Raya Mann

Die eine wahre Liebe


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nicht wahrhaben. Im Frühjahr 2010, als ich meine Habilitationsschrift fertig stellte und meinen 35. Geburtstag feierte, lud ich alle Menschen aus meinem alten Leben noch einmal ein. Aber die wichtigsten waren verhindert oder fanden eine gute Ausrede. Als die kleine Gästeschar in der Glasveranda beisammen war, stellte ich verblüfft fest, dass nur die Männer gekommen waren. Die „Mädels“ hatten mir einen Korb gegeben oder in letzter Minute abgesagt. Der kranke Baum meines alten Lebens hatte seine letzten Blüten getragen und setzte keine Früchte mehr an.

      Von meiner Familie hatte mich niemand besucht. Ich war Waise und hatte mich seit Jahren nicht mehr um die Geschwister meiner Eltern gekümmert. Falls überhaupt noch Tanten oder Onkel lebten, dann wären sie fast so alt wie das Haus, in dem ich wohnte. Mein ältester Bruder, lebte inzwischen in Deutschland, in einem der neuen Bundesländer, wo er ein politisches Amt innehatte und seine Prominenz auskostete. Wir waren jedoch nicht zusammen aufgewachsen, denn als ich geboren wurde, war er bereits ausgezogen. Wir hatten weder gemeinsame Erinnerungen noch aktuelle Berührungspunkte. Von meinem anderen Bruder, der immer als „der Mittlere“ bezeichnet wurde, wollte ich nichts mehr wissen und er ebenso wenig von mir. Es blieb mir immerhin meine Kusine Eva erhalten, die Lieblingsnichte meines Vaters. Wir waren gleichaltrig, langjährige Freundinnen und uns in den letzten Jahren noch nähergekommen. Sie hatte sich auf den ersten Blick in mein neues Haus und das Städtchen verliebt. Von da an kam Eva, wann immer sie sich freimachen konnte, zu mir in die Schweiz. Je älter wir wurden, desto enger wurde unsere Freundschaft.

      In der Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft fand ich die Art und das Maß von Geborgenheit, die ich für mein inneres Gleichgewicht benötigte. Die Universität war in der ganzen Schweiz berühmt dafür, überschaubar und familiär zu sein. An keiner anderen Hochschule kamen so viele Lehrkräfte auf so wenige Studenten. Schon damals, als ich hier die Ausbildung machte und mich auf das Lizentiat vorbereitete, lernte ich das Engagement meiner Lehrer zu schätzen. Wir wurden nicht nur behutsam, sondern auch kompromisslos angetrieben, so dass sich unser Ehrgeiz mit demjenigen unserer Professoren verband. Die gegenseitige Wertschätzung war so groß, dass echte Bindungen zwischen ihnen und uns entstanden. Selbst nachdem ich die Uni verlassen hatte, wachte meine Ordinaria über meine weitere Laufbahn und überredete mich sechs Jahre später dazu, mich an ihrem Lehrstuhl zu bewerben. Meine Assistenzprofessur stand nicht auf dem Sollstellenplan, sondern wurde mit Mitteln aus einem länderübergreifenden Förderprogramm der eu finanziert. Irgendwann wurde mir zugetragen, dass meine Berufung von Anfang an ein abgekartetes Spiel gewesen sei.

      So klein sie auch war, so handelte es sich doch um eine richtige Universität mit allen traditionellen und modernen Fächern. Neben den Fakultäten für Theologie, Recht, Wirtschaft, Philosophie, Sprachen, Geschichte, Medizin und Naturwissenschaften existierten auch Studiengänge in Musik, Sportwissenschaft, Kommunikation, Sozialwissenschaften, Didaktik und Mehrsprachigkeit. Es gab mehr als ein Dutzend sprachliche Abteilungen, zwei davon für Germanistik, denn deutsche Literaturwissenschaft und deutsche Sprachwissenschaft waren streng voneinander getrennt. Letztere war eine der kleinsten Abteilungen an der ganzen Uni.

      Ich selber unterrichtete die Studenten des dritten und vierten Semesters in Grundlagen der linguistischen Forschung. Mein Seminar gehörte zu den Pflichtveranstaltungen für Hauptfachstudenten, deren Zahl sich an zwei Händen abzählen ließ. Mit diesem intimen Grüppchen arbeitete ich an dem Projekt, mit dem ich mich habilitieren sollte. Meine Forschung befasste sich mit Kurznachrichten, also mit den über Mobiltelefone ausgetauschten sms. Die Abteilung stellte meinen Studenten ein Handy zur Verfügung und zwar das begehrte i-Phone, das Apple in jenem Jahr neu auf den Markt brachte. Die Geräte waren so programmiert, dass jedes versendete sms auf unserem Server abgespeichert wurde. Natürlich mussten die Teilnehmer eine Schweigepflichterklärung unterschreiben, denn das Seminar fand buchstäblich in ihrer Intimsphäre statt.

      Das i-Phone-Projekt, wie es bald von allen genannt wurde, machte von sich reden. Es bekam einen elitären Nimbus und ich setzte meine ganze Autorität daran, meinen zehn Studenten einen gewissen Dünkel auszureden, vielmehr, ihn gar nicht erst aufkeimen zu lassen. Ich machte ihnen begreiflich, dass Ehrgeiz und Demut zwei Seiten derselben Medaille seien. Als ich den Teilnehmern so ins Gewissen redete, ahnte niemand von uns, dass sich die Bescheidenheit bald von selber einstellen würde. Denn unser i-Phone-Projekt erwies sich schon nach kurzer Zeit als tierische Plackerei. In den ersten zwei Semestern sammelten wir eine halbe Million sms auf dem Server, sodass wir das Vorhaben von Grund auf neu überdenken mussten.

      Die Uni gab mir fünf Jahre, um das Forschungsprojekt und meine Habilitation abzuschließen, denn die europäischen Fördermittel waren für diesen Zeitraum zugesprochen worden. Ich vergeudete viel zu viel Zeit, um dem Unterfangen eine Richtung zu geben und es in Fahrt zu bringen. Das Ganze war ehrlich gesagt ein paar Nummern zu groß für mich, zumal ich damals fast ununterbrochen Gäste zu Besuch hatte. Ich ging ja erst auf Mitte Dreißig zu, was aber mindestens ein Gutes hatte – nämlich meine schier unerschöpfliche Energie. Ohne diese Reserven hätte ich mich verausgabt. Als ich das i-Phone-Projekt pünktlich zum Ende des Jahres 2011 abschloss, musste ich mir eingestehen, dass ich eine solche Ausdauer künftig nicht nochmals würde aufbringen können. Aber das würde bestimmt nie wieder notwendig sein.

      Die Auswertung von ein bis zwei Millionen Handy-Nachrichten entsprach dem Bau eines gigantischen Elfenbeinturms. Weder die fleißigen Studenten noch die staunenden Kollegen fragten sich, auf welchen Gründen das ganze Konstrukt ruhte. Ein festeres Fundament war undenkbar. Mein Selbstbewusstsein als Wissenschaftlerin war erdbebensicher.

      Das Grab meiner Liebe befand sich tief in der Erdkruste. Darüber lag das ganze Gewicht der Erdscheibe. Fortwährend drangen Erschütterungen an die Oberfläche und versetzten den Boden, auf dem ich stand, in Schwingungen. Ich hatte mich an sie gewöhnt und nahm sie nicht mehr wahr. Das intellektuelle Konstrukt aus versendeten und empfangenen sms ragte wie ein Denkmal für meinen Sieg über Schmerz und Leere in den Himmel.

      Indessen, ich dachte nicht darüber nach, ob ich als Mittdreißigerin das bestmögliche Leben lebte, mit meinen Erfolgen als Assistenzprofessorin und mit meinem Single-Dasein in dem großen Haus an der Route de la Glâne. Ferner dachte ich auch nicht darüber nach, ob mir etwas fehlte – ein Mann an meiner Seite, ein Säugling an meiner Brust, ein Leben in einem anderen Land.

      Nur zweimal schreckte ich auf. Das erste Mal in der Runde meiner Studenten, als wir über einen sms-Dialog aus dem i-Phone von Nicole, einer meiner Lieblingsstudentinnen, diskutierten. Magaly, ihre beste Freundin, lebte in Boston und studierte Ethnologie an der Harvard University. Beide waren mehrsprachig erzogen worden, tauschten sich aber auf deutsch aus. Nicole begann:

      „ich denk nicht an dich“

      „ich auch nicht“

      „nicht denken“

      „etwas anderes“

      „nämlich?????“

      Magaly reagierte jedoch nicht und Nicole fuhr selber fort:

      „ich kann dich sooo gut riechen von usa bis hier. lol“

      „transatlantische olfaktion?????“

      „yep“

      „glaub ich dir nicht“

      Dazu ein Emoticon mit herausgestreckter Zunge und ein paar Minuten später die Aufforderung, Nicole solle ihr Beweise liefern:

      „evidence!!!!!“

      „du hast die mens. hmmm?????“

      „go on!!!!!“

      „hast die zähne noch nicht geputzt“

      „drittens?????“

      „du trinkst pulverkaffee“

      „würg“

      Magaly ließ offen, ob die Beweise zutrafen oder nicht. Vielleicht hatte sie tatsächlich ihre Periode, morgendlichen Mundgeruch und eine Tasse Instant Coffee vor sich. Nicole hörte dann auf zu schreiben. Im Seminar erklärte sie uns, dass sie an jenem Nachmittag eine Vorlesung hatte und sich auf den Weg machen musste. Als sie später ihr Handy gecheckt hatte, waren drei neue Nachrichten von Magaly eingegangen und ein Emoticon mit zwei tanzenden Mädchen, die