Dorf selber war von einer natürlichen Wand umzäunt. Eine dichte Hecke bildete eine nahezu undurchdringliche Barriere und an den Stellen, an denen der Wuchs doch nicht dicht genug war, hatten die Bewohner einen Zaun aus Holzpfählen errichtet. Inmitten dieser Holzwand gab es ein zweiflügeliges Tor, welches im Moment offen stand. Beeindruckt musste Gerda sich eingestehen, dass dies ein ziemlich wehrhaftes Dorf war und plötzlich wusste sie, wo sie sich befand.
„ Ihr seid das Schattenvolk, nicht wahr?“
Es war eigentlich keine Frage, sondern eher eine Feststellung und es verwunderte sie auch nicht weiter, dass sie keine Antwort bekam. Das Schattenvolk war eine Legende, eine Geschichte, die entnervte Mütter ihren Kindern erzählten, wenn diese nicht artig waren.
„Die Schatten werden dich holen“ war ein Satz, den wohl jedes Kind irgendwann einmal zu hören bekam. Gerda und ihre Schwestern wussten, dass dies mehr, als nur eine bloße Legende war. Das Schattenvolk existierte.
Sie waren die Diener der Götter, die Krieger Tyrs und Kvasirs. Der Legende nach bewachten sie den Eingang zum Reich der alten Götter. Jeder, der ein Anliegen an eine der Gottheiten hatte, musste ein Opfer darbringen, welches zumeist aus Fleisch, Obst und Getreide bestand. Waren die Wächter zufrieden, durfte der Bittsteller die Götter befragen. Kein Wunder, dass sie halb verhungert waren. An die alten Götter glaubten nur noch wenige, und kaum einer wäre wohl bereit, ihnen ein Opfer zu bringen. Auf Ketzerei stand der Tod. Wer den alten Göttern huldigte, wurde bei lebendigem Leibe verbrannt, ein Menschenopfer an die neue Gottheit.
Innerhalb der Dorfumfriedung bot sich Gerdas Augen ein noch trostloseres Bild, als sie es erwartet hatte. Es sah alles irgendwie unordentlich aus. Ungewaschene Kinder spielten, von den Erwachsenen völlig ignoriert, in den finsteren Ecken zwischen den Häusern. Über die Art der Spiele mochte Gerda lieber nicht nachdenken. Der gesamte Ort atmete Vergehen und Verzweiflung.
„Sieh dich um, Hexe, und verstehe. Was du siehst, haben wir deinesgleichen zu verdanken. Die Welt war in Ordnung, die Menschen brachten uns, was wir zum Leben brauchten und sie beteten unsere Götter an, getrieben von der Angst vor den Traumfängern. Bis ihr sie vertrieben habt. Ohne die Bedrohung durch die Erstgeborenen begannen sich die Menschen zu fragen, wozu die Götter eigentlich gut waren. Hatten sie ihnen den jemals wirklich geholfen? Die Menschen schufen sich einen neuen Gott und wir gerieten in Vergessenheit.“
„ Aber es hat euch doch niemand daran gehindert, euer Leben zu ändern. Ihr hättet doch alles, was ihr zum Leben braucht selber anbauen können. Aus Götterdienern wären Jäger und Bauern geworden. Was wäre daran so schlimm gewesen?“
„Es ist jetzt schon viele Generationen her, dass wir anfangen mussten, für uns selbst zu sorgen. Es fehlte uns sowohl an Geschick, als auch an Geduld. Unser Stolz war schließlich ausschlaggebend. Unsere Männer waren nicht mehr die Krieger der Götter, so boten sie ihre Dienste anderen Herren an. Sie begannen, durch die Welt zu ziehen, Krieger, die für jeden kämpften, der in der Lage war, sie zu bezahlen. Alle zwei bis drei Monate kamen sie nach Hause und von dem, was sie mitbrachten, konnten alle gut leben.“
Das Gesicht der Anführerin hatte jetzt einen traurigen Ausdruck angenommen und Gerda fiel auf, dass sie bisher noch keinen Mann zu Gesicht bekommen hatte.
„Vor vierzehn Monaten haben wir unsere Männer zum letzten Mal gesehen. Wir wissen nicht, was geschehen ist. Unsere Kinder vermissen ihre Väter und wir sind damit beschäftigt, das Dorf zu ernähren. Für die Erziehung der Kinder bleibt keine Zeit.“
Gerda schüttelte den Kopf.
„Warum verlasst ihr diesen Ort nicht einfach? Geht in die nächste Stadt, arbeitet als Waschfrauen oder Mägde. Ihr habt euer Schicksal doch selbst in der Hand!“
Sie erntete für diesen Satz nur ein mitleidiges Kopfschütteln. Ihr Gegenüber sah sie an, als fürchte sie, Gerda hätte den Verstand verloren.
„ Das geht doch nicht. Wo sollen unsere Männer uns denn suchen, wenn sie zurückkehren? Außerdem sind wir die Auserwählten. Wir haben den Göttern gedient! Sollen wir jetzt wie Abschaum im Dreck kriechen?“
Nun, weit entfernt waren sie von diesem Zustand nicht mehr. Gerda behielt den Gedanken aber lieber für sich. Sie würde diesen Leuten gerne helfen, doch spürte sie, dass ihnen nicht mehr zu helfen war. Ihr Hochmut würde ihr Verhängnis sein. Die Männer waren wahrscheinlich in irgendeinem Kampf gefallen, vielleicht hatten sie dabei sogar auf verschiedenen Seiten des Schlachtfeldes gestanden. Oder sie hatten irgendwo, fernab mit anderen, jüngeren Frauen ein neues Dorf gegründet, wer konnte das sagen?
Dieses Volk würde bald wirklich nur noch eine Legende sein. Und Gerda wusste, dass sie es bis zum Schluss nicht begreifen würden, dass sie selbst die Schuld daran trugen.
Angewidert wendete sie sich ab.
„Ich fürchte, ich muss auf eure Gastfreundschaft verzichten. Ihr seid so sehr damit beschäftigt, euch selbst leid zu tun, dass ich befürchte, eine Nacht in eurer Mitte könnte aus mir eine ebenso wehleidige Jammerfigur machen.“
„ Ich glaube nicht, dass du uns so schnell verlassen wirst. Über die Jammerfigur reden wir später noch, doch zunächst sollst du die Heiligtümer kennen lernen.“
Gerda begriff, dass sie in die Falle getappt war. Das Tor in ihrem Rücken war mittlerweile verschlossen, die Kinder hatten ihr Spiel beendet und standen neben ihren Müttern, ebenfalls mit Pfeil und Bogen bewaffnet und die Anführerin der Gemeinschaft setzte ein falsches Lächeln auf.
„Seid ihr Schwestern nicht auch Diener der alten Götter? Wie kommt es dann, dass du gehen willst, ohne den Eingang zu ihrem Reich gesehen zu haben?“
„Ich habe nichts, was ich als Opfer anbieten könnte.“
Gerda hatte jetzt Angst!
Sie war unvorsichtig gewesen, überheblich war sie den vermeintlich hilflosen Frauen gefolgt. Nun stand sie hier. Ihre Kräfte waren beileibe nicht groß genug, um es mit der gesamten Dorfgemeinschaft aufzunehmen. In den gierigen Blicken der Kinder konnte sie erkennen, welcher Art ihr Opfer sein sollte.
Das Dorf schwelgte im Vorgeschmack des üppigen Festbratens, der da so unerwartet in ihrer Mitte erschienen war. Aus Gerdas Angst wurde Panik.
„Wo befindet sich denn der Eingang zum Reich der Götter. Vielleicht kann ich doch etwas für euch tun, wenn dieser Eingang wirklich existiert.“
„Oh, du wirst etwas für uns tun, das ist sicher.“
Böse lächelte die Kriegerin Gerda an.
„ Folge mir!“
Über einen ausgetretenen Pfad erreichten sie den Fuß des Berges. Dort, umgeben von immergrünen Ranken befand sich der Eingang zu einer finsteren Höhle. Als Gerda näher trat, konnte sie erkennen, dass der Weg hinter diesem Eingang nicht etwa waagerecht in den Berg hinein verlief, vielmehr blickte sie in eine bodenlose Öffnung. Das Licht verlor sich schon nach weniger als vier Fuß, so dass man die Tiefe des Loches nur erahnen konnte. Und doch war dies Gerdas einzige Chance den Dorfbewohnern zu entkommen. Ohne nachzudenken und ohne zu zögern sprang sie in die Dunkelheit. Es schien ihr, als fiele sie endlos lange, in Wirklichkeit waren es jedoch höchstens zwölf Fuß, wie sie erkennen konnte, als sie nach oben blickte, wo sich gegen das Sonnenlicht die wutverzerrten Gesichter der Kriegerinnen abzeichneten. Rasch sprang Gerda auf und floh in die Finsternis des Ganges, der sich vor ihr auftat. Nach wenigen Schritten blieb sie stehen. Ihr war, als hätte sie ein Geräusch gehört. Angestrengt lauschte sie, alle Sinne bis zum äußersten gespannt. Und richtig, da war es wieder. Der Klang kurzer, schneller Schritte und dann unvermittelt, direkt vor ihr ein klägliches maunzen. Überrascht beugte sich Gerda nach unten und ihre tastenden Hände bekamen weiches Fell zu spüren.
„Da bist du ja wieder. Du hast wohl ein schlechtes Gewissen, weil du mich in diese Lage gebracht hast? Willst du mir den Ausgang zeigen?“
Die Antwort bestand aus einem wohligen Schnurren. Vorsichtig setzte Gerda den Kater auf den Boden.
„Dann führe mich hinaus.“
Es fiel ihr nicht