Andreas Zenner

GMO


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können verheerend sein. Die Bauern verlieren durch Terminatorpflanzen grundlegende Rechte, vor allem ihr Grundrecht auf die Wiederverwertung ihres Saatgutes. Speziell für die armen Landwirte in Afrika oder Asien ist jedoch der Kauf von Saatgut mit einer Verschuldungsspirale verbunden, die schon während der grünen Revolution Millionen von Kleinbauern in den Ruin trieb. Die Durchsetzung von Terminatorsaatgut in diesen Ländern – und niemand wird ernsthaft bestreiten, dass die Konzerne die Macht haben, diese Technologie auf den Märkten durchzusetzen – würde diese Entwicklung weiter forcieren und festschreiben.

       Doch nicht nur Bauern, die Terminatorsaatgut kaufen, sind bedroht. Denn zusätzlich kann es durch Pollenflug oder Insektenbestäubung zu Kontaminationen von Feldern unbeteiligter Nachbarn kommen. Deren Pflanzen werden dann ebenfalls steril. Bauern, deren Felder verunreinigt wurden, können diese Auskreuzung allerdings erst nach der folgenden Aussaat feststellen, wenn ihr Saatgut nicht mehr keimt. Für die Ernährungssicherheit, speziell in Ländern der Dritten Welt, bedeuten Ernteausfälle jedoch eine schwerwiegende Bedrohung für die gesamte Bevölkerung.

      Heinrich faltete das Blatt sorgfältig zusammen. Er nahm sich vor, den Artikel Cielo zu zeigen.

      Die Stimme aus dem Lautsprecher klang blechern, als sie seinen Flug aufrief. Heinrich erhob sich zögernd und ging nachdenklich zur Abfertigung. Mit jedem Schritt ließ er die bedrückenden Ereignisse in Selma ein Stück weit hinter sich und als er auf das Flugfeld trat, atmete er mit einem Seufzer tief durch. Es war überstanden. Er freute sich auf ein Wiedersehen mit Cielo, ihre Liebe, besonders den Sex mit ihr, den er nach dieser Nacht schmerzlich vermisste. Sie waren gerade mal achtundvierzig Stunden getrennt. Nach dem Start fiel er in einen dämmerigen Schlummer. Die fehlende Nachtruhe zehrte an seinen Kräften. Betäubt erwachte er, als sie zum Landeanflug auf Dallas ansetzten. Dort hatte er nur wenige Minuten Aufenthalt, den er nutzte, um Cielo anzurufen und ihr seine Ankunftszeit mitzuteilen.

      „Natürlich hole ich dich ab“, lachte sie.

      Heinrich freute sich. Er überlegte ob er Cielo von der Nacht in Selma erzählen sollte. Er entschloss sich, die Affäre für sich zu behalten. Die Boeing 747 nach San Diego war um die Mittagszeit nur halb besetzt. Schlafen konnte Heinrich nicht mehr. Die Zeitung war gelesen und aus dem Kabinenfenster konnte er unter den leichten Schleierwolken nicht viel erkennen. Er kramte in seiner Reisetasche. Der grau verpackte Gegenstand, das Geschenk seines Vaters fiel ihm wieder ein. Der Bindfaden – wer verwendet heute noch einen Bindfaden, heute verwendet jedermann Klebestreifen – verblichen. Die Knoten sorgfältig geknüpft, alles sehr akkurat, sogar die Knicke im Papier schön altmodisch. Das sah nicht nach Vaters Werk aus. Diese Mühe hätte er sich als praktisch denkender Mensch nicht gemacht. Sein Fach war die rationelle Technik, das Feingeistige lag ihm fern. Oder sollte er sich getäuscht haben? Immerhin spielte der Vater früher ab und zu auf dem alten Klavier das in einer Ecke des Wohnzimmers stand. Vorsichtig löste Heinrich die Knoten, das dauerte eine Weile. Er fühlte sich an die Weihnachtstage seiner Kindheit erinnert. Auch seine Mutter verpackte die Geschenke immer liebevoll in buntem Papier. Natürlich riss Heinrich die Hüllen gleich auf, denn er hielt es vor Neugier kaum aus. Viel später erst erkannte er, die Freude des Auspackens ist oft schöner als das eigentliche Geschenk. Heinrich rollte den Bindfaden um die Finger. Behutsam faltete er das steife graue Packpapier auf und hielt ein Büchlein im Quartformat in Händen, gebunden in dunkelrotem verblichenem Leder mit einer grün verfärbten Schließe. Heinrich betrachtete es neugierig von allen Seiten. Das Buch mochte gut achtzig bis neunzig Jahre alt sein. Die Ecken abgestoßen und der einst glänzende Goldschnitt verschossen. Er schob den Messingknopf des Schlosses zurück und öffnete die Schnalle. Die Innenseiten des Einbandes waren mit rotem Seidenstoff gefüttert und die erste Seite in der dazu passenden Farbe bedruckt. Diese Mühe machte sich heute kein Buchbinder mehr.

      Mit Gold die Lettern in altmodischer Schrift geprägt.

       Tagebuch

      Darunter in fein ziselierter Sütterlinschrift mit dunkelblauer Tinte:

       Gero von Gerstein

      Weiter unter, ebenfalls goldgeprägt ein Hakenkreuz, nochmals darunter eine flüchtig hingekritzelte Unterschrift. Erschrocken klappte Heinrich das Buch zu. Hoffentlich hatte keiner der Sitznachbarn gesehen, was er da in der Hand hielt. Offensichtlich handelte es sich um ein Relikt aus der Nazizeit und sogar sechzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches war es riskant, in Amerika mit so etwas gesehen zu werden. Was hatte dieses Buch mit ihm zu tun, mit ihm, Heinrich Gerstone? Er wickelte das Buch rasch wieder ins Packpapier und verstaute es unauffällig in seiner Reisetasche. Man konnte ja nie wissen. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. Irgendwann hatte der Vater angedeutet, seine Vorfahren stammten aus Deutschland, aber er ließ sich auf keinerlei weitere Erklärungen ein und Heinrich fragte nicht nach. Zu sehr beschäftigten ihn seine täglichen Aufgaben. Welches Geheimnis barg das Buch? Warum wollte der Vater, dass ausgerechnet er es bekäme. Heinrich fand keine Antwort und es schien ihm nicht wichtig genug um weiter darüber nachzudenken. Den Rest des Fluges döste er vor sich hin. Er freute sich nach Hause zu kommen, dort erwarteten ihn genug Probleme. War da nicht dieser vermaledeite Termin beim Frauenarzt? Er wusste nicht mehr genau, wann der sein sollte. Mit gemischten Gefühlen sah er dem Zeitpunkt entgegen. Für einen Mann ist schon der Gedanke an einen Besuch bei einem Gynäkologen unangenehm. Er malte sich die vielen wartenden Frauen am Empfang aus, die ihn neugierig anstarrten. Seinem Gefühl nach schien dieser Bereich etwas Verbotenes an sich zu haben. Etwas Intimes, was nur Frauen anging und zu dem Männer keinen Zutritt hatten. Aber es musste sein, Cielo zuliebe. Das Flugzeug setzte zur Landung an. Links lag Coronado, Heinrich konnte es genau erkennen, von oben zeigten sich die geometrischen Muster der Gebäude klarer als unten auf den Straßen. Als berufsmäßiger Architekt betrachtete er aufmerksam die Strukturen und was er sah jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein. Der Verwaltungsbau des Naval Basis Gebäudes entsprach einer indischen Swastika, jenem uralten Glückssymbol, besser bekannt als Hakenkreuz. Heinrich warf sich in den Sitz zurück kniff die Augen zu. Ein Zeichen, fragte er sich erschüttert. Natürlich konnte es bloßer Zufall sein. Heinrich glaubte nicht an Zufälle. Die Maschine landete hart auf dem Rollfeld, rumpelte zum Gate.

       Coronado

      „Bitte bleiben Sie solange angeschnallt, bis wir unsere endgültige Parkposition erreicht haben. Wir danken Ihnen, dass Sie mit US Airways geflogen sind und wünschen Ihnen einen guten Nachhauseweg“, tönte es aus den Bordlautsprechern. Kaum stand das Flugzeug drängten die Passagiere durch den engen Gang zur Kabinentür. Heinrich, einer der letzten, ergriff seine Reisetasche und schwankte, ganz in Gedanken, hinaus. Endlose Förderbänder schoben ihn in die Ankunftshalle. Hinter der Glaswand lehnte Cielo im bunten Sommerkleid und winkte. Er schloss sie innig in die Arme, drückte sich dicht an sie, presste seine Lippen auf ihren Mund wie ein Ertrinkender.

      „Na, na“, spottete sie schelmisch, „du Weltreisender, das fühlt sich an, als wärst du eine Ewigkeit weg gewesen.“

      Heinrich antwortete gedankenverloren:

      „Mir kommen die zwei Tage wie Jahre vor.“

      Er legte den Arm um ihre bloßen Schultern und gemeinsam suchten sie das Auto im Parkhaus.

      „Wie geht es deinem Vater?“, wollte sie wissen, als sie den North Harbor Drive hinunterrollten.

      „Nicht gut, es sieht so aus als läge er im Sterben. Der Arzt hat mir nicht viel Hoffnung gemacht.“

      „Du Armer“, sagte sie mitfühlend und legte die Hand auf seinen Arm.

      Schweigend fuhren sie zurück nach Coronado. Cielo war klug, drängte ihn nicht. Zuhause angekommen ließ Heinrich die Reisetasche achtlos in den Gang fallen.

      „Ich gehe in den Garten“, murmelte er.

      Sie nickte, „Ruh dich aus, ich mache das Abendessen.“

      Durch die Halbgardinen des Küchenfensters sah sie ihren Mann auf der Schaukel sitzen und leicht hin und her wippen. Den Kopf an das Seil gelegt, starrte er in die Ferne.

      „Es hat ihn mitgenommen“, dachte