Andreas Zenner

GMO


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warum hat er mich alleine gelassen, wir hätten es so gut haben können. Es kommt mir vor wie seine späte Rache.“

      Merkwürdig dachte Heinrich, der Vater musste erst sterben, bis sie erkannte wie gerne sie ihn trotz allem gehabt hatte. Er spürte keine Trauer. Er glaubte Abschied genommen zu haben. Vielleicht brauchte es Zeit, bis sich die Trauer in sein Herzen fraß.

      „Ich öffnete das Fenster“, schluchzte Michelle. „Draußen dämmerte ein klarer, kühler Morgen. Weißt du, ich habe mir eingebildet, ich könnte seiner Seele den Weg freimachen, nach oben. Du verstehst.“

      Heinrich fühlte ein Würgen in der Kehle, dann liefen die Tränen. Sie konnten beide nicht weiter sprechen. Cielo schlüpfte geräuschlos ins Zimmer. Sie strich Heinrich tröstend durch das Haar, lehnte sich an ihn.

      „Ist er…?“, wisperte sie.

      Heinrich nickte.

      „Wo willst du ihn beerdigen“, fragte er und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg.

      „Ich dachte, wir legen ihn in unser Familiengrab in Selma“, weinte Michelle. „Dann kann ich ihn wenigstens besuchen.“ Heinrich stimmte zu. Er brachte es nicht über das Herz, ihr zu sagen, dass der Vater seinem Gefühl nach neben seiner ersten Frau begraben werden sollte, die er bis in den Tod geliebt hatte. „Jetzt sind sie wieder vereint“, fuhr es ihm durch den Kopf und der Gedanke hatte etwas Tröstliches. Da schien es letztendlich gleichgültig, wo die sterbliche Hülle des Vaters ruhte.

      „Kann ich etwas für dich tun?“

      „Ich glaube nicht“, und sie machte einen erneuten Versuch. „Du kommst doch?“, bat sie zögernd.

      „Ich weiß nicht, ich bin durcheinander, lass mir Zeit.“

      „Ich verstehe“, flüsterte sie.

      „Gib mir Bescheid, wann die Beerdigung ist.“

      Michelle schwieg, sie ahnte, er hatte nicht vor zu kommen.

      „Ich sage dir Bescheid.“

      „Kann ich noch etwas tun?“, wiederholte er sich.

      „Ich glaube nicht“.

      „Ich denke an dich“, sagte er und versuchte so viel Wärme in seine Worte zu legen, wie es ihm möglich war. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Es fiel ihnen schwer, den Hörer aufzulegen.

      „Ruf an, wenn du etwas brauchst.“

      „Ja“, entgegnete sie fast unbeteiligt.

      „Also dann“, murmelte Heinrich und legte auf. Er kam sich abscheulich vor. Cielo umarmte ihn wortlos, hielt ihn fest. Lange. Er legte seinen Kopf auf ihre Schulter, weinte still vor sich hin.

      Leb wohl, Klaus Gerstone, dachte Heinrich. Er versuchte sich die längst vergangenen glücklichen Tage mit dem Vater in Erinnerung zu rufen. Als er, ein kleiner Junge noch, mit dem Vater durch den Garten tollte, die Mutter lächelnd und zart auf der Veranda. Doch die Bilder verblassten bereits und bestürzt erkannte Heinrich, er konnte die Erinnerungen nicht festhalten. Cielo bedrängte ihn nicht, sie spürte, sie musste ihn in seinem Schmerz alleine lassen. Heinrich schleppte sich in den Garten, wie betäubt setzte er sich in einen der weißen Korbsessel und versuchte verzweifelt seine Erinnerungen in einen Winkel seines Herzens zu packen, um sie auf ewig zu bewahren. Es glückte ihm nicht, wie es niemandem gelingt. Mit dem Tod setzte nicht nur der Zerfall des Körpers ein, sondern auch der der Erinnerungen und das war gut so. Heinrich suchte sich das Gesicht der Mutter, des Vaters ins Gedächtnis zu rufen, die Bilder glichen verblassten Fotografien, die Figuren unscharf, die Farben verblichen. Das Gedenken an die Eltern trieb ihn aus dem Haus. Cielo fuhr schweren Herzens in den Supermarkt, einkaufen. Sie wusste, sie konnte ihm nicht helfen. Unbewusst wählte er den Weg zum Friedhof, der stille Ort schien ihm passend seiner Eltern zu gedenken. Mit gesenktem Kopf stand er am Grab der Mutter, die Hände zum Gebet gefaltet, hielt er stumme Zwiesprache mit den beiden. Viel hätte es noch zu sagen gegeben. Dafür war es jetzt zu spät.

      Wie wenig uns bleibt, sinnierte Heinrich, ein Brief, eine Fotografie, ein Geruch der uns an die Kindheit erinnert, und zuletzt ein bemooster von Efeu umrankter Stein auf einem verwilderten Friedhof. Blass blühende Rosen mit verwelkten Blüten standen neben dem verwitterten Stein. Die Blütenblätter rieselten auf den kaum erhabenen Hügel, ein Windstoß trug sie fort zum nächsten Grab und zum nächsten bis sie sich im Windschatten zu kleinen vertrockneten Häufchen sammelten. Heinrich spürte die bittere Endlichkeit seines Daseins. Würde später ein Kind Blumen auf sein Grab legen? Ihre Kinderlosigkeit schmerzte in diesem Augenblick besonders. Es wurde Zeit, etwas zu unternehmen. Der Gedanke ohne Kinder sterben zu müssen schreckte ihn. Es blieb keine Spur seines Lebens zurück. Bis jetzt hatte er sich damit getröstet, dass die von ihm erbauten Häuser sein Vermächtnis darstellten. Allein diese waren tot, errichtet aus Steinen, Beton, Glas und Stahl, nicht lebendig wie ein Mensch. Nur ein Kind konnte Erinnerungen weiter tragen, liebevolle als auch hässliche. Ein Kind konnte die Träume und Sehnsüchte der Eltern aufgreifen, weiterspinnen und vielleicht zu einem guten Ende bringen. Oder sie zumindest an seine Kinder weitergeben. Heinrich fühlte den ununterbrochenen Strom der Liebe, der sich von Generation zu Generation zog, genauso wie die Last angehäufter Schuld. Gedankenverloren schritt er durch die Mittagshitze nach Hause.

      „Möchtest du etwas essen?“, fragte Cielo feinfühlig. Heinrich schüttelte den Kopf und zog sich stumm ins kühlere Arbeitszimmer zurück. Er kramte in einer Schreibtischschublade, fand in der hintersten Ecke eine verstaubte Musikkassette. Sie stammte aus einem Anrufbeantworter, die Mutter hatte sie einst besprochen. Er legte sie in die Stereoanlage, drückte den Abspielknopf und schloss die Augen.

      „Hier ist die Familie Gerstone, wir sind nicht zuhause. Sprechen Sie bitte ihre Nachricht auf das Band, wir rufen Sie zurück sobald es uns möglich ist“, hallte die Stimme der Mutter wie aus einer anderen Welt aus den Lautsprechern. Wieder und wieder spielte Heinrich das kurze Tonstück ab. Er fühlte sich grenzenlos einsam. Tränen rannen über sein Gesicht, er bemerkte sie nicht. Allein der Tod der Mutter lag zu weit zurück, um ihn noch spürbar zu rühren. Aber das Gefühl entsetzlicher Leere, gottverlassener, furchtbarer Vereinsamung blieb. Waren nicht alle seine Vorfahren ähnlich einsam gewesen? Sein Vater sicher. Und der Großvater? Heinrich wusste es nicht. Doch da lag das Tagebuch. Ergriffen las er abermals den Brief des Vaters. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Eine Träne tropfte auf das Papier, mit der Handkante versuchte Heinrich sie wegzuwischen, dabei verschmierte die Tinte. Wie schnell verblasst sogar dieses letzte Vermächtnis, dachte er wehmütig. Er legte den Brief zurück auf den Tisch, in die Sonne zum Trocknen. Das abgegriffene Leder des roten Tagebuches schimmerte matt im Licht, lud ihn ein, einen Blick hinein zu werfen. Nein, nicht jetzt, dafür war nicht der richtige Zeitpunkt. Die Trauer um den Vater forderte sein ganzes Sinnen. Andererseits, vielleicht stand etwas über den Vater in diesem Tagebuch, etwas über dessen Kindheit, die Großmutter, über die der Vater nie gesprochen hatte. Über den Großvater, der in ihrer kleinen Familie totgeschwiegen wurde. Und der trotzdem unsichtbar unter ihnen weilte, ihr Denken und Handeln beeinflusste. Menschen fallen nicht ins Vergessen, weil niemand über sie spricht, im Gegenteil, sie gewinnen eine unheimliche Macht. Häufig bestimmen sie unbewusst das Schicksal der Kinder und Kindeskinder.

      So wird Leid und Schuld weitergegeben, von Generation zu Generation, fuhr es ihm durch den Kopf. Was immer an Schrecklichem gewesen ist, dachte Heinrich, weglaufen half nicht. Er musste sich der Geschichte seiner Familie stellen.

      Zögernd, mit ängstlicher Scheu griff er nach dem Tagebuch. Er schlug die erste Seite auf. Da prangte es, das grünstichige, goldgeprägte Hakenkreuz, darunter die krakelige, verschossene, blaue Unterschrift. Heinrich versuchte die Buchstaben zu entziffern. Er konnte ein großes A erkennen und ein H, der Rest in altmodischer Schrift für ihn nicht lesbar. Er blätterte um und begann die Aufzeichnungen zu studieren. Die Schrift des Großvaters gestochen scharf, klein und ausgeprägt. Heinrich bemerkte, es handelte sich nicht um ein Tagebuch im eigentlichen Sinn. Die Datumsangaben fehlten häufig, auch gab es nicht für jeden Tag einen Eintrag, vielmehr handelte es sich um Notizen zu wichtigen, prägenden Ereignissen im Leben des Großvaters. Schade, gerade die kleinen Dinge des