Raya Mann

Die eine wahre Liebe


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      gegenwärtig werde ich auf der Akutstation behandelt. Dies beinhaltet Untersuchungen, Medikamente und Überwachung. Die Behandlung hier dauert – je nach Komplikationen – 10 bis 20 Tage. In dieser Zeit sind an sieben Tagen pro Woche von 08:00 bis 22:00 Uhr Besuche möglich. Später, auf der Langzeitstation, sind Besuche nur am Wochenende möglich, weil ja die Wochentage mit Therapien vollgestopft sind.

      Heute nach dem Frühstück gab es psychotherapeutische Visite, was bedeutet, dass außer dem Ärzteteam auch zwei Psychologinnen teilnahmen. Mit der jüngeren Psychologin hatte ich anschließend ein langes Einzelgespräch. Als ich nach dem Gespräch zur Untersuchung ging, war mein Blutdruck 190 zu 120. Die Pflegerin schickte mich wieder weg, ich solle eine halbe Stunde später wiederkommen. Bei der zweiten Messung hatte ich dann tatsächlich nur noch 140 zu 90.

      Einen schönen Abend wünscht Serenus.

      Ich ließ mir das Gehörte durch den Kopf gehen, während Eva geduldig wartete. Es musste die Sache mit dem hohen Blutdruck sein, die sie auf die Idee mit dem Entzug gebracht hatte. Mir fiel weiter nichts ein, worauf ich neugierig hätte sein können. Ob Eva in den beiden Mails noch andere Hinweise gefunden hatte? Sie schien sich dasselbe zu fragen, denn sie sagte:

      „Ich weiß nicht, welche Sucht es sein könnte – Alkohol oder Pillen oder Drogen. Außerdem kommt jedes halbwegs zivilisierte Land in Frage. Solche Kliniken gibt es fast überall auf der Welt.“

      „Nach meinem Gefühl ist diese nicht sehr weit entfernt.“

      „Ist dein Gefühl nicht vielleicht ein wenig weit hergeholt?“

      „Besuche von früh bis spät, aber nur während der nächsten Tage.“

      „Doch selbst wenn. Du wüsstest ja nicht einmal, wo genau.“

      „Will er, dass ich es ihm aus der Nase ziehe?“

      „Naja. Du kennst ihn besser als ich.“

      In diesem Moment ertönte der Dreiklang des Macs. Sogar Eva am anderen Ende der Leitung fuhr zusammen. Jedenfalls kam es mir so vor.

      „Noch eine? Soll ich nachsehen?“, flüsterte ich.

      „Fürchtest du dich?“

      „Schon. Wenn ich dich nicht hätte, würde ich durchdrehen.“

      „Lass es mich zuerst lesen.“

      „Dich interessiert es ohnehin am meisten.“

      „Okay. Lass dir Zeit.“

      „Ich melde mich dann.“

      Nur diese eine Zeile schrieb ich, bevor ich Eva die Nachricht weiterleitete.

      „Es ist, wie es ist. Es lohnt sich nicht. Siehe selbst.“

      Die Mail lautete:

      Mittwoch, 4. Juni 2014, 10:04

      Liebe Raya,

      meine Mails treiben an der Oberfläche. Ich schreibe sie lediglich, um anzudeuten, auf welche Mission ich mich begeben habe. Auch die Akutstation treibt an der Oberfläche. Es geht nur darum, wie viel Blutdrucksenker, Schlafmittel und Tranquilizer wir brauchen oder ob wir ohne Medikamente durchkommen. Man weiß ja nie, ob man Schüttelfrost, Halluzinationen oder Krampfanfälle bekommt. Die Krankheit ist allgegenwärtig. Die Patienten reden von nichts anderem und auch das Personal redet von nichts anderem. Wir sind alle gefährlich dünnhäutig. Ich selber bin unausgeglichen und jede Lappalie bringt mich aus dem Gleichgewicht. In der Klinik fühle ich mich jedoch geschützt und aufgehoben. Ich wollte keine Sekunde lang woanders sein. In diesem Sinne,

      Serenus

      ❖

      Am gleichen Abend nahm ich den Siebenuhrzug nach Zürich. Es war der Intercity vom Genfer Flughafen nach St. Gallen. Ich wusste aus Erfahrung, dass es um diese Zeit kaum Fahrgäste gab. Er machte nur den einen Stopp in Bern und umsteigen musste ich auch nicht. In der Businesszone hatte ich meine Ruhe, so dass ich die anderthalb Stunden nutzte, um mich auf die Konferenz am nächsten Tag vorzubereiten. Vom Zürcher Hauptbahnhof aus fuhr ich mit der Vierer-Tram bis „Kreuzstraße“. Zum Hotel Seegarten brauchte ich zu Fuß nur noch drei Minuten. Ich hatte „mein“ Zimmer im Dachgeschoss reserviert, das große mit dem ausladenden roten Orientteppich. Ich mochte die Küche des Restaurants Latino im Parterre. An diesem Juniabend saß ich draußen an der kaum befahrenen Straßenkreuzung und entspannte mich. Ich bestellte das geschmorte Stubenküken, das in der Schweiz „Mistkratzerlein“ genannt wird.

      Ausnahmsweise war ich nicht die einzige Frau ohne Begleitung, denn nebenan beanspruchte eine ungefähr Gleichaltrige ebenfalls einen Tisch für sich alleine. Immer wieder beobachtete ich die schmale Rothaarige mit dem geraden Rücken und den knochigen Schultern, die aussah, als sei sie aus einem von Dante Gabriel Rossetti gemalten Nymphenteich gestiegen. Sie hing ihren Gedanken nach und würdigte das nächtliche Zürich keines Blickes. Vielleicht hätte ich sie angesprochen, wenn sie zu mir herübergeschaut hätte. Als ich mit dem Essen fertig war, bezahlte ich und ging nach oben. Kurz vor Mitternacht lag ich im Bett und löschte das Licht.

      Von Unbehagen erfüllt fuhr ich im Taxi zur psychiatrischen Universitätsklinik, denn die politischen Hintergründe dieser Konferenz verwirrten mich. Obwohl ich in der Schweiz studiert hatte und schon so lange hier arbeitete, verstand ich die Eidgenossen nicht. In diesem Staat gab es keinen Präsidenten und keinen Premierminister. Im Kabinett saßen die sieben Zwerge und kümmerten sich um all die Wichtelmänner, die zu Tausenden die Chefetagen der Bundesämter und Staatsekretariate bevölkerten.

      Nur einer besaß Macht, viel Macht: der Innenminister. Er trug die Verantwortung für die Renten, für die Krankenversicherungen, für die medizinische Versorgung mitsamt ihren Berufsgruppen, für Familien- und Geschlechterfragen. Auch für Behinderte und Tiere war er zuständig sowie für die Zulassung von Medikamenten und für die Wettervorhersage. Die kleineren Zacken seiner Krone bildeten das Bundesarchiv, die Nationalbibliothek, das Landesmuseum und die nationale Statistik. Nebenbei regierte er auch als Kulturminister.

      Ein großes Geschäft plagte diesen Zwergenkönig, nämlich die Agenda Gesundheit zwanzigzwanzig. In Wirklichkeit plagte er den Staatssekretär für Gesundheitspolitik damit. Zur Agenda gehörte unter anderem die Errichtung des Kompetenzzentrums für medizinische Geisteswissenschaften – Medical Humanities auf Neudeutsch. Das Zentrum sollte Forschung darüber betreiben, wer die Patienten in den Kliniken und Praxen waren und was in ihnen vorging. Viel Geld floss in die Programme und in einem davon – Sprache und Psychiatrie – vertrat ich neuerdings unseren Lehrstuhl. Die Projektleitung oblag einer Direktorin im Staatssekretariat für Gesundheitspolitik.

      Dieser Tag würde mir auf alle Zeit in Erinnerung bleiben. Aus unerfindlichen Gründen hatte ich eine falsche Uhrzeit in meinen Kalender eingetragen. Ich sei eine Stunde zu früh, sagte man mir am Empfang der psychiatrischen Universitätsklinik. Außer der Gastgeberin sei noch niemand da. Da ich auf die Direktorin neugierig war, begab ich mich zum Konferenzraum. Ich trat ein und war so verblüfft, dass mir die Aktentasche entglitt und zu Boden fiel. Die Frau erblickte mich und kam mir entgegen. Es war die Rothaarige vom Vorabend. Sie sah mich erstaunt an:

      „Ich heiße Nobila Maniok. Ich habe Sie doch gestern im Latino gesehen. Haben Sie auch im Hotel Seegarten übernachtet? Wenn ich das gewusst hätte …“

      „Bist du für Sprache und Psychiatrie verantwortlich?“ Als ich bemerkte, dass ich sie geduzt hatte, war es mir peinlich und ich wollte mich entschuldigen. Aber Nobila lächelte. „Und wer bist du? Ich bin hier fertig, es ist alles eingerichtet. Gehen wir in die Cafeteria?“

      Bei Milchkaffee und Croissants klärte ich sie über meine Stelle an der Abteilung für Deutsche Sprachwissenschaft auf. Dann fragte ich sie nach ihrem Namen und ihrer Herkunft.

      „Das ist alles ein wenig kompliziert. Die Familie meines Vaters stammt ursprünglich aus Russland und lebt auf der Krim. Wenn ich Russin wäre, würde ich Nobila Maniokova heißen. Mein Vater kam über Havanna und Québec nach Europa. Wann und warum sein Name zu Maniok verkürzt wurde, wollte er mir nie verraten. Es war sein Wunsch, dass ich Nobila heiße. Das ist