Raya Mann

Die eine wahre Liebe


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An der Gruppe bunt gekleideter Pakistani mit ihren zahlreichen Kindern und Koffern blickte ich vorbei. Die monströsen Busse, die mich in ihren Schatten tauchten, nahm ich nicht wahr. Obwohl mich die Sonne blendete, bemerkte ich nicht, dass der Regen inzwischen aufgehört und der steife Wind die Wolken auseinandergerissen hatte. Ich war viel zu leicht angezogen, doch ich ignorierte, dass ich vor Kälte zitterte. Ich fühlte sie nicht.

      An diesem Montagmorgen Anfang Oktober empfand ich weder Schmerz noch Leere. Ich ahnte nichts von der Taubheit der Seele, die meine Liebe und alles Begehren lähmte. Die Frage, was jetzt und einst aus mir werden sollte, kam mir nicht in den Sinn. Ein eisiger Windstoß fuhr mir ins Gesicht. Mit beiden Armen umklammerte ich meine Tasche und schützte damit meine Brüste. Die Schultern hochgezogen und den Kopf gesenkt rannte ich über den Parkplatz zurück zu meinem Wagen. Die Sonne fiel direkt auf die Frontscheibe, so dass mich drinnen ein wenig Wärme erwartete. Hastig öffnete ich die Tür, ließ mich in den Sitz gleiten und zog sie wieder zu. Ich legte die Arme auf das Lenkrad, bettete meine Stirn darauf, schloss die Augen und wartete. Endlich ließ das Pochen in meinen Schläfen nach. Dieser schreckliche Flughafen erregte meine Abscheu. Noch heftiger graute mir jedoch vor unserer Wohnung, zu der ich alleine zurückkehren würde. Es war nicht zu vermeiden und ich konnte es nicht hinauszögern. Ich ließ das Seitenfenster hinunter, atmete tief durch und startete den Motor.

      Als ich vor unserem Haus aus dem Wagen stieg, stieß ich beinahe mit der Postbotin zusammen. Fröhlich begrüßte sie mich, legte aber sogleich die Stirn in Falten.

      „Herr Mann lässt seine Post umleiten. Letzte Woche stellte er den Nachsendeantrag“, sagte sie und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Ohne meinem Blick auszuweichen, fügte sie hinzu: „Und einen Antrag auf Umzugsmitteilung an die Absender.“ Sie hatte keine Frage gestellt und ich tat so, als bemerkte ich ihre Neugier nicht.

      „Herr Mann bleibt wohl für längere Zeit in Madrid“, mutmaßte die Postbotin.

      Ich schenkte ihr ein Lächeln und sagte: „Ich auch. Mir bleiben noch drei Monate, um hier alles zu regeln. Ende des Jahres bin ich weg.“

      „Ach so.“ Ihr Interesse schien verflogen.

      „Haben Sie etwas für mich dabei?“, fragte ich.

      Die Postbotin kramte in ihrem Packen und überreichte mir die Drucksachen und einen an mich adressierten Brief. Er war groß und dick. Ich bedankte mich, schloss die Haustür auf und stieg die Treppe hinauf.

      Ich betrat die Wohnung. Ohne mich umzusehen, ging ich durch die Diele und betrat die Küche. Ich sah auf die Uhr. Ready for take off, flüsterte ich. Es war – jedenfalls nach Flugplan – die exakte Abflugzeit. An der Espressomaschine leuchtete das rote Lämpchen. Wir hatten die Wohnung heute früh verlassen, ohne sie abzustellen. Ich drehte den Schalter auf Ristretto und füllte eine Tasse mit mehreren Portionen davon. Letzte Nacht hatte ich nicht geschlafen und jetzt konnte ich kaum noch die Augen offenhalten. Mit einem Filettiermesser schlitzte ich den Umschlag auf und trug ihn zusammen mit dem Kaffee ins Gästezimmer. Als ich mich auszog, beschloss ich, mich für die verbleibenden drei Monate hier einzurichten. Ich würde mich nie wieder in das Doppelbett im gemeinsamen Schlafzimmer legen. Nachdem ich das Gästebett aufgeschlagen hatte, zog ich die Papiere aus dem Umschlag. Die Beilagen legte ich auf den Nachttisch, das Begleitschreiben behielt ich in der Hand. Ich schlüpfte unter die Decke und zog sie bis zum Kinn hoch. Der Brief war kurz.

      Sehr geehrte Frau Mann,

      das Kuratorium hat alle Kandidaturen geprüft und seine Wahl getroffen. Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass der Ruf für die neu geschaffene Assistenzprofessur an Ihre Person ergeht. Dies wurde Ihnen vom Dekan unserer Fakultät bereits per Telefonat vom 19.09.2006 mitgeteilt. Wie vereinbart werden Sie die Stelle zum 01.01.2007 antreten. Ihre Lehrtätigkeit wird zusammen mit dem Sommersemester am 19.02.2007 beginnen. In der beiliegenden Dokumentation finden Sie alle Informationen über die Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft, insbesondere über die aktuellen Themen und die laufenden Projekte in Lehre und Forschung. Gerne nehmen wir Ihre Anregungen und Fragen zu allen Belangen entgegen.

      Liebe Raya, dass Du den Ruf bekommen hast, bereitet uns allen eine große Freude. Wir werden uns mit Dir zusammen noch drei Monate lang in Geduld üben – im Wissen darum, dass Du die Zeit nutzen und Dich gut vorbereiten wirst. Indessen lass Dir gesagt sein, dass Du diese große Sache mit Gelassenheit und Zuversicht angehen solltest.

      Mit unseren besten Grüßen und unseren Glückwünschen

      Der Dekan der Fakultät und die Ordinaria am Lehrstuhl, dem meine Assistenzprofessur unterstellt war, hatten den Brief unterzeichnet. Während ich ihn immer wieder las, als wollte ich ihn auswendig lernen, fielen mir die Augen zu und ich schlief ein.

      Herzklopfen, verursacht durch den mehrfachen Ristretto, weckte mich nach ungefähr zwei Stunden. Mein Kopf lag auf dem einen Oberarm und dieser auf dem Berufungsschreiben. Ich hatte es im Schlaf arg zerknittert. Nachdem ich es weggelegt hatte, drehte ich mich auf die andere Seite und hing, mit offenen Augen, meinen Gedanken nach.

      Seltsam, dass ich mich in diesem Moment an die Beerdigung meiner Mutter erinnerte. Warum fiel mir gerade jetzt dieses Ereignis ein? Das verstand ich nicht, zumal ich mich so leer und taub fühlte. Aber tatsächlich kam mir jener Tag vor sechs Jahren in den Sinn. Es war, als blätterte ich einen Stapel von halb verblichenen Polaroids durch, die jemand auf der Beerdigung geschossen hatte.

      Meine Mutter starb anfangs Juni 2000, zu Beginn der Schafskälte. Die Temperaturen fielen auf fünf Grad Celsius. Tagelang blieb der Himmel von finsteren Wolken verhangen und es regnete ohne Unterlass. Die Abdankungskapelle wurde in dieser Jahreszeit nicht mehr geheizt. Ich saß in der vordersten Bank, hatte mir einen dicken Schal umgeschlungen und meine Ohrenschützer aufgesetzt. Ich fror und weinte fürchterlich. Hinter mir sah ich die Trauergäste, fest in ihre Mäntel gehüllt. Sie hatten sogar ihre Hüte aufbehalten. Neben mir saß mein Bruder, den wir den „Mittleren“ nannten und der von allen am meisten litt und mich ansah wie ein angeschossenes Tier. Er hielt meine Hand fest, aber das machte es nur noch schlimmer. Draußen vor der Kapelle blies ein heftiger Wind, der uns die Regenschirme aus den Händen riss. Der Geistliche haspelte hastig seine Liturgie herunter, während wir um das Grab herumstanden und schnell eine Handvoll Erde hineinwarfen.

      Die Krankheit meiner Mutter war mit meinem letzten Jahr in der Schweiz zusammengefallen. Sie lag wochenlang im Sterben, während ich die Prüfungen für meinen Master ablegte, der damals noch Lizentiat hieß. Schließlich kam der Tag, an dem sie starb und ich nicht bei ihr war. Zwei Tage später ging ich zu den Feierlichkeiten in der Aula und nahm die Urkunde entgegen. Der Uni-Chor und das Hochschul-Orchester hatten Mozarts Spatzenmesse, die Missa Brevis in C-Dur, einstudiert. Schon beim Kyrie brach ich in Tränen aus und als das Agnus Dei verklang, stürzte ich schluchzend aus der Aula, noch bevor der Applaus einsetzte. Am Tag danach nahm ich an der Beerdigung meiner Mutter teil.

      Heute vor elf Jahren war ich als Zwanzigjährige in die Schweiz gezogen, um mein Studium anzutreten. Auch daran erinnerte ich mich jetzt. Ich hatte davon geträumt, nach meinem Abitur nach Frankreich zu gehen – nach Paris, Lyon oder nach Montpellier, denn ich wollte unbedingt noch Französisch lernen. Aber nachdem ich mich nach langem Hin und Her dann doch für Germanistik entschieden hatte, fand ich es irgendwie verfehlt, mich ausgerechnet in einem Land mit romanischer Sprache in die deutsche Sprachwissenschaft zu vertiefen. Aus einer Intuition heraus fiel meine Wahl auf die mehrsprachige Schweiz und in unbekümmerter Unwissenheit stellte ich mir vor, dass ich dort bestimmt eine bilinguale Hochschule finden würde. Vorlesungen und Seminare würden in beiden Sprachen abgehalten werden und im Alltag würde man teils Französisch, teils Deutsch sprechen. Für mich selber und gegenüber meinen Eltern und Freundinnen nannte ich diese Idee die goldene Mitte der Leidenschaften, denn für mein Abitur hatte ich als Prüfungsstoff in Geschichte die griechische Antike gewählt und deshalb Aristoteles gelesen.

      Nach einigem Suchen und Herumfragen fand ich die Stecknadel im Heuhaufen. Meine Überraschung darüber, dass ich genau auf der Grenze zwischen der deutschen und der französischen Schweiz die Kleinstadt mit insgesamt 40.000 Einwohnern entdeckte, hielt mehrere Tage an. Sie besaß eine katholische Universität, an der 6000 Frauen und 4000 Männer studierten. Und es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich