Andreas Zenner

GMO


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flüsterte er Michelle zu, froh der angespannten Situation zu entkommen. Er beugte sich zum Vater hinunter, drückte einen flüchtigen Kuss auf seine kühle Stirn.

      „Gute Besserung“, murmelte er, er glaubte seinen Worten nicht. Warum musste er sogar jetzt noch lügen? Im Herzen wusste er, dies war der Abschied. Ein Abschied für immer. Auf Zehenspitzen schlich er aus dem Krankenzimmer. Auf dem Gang holte Heinrich tief Luft, befreite seine zugeschnürte Kehle. Er trat ans Fenster, öffnete einen der Flügel, um die Sonne hereinzulassen. Stumme Tränen liefen über seine Wangen. Er schämte sich ihrer nicht.

      „Wir hätten uns noch so viel zu sagen gehabt“. Heinrich spürte schmerzlich die Endlichkeit des Lebens. Er wusste nicht wie lange er im warmen Nachmittagswind Alabamas gestanden hatte. Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, machte er sich auf die Suche nach dem diensthabenden Arzt. Er fand ihn im Wachzimmer einer der angrenzenden Stationen. Das Gesicht des jungen Doktors zeigte jene Resignation, die von Menschen ausgeht, die zu viel Leid mit ansehen müssen, dem Tod hilflos gegenüberstehen. Heinrich stellte sich vor. Der Doktor brauchte einen Augenblick bis er ihn zuordnen konnte.

      „Ach so, der Herzinfarkt“, meinte er schließlich erleichtert.

      „Kommen Sie“, sagte er, „wir nehmen einen Kaffee.“ Sie holten sich am Automaten zwei heiße Kaffee in viel zu dünnen Pappbechern. Das kochende Getränk brannte an den Fingern.

      „Wie steht es mit meinem Vater?“, drängte Heinrich.

      „Ich glaube nicht, dass wir ihn retten können“, informierte der Arzt geschäftsmäßig.

      „Wie lange noch?“

      „Das weiß kein Mensch. Sehen Sie, es ist nicht der Herzinfarkt, der ihn umbringt, sondern dieser tödliche Herz-Kreislaufkollaps. Wir tun unser Möglichstes.“

      „Wie konnte das passieren?“

      „Wir wurden zu Ihrem Vater gerufen, die Diagnose Herzinfarkt war schnell gestellt. Er lag nackt auf dem Bett. Wie in diesen Fällen üblich bekam er sofort Nitroglycerin. Doch sein Zustand verschlechterte sich daraufhin dramatisch. Ein Wunder, dass es der Sanitätswagen bis ins Krankenhaus geschafft hat. Zunächst konnten wir uns diese Komplikation nicht erklären. Aber eigentlich kann es nur einen Grund für diesen Kollaps geben. Ihr Vater muss vor dem Infarkt Sildenafil genommen haben.“

      Heinrich sah den Arzt verständnislos an. Verlegen nestelte der an seiner Kitteltasche.

      „Na, Viagra eben. Ihr Vater muss kurz vor dem Infarkt eine größere Menge Viagra eingenommen haben.“

      Heinrich starrte sein Gegenüber ungläubig an.

      „Wissen Sie“, meinte der Doktor, „Nitro und Sildenafil ist eine tödliche Mischung. Was hätten wir tun sollen? Hätten wir kein Nitro gegeben, wäre er mit ziemlicher Sicherheit am Infarkt gestorben.“

      Heinrich verstand schlagartig, sah die Szene vor sich, sah den Vater, der wieder getrunken hatte, der wie so oft Viagra genommen hatte und der dann in Michelles Schlafzimmer getaumelt war.

      „Tut mir leid“, sagte der Arzt und sah auf den Boden.

      „Wie lange noch?“

      Der Mediziner zuckte die Achseln.

      „Wir konnten ihn nicht stabilisieren. Kein gutes Zeichen. Wenn nicht ein Wunder geschieht...“ Er brach ab. „Vielleicht einen Tag, vielleicht eine Woche, wie gesagt, wir tun unser Möglichstes.“

      „Danke.“

      „Ich muss weiter“, sagte der Arzt und versuchte seiner Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben. Heinrich sah, wie schwer es ihm fiel ruhig zu bleiben. Verlegen reichte er ihm die Hand. Das Gespräch war beendet. Benommen irrte Heinrich durch die Gänge, fand sich eher zufällig vor 013 wieder. Michelle wartete schon.

      „Und?“

      „Ich kann jetzt nicht darüber reden.“ Sie drang nicht in ihn.

      „Lass uns gehen“, sagte sie heiser. Schweigend stiegen sie in ihren Wagen. Michelle kurbelte das Verdeck herunter. Der Wind zauste ihre schwarzen Haare.

      „Er hat es dir gesagt?“, fragte sie. Heinrich nickte. Schweigend fuhren sie durch die anbrechende Dämmerung. Heinrich beobachtete sie verstohlen von der Seite. Ihr Gesicht unbewegt, versteinert.

      „Wir hatten uns schon lange nichts mehr zu sagen“, meinte sie mit teilnahmsloser Stimme. „Vielleicht ist es besser so.“

      „Er ist nie über den Tod von Mutter hinweg gekommen“, dachte Heinrich. Der Gedanke tröstete ihn nicht.

      „Es tut mir leid“, flüsterte er kaum hörbar.

      „Ich glaube, er war nie glücklich hier“, bemerkte Michelle, „je erfolgreicher ich wurde, desto mehr zog er sich zurück. Irgendwann konnte ich seine ständige Trinkerei nicht mehr ertragen, schon der Geruch nach Whiskey ekelte mich. Wenn er betrunken war, kam er zu mir, wollte mit mir schlafen. Gott, wie habe ich es gehasst. Mit den Jahren ging gar nichts mehr. Ich meine, er hat keinen mehr hoch gebracht. Er war schwach, dafür habe ich ihn verabscheut.“

      Dieses Gefühl kannte Heinrich gut. Sie bogen in die Allee ein, die zum Farmhaus führte. Es war alles gesagt. In der dämmerigen Empfangshalle nahm ihn Michelle in den Arm und er ließ es widerstandslos geschehen.

      „Ich habe ihn geliebt, damals in Coronado“, flüsterte sie, „das musst du mir glauben.“

      Sie machte sich los und ging auf ihr Zimmer. Heinrich blickte ihr nach, sah wie sie kerzengerade die Treppe emporstieg. Sie drehte sich nicht um.

      Wind kam auf und schüttelte die Bäume. In der Ferne braute sich ein Gewitter zusammen.

      Sie aßen gemeinsam zu Abend. Eduard kam mit seiner Familie herüber. Wahrscheinlich kann seine Frau nicht kochen, meinte Michelle gehässig. Die Kinder seines Bruders erwiesen sich, wie befürchtet, als unerzogene Bälger und Heinrich musste an sich halten, um nicht mit der Faust auf den Tisch zu schlagen oder laut zu brüllen. Sie rannten während des Essens um den Tisch, schrien laut und stritten. Das jüngere stieß mutwillig ein Glas mit Johannisbeersaft um. Die rote Flüssigkeit bildete einen hässlichen Fleck auf dem weißen Damast-Tischtuch. Tom, der Butler, schickte einen verzweifelten Blick zur Decke. Endlich ging das unerfreuliche Essen zu Ende. Sie saßen auf der Veranda, schlürften einen Bourbon mit Eiswürfeln. Die Kinder tobten durch den Garten, unüberhörbar ihr Gekreische. Michelle wippte in einem gedrechselten Schaukelstuhl, starrte geistesabwesend in die Ferne. Heinrich beobachtete verstohlen die Frau seines Bruders. Eine nichtssagende Person, jung zwar, aber mit einem Hang zum Ordinären. Ihr Kleid ein wenig zu kurz, zu bunt und der Ausschnitt so tief, dass er mehr zeigte als verbarg. Sie plauderte ungeniert über die geschmacklosen Nachbarn, beschwerte sich über die hohen Preise für Rindfleisch und schimpfte ohne Scheu über die Faulheit ihres Mannes. Schließlich hielt es Eduard nicht mehr aus und er brüllte sie an.

      „Halt dein ungewaschenes Maul.“

      Beleidigt drehte sie sich weg. Heinrich berührte der Auftritt peinlich und er sehnte sich nach Cielo, nach zuhause nach Ruhe und Frieden. Michelle unterbrach die kurze Stille.

      „Wie lange kannst du bleiben, Heinrich?“

      Darüber war er sich selbst nicht im Klaren. Gewiss wollte er nicht lange bleiben, die angespannte Situation im Hause des Vaters bedrückte ihn. Er überlegte ob er für den Vater noch etwas tun könnte. Ihn vielleicht beim Sterben begleiten? Aber das konnte lange dauern, wie der Arzt meinte. Seinen Frieden mit dem Vater hatte er gemacht. Müsste er ein schlechtes Gewissen haben, wenn er nicht länger bliebe?

      Dicke schwarze Wolken schoben sich über den Nachthimmel, verteilten ihre Regenfracht über das Land.

      „Ich wollte morgen zurück“, sagte er zögerlich. „Ich habe einen wichtigen Auftrag und bin unter Zeitdruck, außerdem habe ich Cielo versprochen, sie zum Arzt zu begleiten.“

      Das entsprach nicht der Wahrheit. Er gestattete sich die kleine Notlüge. Wurde es dadurch nicht einfacher für alle? Zumindest