Andreas Zenner

GMO


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in den durchsichtigen Plastikschlauch. Auf der nackten Brust klebten vier Pads, die mit einem Monitor verbunden waren, auf dem sich eine oszillierende Kurve abbildete. In der Nase zwei Schläuche für den Sauerstoff.

      „Vater?“, flüsterte Heinrich. Erschrocken stellte er fest: wie alt der Vater seit seinem letzten Besuch geworden war, graue Stoppeln im Gesicht, hohlwangig. Der Alte öffnete mühsam die Augen.

      „Heinrich“, flüsterte er, „schön.“ Das Sprechen strengte ihn an. Heinrich legte sein Ohr dicht an den Mund des Vaters.

      „Mein Sohn.“ Heinrich fasste die Hand des Vaters, streichelte sie hilflos.

      „Ich bin gekommen, so schnell ich konnte.“

      Der Vater nickte kaum merklich.

      „Wie geht es dir?“ Der Vater schloss die Lider, jedes Wort, jede Geste erschöpfte ihn, die Hand hing schlaff herunter. Unter der durchscheinenden Haut schimmerten blau die Venen.

      „Ich habe keine Angst mehr“, flüsterte der Vater. „Ich wollte dich noch einmal sehen, bevor es zu Ende geht.“

      „Unsinn“, versuchte Heinrich ihn aufzumuntern und empfand wie sinnlos seine Worte waren.

      „Es ist gut so, ich habe mein Leben gelebt. Nur für dich habe ich zu wenig Zeit gehabt“, raunte er.

      „Du hast getan was du konntest.“

      Der Vater war zu schwach um zu widersprechen.

      „Hast du Schmerzen?“

      Er bewegte den Kopf ein wenig, verneinend.

      „Sie pumpen mich mit Morphium voll.“

      Davon verstand Heinrich nichts. Er spürte, der Vater tat ihm unendlich leid. Gerne hätte er etwas für den Vater getan, doch es gab rein gar nichts was er hätte erledigen können. Diese Erleichterung, diese Flucht, diese Beruhigung des Gewissens war ihm nicht vergönnt.

      „Das ist das Schwerste, da zu sitzen und nichts tun zu können, gar nichts. Das auszuhalten ist furchtbar“, dachte er.

      Der Alte öffnete die Augen.

      „Wo ist Michelle?“

      „Sie kommt später.“

      „Weißt du, wir haben uns nicht gut verstanden in letzter Zeit. Sie war zu jung für mich.“

      Was hätte Heinrich dazu sagen sollen.

      „Ich war ihr zu nichts nütze“, wisperte er. „Es ist das Beste, ich gehe.“

      „Sag nicht so was, du wirst wieder gesund“, sprach Heinrich ihm halbherzig Mut zu und ahnte, seine Worte klangen falsch.

      „Wenn ein Mensch stirbt, spürt man das“, dachte Heinrich, genauso war es bei der Mutter gewesen.

      „Erinnerst du dich manchmal an deine Mutter?“, ächzte der Vater als hätte er das Stichwort aufgenommen. Heinrich nickte und seine Augen schwammen im Wasser.

      „Sie hat uns viel zu früh verlassen. Das war nicht gut, gar nicht gut.“ Tränen rollten über die eingefallenen stoppeligen Wangen des Vaters.

      „Ich habe sie geliebt. Sie war die einzige, die ich wirklich geliebt habe. Michelle, das war nur Sex und nicht einmal mehr das, in letzter Zeit.“

      „Hättest du mir das nicht früher sagen können, es hätte mir so geholfen“, murmelte Heinrich. Dem Vater fielen vor Erschöpfung die Augen zu. Heinrich griff in die Brusttasche, fingerte das Hochzeitsbild seiner Eltern heraus, drückte es dem Vater in die Hand.

      „Was ist das? Zeig es mir, meine Hand ist zu schwach.“

      Heinrich hielt ihm das verblichene Foto dicht vor das Gesicht. Der Vater warf einen Blick darauf, brauchte eine Weile, bis er die Gestalten erkannte.

      „Sara, geliebte Sara“, hauchte er. Mit zitternden Fingern fasste er das Bild und presste es auf die nackte Brust. Ein kaum hörbarer Seufzer entrang sich seiner Kehle.

      „Danke, mein Sohn, danke.“ Kraftlos schwieg er. Es sah aus als schliefe er. Die Sonnenstrahlen wanderten die Wand entlang, spiegelten sich im Glas eines Bildes, es zeigte ein Farmhaus, tanzten auf dem blank gewienerten Linoleum. Im Krankenzimmer herrschte gespenstische Stille, einzig die keuchenden Atemzüge des Vaters wehten durch den Raum. Von draußen schwappte das Leben herein, das aufgeregte Tschilpen der Spatzen, das Schmatzen der Reifen vorüberfahrender Autos. Heinrich fühlte sich dem Vater innig verbunden. Er hielt die kalte Hand, drückte sie leicht. Er erwartete kein Gespräch. Lange Zeit blieben sie stumm und die Stille hatte etwas Tröstliches. Schließlich öffnete der Vater erneut die Augen. Heinrich sah, wie schwer es ihm fiel.

      „Wie geht es Cielo“, röchelte er, „wo ist sie?“

      „Ich hielt es für besser sie nicht mitzubringen. Ich dachte ihr versteht euch nicht. Ich wollte dich nicht aufregen.“

      Der Alte verzog unwirsch den Mund.

      „Das ist lange her, ich hätte gerne Enkelkinder gesehen.“

      „Du hast zwei Enkelkinder.“

      „Diese verzogenen Bälger“, stöhnte er missbilligend. „Mit deiner Mutter, das war etwas anderes.“ Er umklammerte das Foto. Kraftlos fielen ihm die Augen zu. Sein Atem ging stoßweise. Die Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Heinrich schien es, als gruben sich die Falten im Gesicht des Vaters von Minute zu Minute tiefer ein. Es setzte eine Schnabeltasse an die Lippen des Vaters, die ausgetrocknet und spröde waren.

      „Trink etwas.“ Einige Tropfen rannen in seinen Mund, er schluckte mühsam. Die Tropfflasche war ausgelaufen und Heinrich klingelte nach der Schwester. Den Knebel selbst zuzuschieben wagte er nicht. Es dauerte eine Weile bis die Schwester kam, die Tropfflasche wechselte. Sie hantierte laut, sprach den Vater an.

      „Na, Mr. Gerstone, schön dass Ihr Sohn Sie besucht.“

      Der Vater reagierte nicht. Mit einem Achselzucken verließ sie das Zimmer, gab dem Schweigen Raum. Zeit spielte keine Rolle mehr. Heinrich wusste nicht, war er eine Stunde zu Besuch oder waren es nur Minuten. Er hing seinen Gedanken nach, versuchte sich an die wenigen glücklichen Momente, die er mit dem Vater verbracht hatte, zu erinnern, doch so sehr er sich auch marterte, ihm fiel nichts ein. Stattdessen sah er vor seinem geistigen Auge die Mutter. Sie saß lachend auf der Schaukel im Garten und Heinrich versuchte sie mit seinen schwachen kindlichen Kräften an zu schubsen.

      „Seltsam“, dachte Heinrich, „all die Angst, all der Groll, den er dem Vater gegenüber gehegt hatte, waren mit einem Male verschwunden. Er fühlte nur dieses zarte Band der Verbundenheit mit dem Vater und er war froh an seiner Seite zu sein, diese Aussöhnung in seinem Herzen vollziehen zu können. Als spüre der Vater seine Gedanken, öffnete er mühsam die Augen.

      „In meinem Schreibtisch“, presste er mit letzter Anstrengung heraus, „liegt ein Päckchen in grauem Packpapier. In der obersten Schublade.“ Er musste keuchend einen Moment innehalten. „Ich möchte, dass du das an dich nimmst.“

      „Aber“, wehrte Heinrich ab, „Michelle…“

      „Darauf hat sie kein Recht, darauf nicht.“ Er rang nach Luft, regte sich auf.

      „Ich rede mit ihr.“ Die Augen fielen ihm erneut zu und der stoßweise, gepresste Atem ging flacher. In stillem Einverständnis drückte Heinrich seine Hand. Wie gerufen schwang die Tür auf und Michelle brach ein in die Stille, mit einem Schwall gespielter Fröhlichkeit.

      „Na mein Alterchen, wie geht es uns heute?“ Ihre Stimme klang eine Spur zu laut, zu aufgekratzt. Heinrich bot ihr seinen Stuhl an und sie glitt mit einer katzengleichen Bewegung an die Seite ihres Mannes. Klaus öffnete die Augen und Heinrich erschrak zutiefst, als er blanken Hass darin aufblitzen sah. Er hatte immer geglaubt, die Ehe des Vaters wäre glücklich trotz aller Streitereien. Mit einem Schlag wurde es trotz der Hitze eisig im Zimmer 013, so als wehe ein plötzlicher Frosthauch durch den Raum.

      „Vater“, dachte Heinrich. Urplötzlich erahnte