Raya Mann

Die eine wahre Liebe


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schwieg, während Eva nachdachte, und wusste, dass ich mir gleich eines ihrer Selbstgespräche anhören würde.

      „Naja. Das ist eine Klinik, kein Zweifel. Leitender Arzt, Oberarzt und Oberärztin, so etwas gibt es nur in Spitälern – Bettenhäuser übrigens auch. Das Ganze sieht nach einer typischen Klinikaufnahme aus mit allen Routineuntersuchungen. Ich frage mich, welches Fachgebiet es wohl ist. Vielleicht irgendeine Chirurgie. Etwas mit Vollnarkose vielleicht? Wirbelsäule oder Hüftgelenke zum Beispiel. Es könnte aber auch innere Medizin sein: Organtransplantation, Onkologie, Herzklinik. Es ist gewiss kein Notfall. Er spaziert herum und schreibt Mails, er raucht und unterhält sich mit anderen Patienten.“

      Eva hielt inne und ich stellte mir ihren skeptischen Gesichtsausdruck vor. Nach ihrem Medizinstudium hatte sie den Facharzt für Gynäkologie gemacht. Als sie von Fleisch und Blut, von Krankheiten und Schwangerschaften bald genug hatte, suchte sie sich eine Halbtagsstelle bei einer Versicherung, wo sie nachmittags Akten prüfte und Gutachten schrieb. Sie war also vom Fach und wusste, wovon sie sprach. Sie fuhr fort:

      „Die Sache mit dem Blutdruck verstehe ich nicht. Warum soll er steigen? Weil ein blutdrucksenkendes Medikament abgesetzt wurde? Manchmal stellt man jemanden auf neue Medikamente um, z.B. bei chronischen Schmerzen oder bei Epilepsie. Da kann man Vermutungen anstellen ohne Ende.“

      „Genau das ist es“, unterbrach ich sie.

      „Was genau ist was?“

      „Das, was du mir alles erzählt hast, von Transplantation bis Epilepsie.“

      „Dass ich alle Möglichkeiten erwogen habe?“ Unvermittelt begann Eva zu lachen: „Schon gut, Frau Professor, ich verstehe: Der Text ist das, was nicht im Text steht. Seine Bedeutung ergibt sich aus dem, was fehlt.“ Sie zitierte einen meiner Standardsprüche. Ich antwortete nicht.

      „Mal sehen, ob du von selber drauf kommst“, dachte ich.

      „Na ja. Die Mail sagt nichts darüber, weshalb und wozu dein Mann in der Klinik ist.“

      Ich schwieg beharrlich weiter. Eva lachte wieder:

      „Ich weiß etwas, was du nicht weißt!“ Sie imitierte eine Kinderstimme. Es passte ihr nicht, dass ich sie zappeln ließ.

      Nach einer Weile stellte sie ernst und ruhig fest:

      „Die Mail soll dafür sorgen, dass du dir Gedanken machst.“

      „Schön. Aber es fehlt noch etwas Anderes – das Wichtigste“, insistierte ich.

      Eva wurde ungeduldig: „Und wenn ich es nicht herausfinde?“

      „Würdest du mir in einer ähnlichen Situation eine solche Mail schreiben?“

      Eva schnaubte, was bedeutete: „Für so bescheuert hältst du mich hoffentlich nicht.“ Aber sie sprach es nicht aus.

      Ich blieb hartnäckig.

      „Wenn du es doch herausfindest?“

      „Ich würde mit dir sprechen, dich etwas fragen, dich einbeziehen und so weiter.“

      „Was fehlt folglich in der Mail?“

      „Ein Gegenüber … du kommst darin nicht vor, Raya“, antwortete Eva und der Anflug von Traurigkeit in ihrer Stimme berührte mich.

      Ich rief aus: „Diese Mail ist einfach nur eine riesengroße Scheiße. Dieser verdammte Kerl schiebt mir eine solchen Berg Scheiße hinüber.“ Meine Stimme überschlug sich.

      Eva schwieg betroffen. Nach einer Weile fragte sie leise und voll Mitgefühl:

      „Was wirst du damit tun? Mit der Mail, meine ich, und mit der Scheiße?“

      „Das frage ich mich auch.“

      „Weißt du, was ich befürchte?“

      „Ich glaube, ja. Wenn es dasselbe ist, was ich befürchte, dann weiß ich es.“

      Ich war den Tränen nahe und Eva bekam es mit.

      „Du meine Güte!“, rief sie aus. „Wenn er dir heute wieder so eine Mail schreibt und morgen auch. Du musst einen neuen Mail-Account eröffnen.“

      Ich lachte bitter.

      „Das nützt doch nichts. Er muss mich nur googeln. Es gibt genau eine Raya Mann im ganzen Internet. Er kann mir seine Mails an die Uni schicken oder Briefe schreiben. Ganz einfach.“

      Ich begann Eva zu erklären, was mir am gestrigen Abend und in der Nacht widerfahren war. Diese Dinge, auf die man niemals vorbereitet ist. Der Einbrecher im eigenen Haus, das Erdbeben, der Tod eines Kindes, der lüsterne Griff eines Fremden. Dinge, die man nur einmal erlebt oder gar nie oder einmal in zehn Jahren. Dinge, von denen man einen Begriff hat und die man sofort als solche erkennt, obwohl das Denken jäh ausgeschaltet ist. Du wirst augenblicklich von den elementaren Affekten in Stücke zerrissen: Angst, Wut, Schmerz, Erstarrung, Flucht, Ekel, Kampf. Wie hätte Serenus sein Eindringen ankündigen sollen? War es ein Verbrechen, sich nach acht Jahren bemerkbar zu machen? Hätte er wissen und respektieren müssen, dass ich meine Erinnerungen an ihn in der unterirdischen Gruft zerschmelzen und verglühen lassen wollte? Eva ließ mich ohne Unterbrechung reden.

      „Ruf mich sofort an, wenn noch eine Mail kommt“, befahl sie zum Abschied und fügte kichernd hinzu:

      „Na ja. Bis heute Abend dann.“

      Ich kannte sie gut genug und wusste, dass sie es ernst meinte.

      Doch an diesem Abend ergab es sich, dass ein paar Kollegen von der Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft zusammen essen gingen und ich mich ihnen anschloss. Als ich nach Hause kam, hatte ich keine Lust auf eine unliebsame Überraschung und ging zu Bett, ohne den Mac einzuschalten. In dieser Nacht schlief ich gut und erwachte früh. Mittwochs ging ich nicht zur Uni, sondern arbeitete zuhause. Im Bademantel machte ich mir Kaffee und setzte mich damit an den Schreibtisch. Ich wusste genau, was ich tun würde, falls meine Befürchtung zuträfe. Tatsächlich war gestern Abend eine zweite Mail von Serenus eingetroffen. Ungelesen leitete ich sie an Eva weiter, was mir ein gutes Gefühl gab.

      Ich nahm mir den Aufsatz vor, der mich seit einigen Wochen beschäftigte. Er handelte vom Schweizerdeutschen im nationalen Fernsehen. In vielen Sendungen sprachen die Moderatoren ihren eigenen Dialekt mit den jeweiligen regionalen Eigenheiten. Gleichzeitig verwendeten sie hochdeutsche Ausdrücke, die sie in ihren Dialekt umformten. Von diesem unfreiwilligen „Wortsalat“ handelte mein Aufsatz, der im Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache erscheinen sollte. Daran arbeitete ich ein paar Stunden lang, konnte mich gut konzentrieren und kam schnell voran.

      Um zehn Uhr holte ich mir einen frischen Kaffee aus der Küche und wählte Evas Nummer. Sie war nach einer halben Sekunde dran.

      „Ich wollte dich in diesem Moment anrufen, ich hielt das Telefon schon in der Hand. Ich hab’s gelesen, und du?“, rief sie fröhlich.

      „Nein. Sollte ich?“

      „Ich kann es dir vorlesen. Heute bin ich dran.“

      „Steht denn in der Mail überhaupt etwas von Bedeutung?“

      „Nein“, antwortete Eva etwas zu schnell, als ob sie auf diese Frage gewartet hätte. Ich stöhnte.

      „Ach Raya! Es ist doch nur ein Text!“

      Sie redete um den heißen Brei herum. Sie spannte mich auf die Folter.

      „Ich gebe auf. Was also steht nicht in der Mail?“

      „Die Klinik ist eine Psychiatrie“, platzte sie heraus.

      „Die Klinik ist eine Psychiatrie“, wiederholte ich lahm. „Bist du sicher?“

      „Ja. Ich nehme an, eine Suchtklinik. Serenus macht dort einen Entzug.“

      Ich schwieg, weil mir dazu nichts einfiel.

      „Willst du es hören oder nicht?“

      „Okay. Schieß los!“

      Eva