Andreas Zenner

GMO


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mit diesem seltsamen Buch? Warum wollte der Vater, dass gerade er es bekam? Beim planlosen Blättern fiel ihm ein vergilbter Brief entgegen. Zögernd drehte er ihn hin und her, das Kuvert unverschlossen, die Klappe lose eingesteckt. Auf dem Umschlag mit Tinte die ausgeprägte Schrift des Vaters. Er erkannte sie auf Anhieb.

       Für Heinrich

      Mit spitzen Fingern zog er den Brief aus dem Kuvert, faltete ihn auf und las.

       Mein lieber Heinrich,

       ich möchte, dass du dieses Tagebuch deines Großvaters bekommst. Vieles, was du darin lesen wirst, wird dich zutiefst erschrecken. Es ist ein, wenn auch grauenhafter, Teil der Geschichte unserer Familie. Bevor du verurteilst, bedenke bitte in welcher Zeit es entstand. Die Aufzeichnungen werden für dich möglicherweise nicht mehr nachempfindbar sein, ja, ich befürchte das meiste wird dich abstoßen. Mich hat dieses Geheimnis unserer Familie ein Leben lang gequält. Ich bin sicher nicht abergläubisch aber vielleicht musste ich auf schreckliche Weise einen Teil der Schuld meines Vaters durch das Unglück meines Lebens sühnen. Ich habe deine Mutter aus einem tiefen Schuldgefühl heraus geheiratet. Daraus wurde Liebe. Sie litt unter ihrer Vergangenheit und ich glaube heute, dieses Wissen hat sie letztendlich umgebracht. Mein Vater hat das nie verstanden und er hat mich wegen dieser Ehe gehasst. Bis zu seinem Tod empfand er keine Reue. Er starb einsam, denn ich brachte es nicht über das Herz, ihm zu verzeihen. Nun sieht es so aus, als drohe mir ein ähnliches Schicksal. Wir werden den Fluch unserer Familie wohl niemals los. Ich nicht und auch du nicht. Aber in Kenntnis unserer Vergangenheit können wir vielleicht demütig die Strafe ertragen, für die Sünden der Väter. Der Name deines Großvaters war Gero von Gerstein, er hat ihn in Amerika in Gerstone geändert aus Angst, seine Nazivergangenheit könnte ans Licht kommen. Wir haben uns diese Bürde nicht ausgesucht, aber wir werden sie mit Würde tragen.

       Ich schließe dich in die Arme.

       Dein dich liebender Vater

       Klaus Gerstone

       PS: Ich habe dafür gesorgt, dass Michelle dir dieses Tagebuch erst zukommen lässt, wenn ich diese Welt verlassen muss. Verzeih mir, dass ich nicht früher über all die grausamen Ereignisse mit dir gesprochen habe. Ich konnte es nicht.

      Betroffen lies Heinrich den Brief sinken. Sein Blick heftete sich auf das Tagebuch des Großvaters, schweifte zum Fenster und weiter aufs still liegende Meer. Er nahm all die Schönheit nicht wahr, hörte das muntere Zwitschern der Vögel nicht, sah die gleißende Sonne nicht. Mit ausdruckslosem Blick starrte er ins Nichts. In seinem Kopf schossen tausend Gedanken durcheinander. Ihm grauste, dachte er daran, was in dem kleinen unscheinbaren roten Buch für Gräueltaten beschrieben sein könnten. Der Vater hatte nur wenig angedeutet. Er wagte es nicht, das Buch mit dem eingeprägten goldenen Hakenkreuz zu öffnen, saß da, unfähig sich zu rühren und ein namenloses Grauen ergriff sein Herz. So fand ihn Cielo, die ihn zum Abendessen holen wollte, da ihr Rufen ihn nicht erreichte.

      „Was ist mit dir? Du bist ja kreidebleich.“

      „Das Tagebuch“, er deutete mit einer hilflosen Geste auf das Buch, „ist von meinem Großvater“, flüsterte Heinrich tonlos. „Er scheint ein übler Nazi gewesen zu sein.“

      Cielo fragte nicht, sie setzte sich auf die Sessellehne und legte den Arm um Heinrichs Schulter. Sie spürte, Worte waren bei der tiefen Erschütterung ihres Mannes nicht angebracht.

      „Hier“, murmelte Heinrich und reichte ihr den Brief. Sie las aufmerksam, legte dann das Papier auf den Schreibtisch zu dem roten Buch. Stumm saßen sie da, unfähig sich zu trösten. Die Zeit verrann, die Empfindung für Minuten und Stunden verwehte still.

      Ein brandiger Geruch strich ins Arbeitszimmer. Wie aus tiefer Dämmerung erwachend sprang Cielo auf.

      „Das Abendessen, ich habe das Abendessen vergessen!“ Sie stürzte in die Küche, wo die Empanadas in der Bratröhre vor sich hin kokelten, die Luft voll von beißendem Qualm. Sie kippte die Teigtaschen in den Abfall, lüftete durch. Die Bewegungen mechanisch, die Gedanken abwesend.

      Sie holten sich Burger vom Stehimbiss, sie schmeckten nicht. Zu tief saßen ihnen die Schrecken des Tages in den Knochen. Sie hockten auf der Terrasse, hielten sich an den Händen, brüteten vor sich hin, gefangen in ihren Ängsten, wie Motten in einem Spinnennetz.

      „Sollen wir das Tagebuch miteinander lesen?“, unterbrach Cielo das Schweigen. Heinrich seufzte.

      „Vielleicht hilft es mir, aber nicht heute.“ Sie drückte seine Hand. Die Nacht schickte eine frische Meeresbrise, Sterne wanderten über den samtschwarzen Himmel. Sie kauerten da, in sich gekehrt und überließen sich der wilden Flut ihrer Spekulationen. Jeder für sich alleine, sprachlos.

      Die nächsten Tage lag das Buch scheinbar unbeachtet auf dem Schreibtisch, glänzte rot in der Sonne. Ging Heinrich am Arbeitszimmer vorbei, warf er einen zögernden Blick darauf. Er vermied es, sich an den Schreibtisch zu setzen. Eine seltsame, ihm fremde Beklemmung hinderte ihn, unbefangen in dem roten Buch zu blättern. Zu bedrohlich klang der Brief des Vaters. Zudem beschäftigte er sich intensiv mit den Entwürfen für das Haus am Meer. Die Umsetzung der Wellenbewegung auf die Formen des Gebäudes erwies sich als schwierig.

      Auch Cielo klebte noch an dem mitgehörten Gespräch. Sie beobachtete mit anderen, misstrauischen Augen was bei Necosar vor sich ging. Sie fing an, heimlich offen herumliegende Schriftstücke zu lesen. Über ihre Mutmaßungen wollte sie mit niemandem reden, sie fürchtete, sich durch allzu bohrende Fragen zu verraten. Beide litten unter einer befremdlichen Spannung, die sich selbst wenn sie zusammen waren nicht löste. Ein düsterer Schatten legte sich über das Haus in der Tolita Avenue, nahm dem Sonnenlicht den Glanz. Heinrich griff jeden Abend zur Bourbonflasche, bis er erschüttert feststellte, dass er die Automatismen seines Vaters weiterlebte. Bestürzt sperrte er die Flasche weg und versteckte den Schlüssel in einer Schublade. In nüchternem Zustand wühlten seine Gedanken umso heftiger.

      Am Samstagmorgen, die beiden saßen gemütlich beim Frühstück auf der Terrasse, läutete das Telefon. Cielo ging an den Apparat.

      „Es ist für dich“, rief sie, „Michelle.“

      Heinrich ahnte, sie hatte keine guten Nachrichten für ihn. Er nahm rasch einen Schluck Kaffee, griff nach dem Hörer.

      „Michelle.“

      Er hörte ihr unterdrücktes Schluchzen. Nach wenigen Augenblicken der Sprachlosigkeit, in denen sie mit den Tränen kämpfte, fasste sie sich wieder.

      „Klaus ist heute Nacht gestorben.“

      Heinrich glaubte darauf vorbereitet zu sein, die Nachricht traf ihn trotzdem wie ein Schlag in die Magengrube. Er kannte den hoffnungslosen Zustand des Vaters, dennoch hatte er sich an die vage Hoffnung geklammert, der Vater könnte überleben.

      „Wie geht es dir?“, fragte er mitfühlend, in der Hoffnung das lähmende Schweigen zu überwinden.

      „Ich komme zurecht“, hauchte sie kaum hörbar, „es wird sehr einsam werden.“ Heinrich ahnte ihre nächste Frage, suchte verzweifelt nach einer Ausrede.

      „Kommst du zur Beerdigung?“ Ihre Stimme klang wie ein Hilferuf.

      „Ich kann nicht“, sagte er gepresst, „wichtiger Auftrag und so.“

      Er kam sich erbärmlich vor, aber er wusste, er würde keine Nacht mehr in Cahors Maison verbringen. Ihn plagte das schlechte Gewissen, weil er sich um die Bestattung herummogelte. Er hoffte inständig, der Verstorbene würde seine Beweggründe verstehen.

      „Wie ist er gestorben?“

      „Er ist friedlich eingeschlafen, das Krankenhaus hat mich angerufen: Bis ich kam, war er tot.“

      „Es tut mir leid.“

      „Er sah so friedlich aus, wie er in den Kissen lag, ohne all die Schläuche und Geräte. Fast schien er zu lächeln. Ich konnte sehen wie die Wärme aus seinem Körper wich, das Gesicht verfiel.“

      „Wenigstens