Raya Mann

Die eine wahre Liebe


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der historisch gewachsenen Altstadt und einem schmalen Gürtel von Außenquartieren. Im Lexikon meines Vaters fand ich diese Beschreibung:

      „Die Zähringer – schwäbische Grafen, die unter Kaiser Heinrich IV ihr Territorium bis ins Burgund und in die Schweiz ausweiteten – gründeten die Stadt im elften Jahrhundert. Doch schon hundert Jahre später verkauften sie sie den Grafen von Kyburg, einer Seitenlinie des Hauses Habsburg. Die Stadt liegt am Rand eines Plateaus über dem Fluss, der zahlreiche große und kleine Mäander einhundert Meter tief ins Gestein grub. Der Felsen neigt sich von der alles überragenden Kathedrale, dem Bischofspalast und dem Priesterseminar hinab zu den beiden Klöstern am gegenüberliegenden Flussufer.“

      Dort oben lebte und studierte ich fünf Jahre lang, von 1995 bis 2000, um genau zu sein. Ich schloss das Studium ab und packte all meine Habe zusammen, während meine Mutter im Koma lag. Pünktlich zu ihrer Beerdigung kehrte ich in meine deutsche Heimatstadt zurück.

      Noch immer lag ich ins Plumeau gehüllt im Gästebett. Ich schloss die Augen und atmete einige Male tief ein und aus. Es reichte. Ich fand, ich hätte lange genug sinniert. Als ich mich aufrichtete und meine Füße auf den Bettvorleger setzte, fiel mein Blick auf die Anzeige des Weckers. Indem ich die routinierte Stimme einer Stewardess nachahmte, verkündete ich: „Willkommen in Madrid-Barajas. Bitte bleiben Sie angeschnallt sitzen, bis die Anzeigen erloschen und die Triebwerke abgeschaltet sind.“ In diesem Moment begriff ich den Zusammenhang. Liebe und Abschied. Heimat und Aufbruch. Friedhof und Flughafen.

      Damals, als ich mit fünfundzwanzig meine Mutter verlor, verließ ich – wie ich glaubte – für alle Zeit das Städtchen auf dem Felsen über dem Fluss und fragte mich alsbald, ob ich heimatlos oder eine Art Doppelbürgerin geworden war. Und heute, mit einunddreißig, hatte ich – unwiederbringlich, dessen war ich sicher – die eine wahre Liebe meines Lebens aufgegeben. Wir hatten um dieses Ende gerungen, so wie wir um den Wahnsinn unserer Liebe gerungen hatten. Serenus hatte sich von mir nichts Anderes gewünscht als ein Baby. Er wollte um jeden Preis mit mir nach Madrid verschwinden, mich schwängern, mit mir in Spanien leben und dort unser erstes Kind aufziehen – und vielleicht ein zweites. Davor hatte ich Angst, eine Angst, die immer mehr von mir Besitz ergriff und mich mit sich riss wie ein wildes Wasser.

      Kurz bevor ich aufgab und mich allmählich vom Strudel in den Abgrund ziehen ließ, wurde mir der Rettungsring zugeworfen. Meine erste Universität bot mir ein neues Leben an: ein Anruf aus der Schweiz, gefolgt von meiner Bewerbung, dem Auswahlverfahren und schließlich meiner Berufung. Serenus begleitete und unterstützte mich, denn er wusste, dass es das Beste für mich, wenn nicht sogar die einzige Chance wäre, um mein Bewusstsein und meine Sicherheit zurück zu gewinnen. So würde ich, nachdem ich ihn heute zum Flughafen gebracht hatte, bald in meine zweite Heimat zurückkehren. Innerlich hatte ich mich bereits auf den Weg gemacht.

      „Sei hart! Blick nicht zurück! Schau nach vorne!“, flüsterte ich, erhob mich vom Bett und begab mich ins Gästebadezimmer.

      Während der nun folgenden acht Jahre in der Schweiz dachte ich nicht an Serenus. Ich glaube, ich träumte nicht einmal von ihm. Es fiel mir kein einziges Mal auf, dass er aus meiner Erinnerung gelöscht war. Es gab keinen Tag, an dem ich Erleichterung darüber verspürt hätte, dass das Schlimmste ausgestanden war. Auch meine Arbeit an der Uni empfand ich nicht nur als willkommene Ablenkung und schon gar nicht als überlebensnotwendig. Tatsächlich füllte mich meine neue Tätigkeit vollkommen aus. Die Gegenwart stellte ich zu hundert Prozent in den Dienst meiner Zukunft als Wissenschaftlerin und Hochschuldozentin. Im Hinblick auf meine Laufbahn befand ich mich am Anfang des wichtigsten Abschnittes. Ich war ein Insekt im Larvenstadium. Spätestens mit Vierzig musste ich mich in eine flugfähige Libelle verwandelt haben. Bis dahin galt es zu schwimmen, zu jagen und zu wachsen. Irgendwann würde ich aus dem Wasser empor klettern, Atem schöpfen und ausruhen, während Sonne und Wind meine Flügel trockneten.

      Bereits unmittelbar nachdem mich der Dekan angerufen und mir mitgeteilt hatte, dass die Fakultät mich als Assistenzprofessorin anstellen wollte, und in derselben Sekunde, als ich den Hörer wieder auflegte, hatte ich die Eingebung. Plötzlich ergriff mich die Sehnsucht, ganz für mich alleine in einem großen Haus zu leben. Ich selber konnte mir kein Wohneigentum leisten, aber unsere Erbengemeinschaft war dazu in der Lage. Sie wäre die Eigentümerin. Das Haus würde nicht mir gehören, aber wenn ich es in Stand hielt und die Zinsen bezahlte, durfte ich es bewohnen und verwalten.

      Wenige Tage, nachdem Serenus nach Madrid abgeflogen war, reiste ich also in die Schweiz, wo ich Immobilien besichtigte. Vier Wochen später war der Kauf besiegelt und ins Grundbuch eingetragen. Dazwischen blieb mir Zeit, mich einige Male mit den Leuten von der Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft zu treffen, mir ein Bild von meinem neuen Fachgebiet und mich mit der wissenschaftlichen Literatur vertraut zu machen. Nebenbei beschäftigte ich mich mit Einrichtungsplänen.

      Mein Haus stand im Niemandsland zwischen dem Stadtrand und den ersten Häusern der nächstgelegenen Ortschaft. Es erhob sich, versteckt in einer Waldlichtung, über dem Ufer eines Baches, der Glâne hieß. Ich erfuhr, dass es vor hundert Jahren von einem wohlhabenden kinderlosen Ehepaar gebaut und später von einer alleinstehenden Musikerin bewohnt worden war. Böden und Treppen, Türen und Schränke bestanden aus Kirschbaum und Ahorn. In den Doppelfenstern befanden sich noch die alten Scheiben und im Inneren gab es viel buntes Wellenglas von anno dazumal. Küche und Bäder waren mit blassrosa Platten aus schwedischem Feldspat gekachelt. Ich brauchte nur einen Malermeister und einen Küchenbauer, alles andere ließ ich, wie es war.

      Ich fuhr zurück und machte mich an den Umzug und die Bücher, die ich mir aus der Bibliothek geliehen hatte. Ich las und packte, las und packte, las und packte, bis am Mittwoch nach Weihnachten der Möbelwagen vorfuhr. Während all der kurzen Tage und langen Nächten gab es in meinen Gedanken weder Raum für Zweifel und Reue noch für Schmerz und Sehnsucht. Niemand sah mir bei meinem Treiben zu. Beim Aufstehen und Schlafengehen, beim Lesen und Schreiben, beim Räumen und Putzen leistete mir niemand Gesellschaft. Vielleicht war die Wohnung von Abwesenheit erfüllt. Trotzdem fühlte ich mich nicht eine Sekunde lang einsam. Und als am nächsten Tag die Sonne unterging, die Möbelpacker sich verabschiedeten und in ihren Laster kletterten, bemerkte ich nicht, dass Serenus mit mir in mein neues Zuhause an der Route de la Glâne eingezogen war. Ein Geist, der sich nicht aus seinem Versteck rührte und der selber nicht wusste, wann seine Stunde käme, falls sie jemals käme.

      Am Silvesterabend gaben die Angestellten der Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft ein Willkommensfest für mich. Die meisten waren mir irgendwann schon einmal vorgestellt worden, aber nun lernte ich auch ihre Ehe– oder Lebenspartner kennen. Während der Party fiel es mir gar nicht auf, sondern erst am anderen Tag, als ich versuchte, mich an alle Gesichter zu erinnern. Unter lauter Paaren war ich die einzige Person ohne Begleitung gewesen.

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      Ein neues Leben anzufangen ging schneller und einfacher, als ich erwartet hatte. Das Absterben des vorherigen Lebens hingegen setzte erst nach einiger Zeit und überaus zögerlich ein. Genau genommen lebte es weiter und alterte bloß dahin, wie ein mächtiger kranker Baum, der immer wieder austreibt und sich nicht um den Sturm schert, der ihm jeweils im Herbst einen weiteren Zacken seiner Krone raubt. Es waren die massigsten Äste, die abbrachen, die langjährigsten Freundschaften, die morsch wurden und zersplitterten. Dagegen wehrte ich mich und es dauerte lange, bis mich damit abfand.

      Gastfreundschaft war mein Credo. Nicht zuletzt deswegen hatte ich das schmucke Jahrhundertwendehaus ausgesucht. Zwei Paare oder eine Familie mit Kindern konnte ich bequem darin unterbringen, ohne dass es eng wurde. Das Städtchen eignete sich zum Flanieren und Verweilen. Mit dem Auto war man schnell in Bern, Thun, Neuchâtel oder Montreux. Im Westen lag das Tiefland mit den drei Seen, im Süden die Hochebene von Greyerz, im Osten das Gebirge mit seinen Wanderwegen und Skipisten, im Norden die Hügel, Täler und Flüsse. Die Vergangenheit war allgegenwärtig: Römer und Ritter, Reformation und Renaissance, Religionskriege und Revolutionen, Romantik und Realismus.

      Der halben Welt schrieb ich Mails mit Fotos vom Haus, vom Städtchen und von meinen Ausflügen in alle vier Himmelsrichtungen. Jeden, den ich irgendwie kannte, lud ich ein. Fast alle kamen auch und besuchten mich, einige für ein Wochenende oder über die Feiertage, andere für eine Woche oder länger. Während der