichen sie einander ohne die Ergriffenheit und Bewegung, wie es früher gewesen ist. Amalie wirkt abwesend, und manchmal trommelt sie nervös mit den Fingern auf die Tischplatte, wenn