Raya Mann

Die eine wahre Liebe


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ihr habe ich die roten Haare. Sie steckte mich in ein privates Internat – Gordonstoun bei Elgin. Dort studierte ich Performing Arts, also Tanz und Theater, sowie moderne Sprachen mit Deutsch als Hauptfach.“

      Ich wollte wissen, wie sie denn in die Schweiz gekommen sei.

      „Ich hatte einen Bachelor of Education und arbeitete als Dozentin für Deutsch, bis mir jemand von der Nottingham Trent University erzählte, dass man in der Schweiz einen Master in Organisationskommunikation machen könne.“

      Sie sah auf ihre Armbanduhr und bedeutete mir mit der Hand, dass sie die Unterhaltung beenden und zum Konferenzraum zurückgehen wollte.

      Den restlichen Tag über hörte ich mir Vorträge und Diskussionen über die gehaltenen Vorträge an – vier vor und vier nach der Mittagspause.

      Eine Literaturprofessorin hielt die erste Präsentation mit dem Titel „Versprachlichung von seelischem Leid“. Sie befasste sich mit der Metaphorik in Tagebüchern, die Frauen während ihres Klinikaufenthalts geschrieben hatten. Es war nicht beabsichtigt gewesen, eine geschlechtsspezifische Untersuchung durchzuführen. Das Team hatte bloß keine Werke von Männern auftreiben können. An dieser Stelle schweiften meine Gedanken zum ersten Mal ab, weil ich mir Serenus dabei vorzustellen versuchte, wie er in seiner Suchtklinik Tagebuch führte. Doch worin bestand sein „seelisches Leid“? Plötzlich fühlte ich mich beobachtet und als ich den Kopf wandte, kreuzten sich meine Blicke mit denjenigen von Nobila.

      Es folgte die Fallgeschichte einer Geschlechtsumwandlung von Frau zu Mann. Ein Professor für Sozialarbeit hatte hunderte von Beratungsgesprächen gefilmt und präsentierte uns eine Auswahl von Videoausschnitten. Zu Beginn war die Person siebzehn, am Ende des ganzen Prozesses dreißig Jahre alt. Es wurde gezeigt, dass sich gewisse sprachliche Merkmale über den ganzen Zeitraum wiederholten. Bei der jungen Frau standen sie jedoch nicht im Einklang mit ihrem Geschlecht. Nach der Umwandlung hingegen wirkten sie authentischer. Zur Hauptsache sprach die Person über ihre Behandlung so, als würde sie aus der Krankengeschichte von jemand anderem zitieren. Während sie sich in der Beamer-Projektion über die Prozeduren in den verschiedenen Kliniken ausließ, bekam ich Gänsehaut. Würde Serenus die gleichen Mails schreiben, wenn er eine Frau wäre? Waren seine Mails authentisch, aber eben auf spezifisch männliche Weise? Als ich zu Nobila hinübersah, fiel mir auf, dass sie sich eine Stola umgelegt hatte.

      Als nächstes referierten zwei Professorinnen vom Institut für angewandte Linguistik über sprachliche, soziale und kulturelle Probleme in der Psychiatrie. Die Fallbeispiele handelten von Patienten mit albanischer und türkischer Muttersprache. Offensichtlich waren alle Beteiligten mit der Verständigung überfordert, die Klinikangestellten nicht weniger als die Migranten, am meisten jedoch die Dolmetscher. Für Verwirrung sorgte allerdings nicht die Sprachbarriere, diese ließ sich überwinden, sondern die Einteilung der Fachkräfte in Aufgabenbereiche, Berufsgruppen und Hierarchiestufen. Im Dschungel der Anstalt konnten sich nur die Angestellten orientieren, für Patienten und Dolmetscher blieb er unzugänglich. Als die beiden Professorinnen die Diskussion eröffneten, meldete sich Nobila mit einer Frage:

      „Wurden innerhalb der Organisationskommunikation nur Fremdsprachige untersucht? Was ist mit den landessprachigen Patienten? Müsste bei ihnen die Überforderung nicht noch schwerwiegendere Auswirkungen haben?“

      Ich schien die einzige im Raum zu sein, die begriff, was Nobila unausgesprochen ließ.

      „Weil einheimische Patienten glauben, sie benötigten keinen Dolmetscher?“, ergänzte ich mit erhobener Hand und dachte an Serenus und an das Kauderwelsch in seinen Mails.

      Den Vortrag vor dem Lunch hielt Nobila selber. In ihrer Dissertation hatte sie sich mit delinquenten Insassen beziehungsweise mit der Sprache ihrer Betreuer befasst, in der sich das Beziehungsgefälle deutlich abbildete. Den Klienten gegenüber verbalisierten diese Angestellten laufend, sie selber seien ehrenhafter, glaubwürdiger, fleißiger, wohlhabender, gebildeter, wissender und so weiter. Gleichzeitig bedienten sie sich einer Ausdrucksweise, die für die Angesprochenen schwer verständlich war. Diese Sprachasymmetrien vervielfachten sich sogar noch bei Patienten, die die Landessprache kaum oder überhaupt nicht beherrschten. Ich verstand vor allem eines: Nobila fühlte sich den Insassen verbunden, den Betreuern jedoch nicht.

      Als ich den Konferenzraum verlassen wollte, gab mir Nobila ein Zeichen, ich solle ihr einen Stuhl freihalten. Beim Mittagessen saßen wir dann nebeneinander. Als Programmleiterin und Direktorin im Staatsekretariat musste sie sich ihren Gästen widmen. Aber zwischen den Gesprächen einigten wir uns darauf, eine weitere Übernachtung im Hotel Seegarten zu buchen und zusammen essen zu gehen. Ich hatte anderntags keine Verpflichtungen und eine Verabredung mit Nobila Maniok war mehr als ein gutes Alibi. Umgehend tätigte ich den Anruf für die Zimmerreservation. Ich freute mich auf den Abend.

      Den Nachmittag eröffnete ein sterbenslangweiliger Vortrag mit dem Thema „Terminologie und Macht“. Mir fiel sogleich Fidel Castros Bonmot ein: „Ein Revolutionär geht nie in Pension“. Denn der Referent, Privatdozent am Institut für Wissenschaftskommunikation, sah so aus, wie ich mir einen unverbesserlichen Achtundsechziger der ersten Stunde vorstellte. Er gab einen Abriss von Sigmund Freud bis heute. Das Ganze lief daraus hinaus, dass die Öffentlichkeit rund zehn Jahre brauche, um eine neue Fachsprache zu verstehen. Deshalb wurde alle zehn Jahre eine neue Fachsprache erschaffen, weil die Psychiatrie gar nicht wollte, dass die Öffentlichkeit mitredete. Die Monotonie und meine Verdauung machten mich so schläfrig, dass ich das Notebook aufklappte und meinen Mail-Account abrief. Die aktuellste Nachricht sprang mir förmlich in die Augen.

      Donnerstag, 5. Juni 2014, 11:39

      Liebe Raya,

      so oder so, ich sitze auf einer Insel und auf einmal haben die tausend leeren Flaschen einen Sinn. Ich stecke Schnipsel mit Gekritzel hinein, schraube den Deckel zu und werfe sie ins Meer. Ich spiele Flaschenpost. Ich bin Absender und Adressat zugleich. So kommt die Post wenigstens an. Es ist meine Absicht, einen Briefwechsel mit mir selber zu führen. Aber ich lese meine Texte, wie wenn man eine Illustrierte durchblättert. Da schreibt man ja auch nicht jedes Mal gleich einen Leserbrief. Und die nächste Nummer erscheint ohnehin. Selbst wenn man sein Abo kündigt. Jedenfalls wird auch morgen die aktuelle Ausgabe weggeschwemmt.

      Serenus

      Ich schaltete das Notebook wieder aus, erhob mich und verließ den Raum. Draußen auf der Freitreppe ertappte ich eine Teilnehmerin beim Rauchen. Ich stellte mich neben sie und bat sie um eine Zigarette und um Feuer. Dass ich rauchte, kam höchstens zweimal im Jahr vor. Was war los mit mir? Ich fragte mich, ob es mich so sehr traf, dass Serenus alkoholabhängig geworden war und sich in einer Suchtklinik aufhielt. Aber das war es nicht. Vielmehr erschütterte es mich, ausgerechnet hier in der psychiatrischen Universitätsklinik von Zürich die Sprache von Patienten zu analysieren, die man auf eine Insel verbannt hatte. Denn jede psychiatrische Klinik, egal ob man sie von außen oder von innen betrachtete, stellte sich als Insel dar. Serenus diente die Insel offenbar als Postamt für „Schnipsel und Gekritzel“. Wenn diese Aufgabe ihn mit Sinn erfüllte, dann machte ich mich besser weiterhin auf tägliches Schwemmgut gefasst.

      In diesem Augenblick erkannte ich, dass nichts, was auf dieser Konferenz besprochen wurde, mit mir und Serenus zu tun hatte. Ich war nicht hierhergekommen, um den Schlüssel zu ihm und seinen Nachrichten zu suchen. Jetzt war ich plötzlich sicher, dass es in den Mails gar nichts zu entschlüsseln gab und dass Serenus sie nicht schrieb, damit jemand sie dechiffrierte. Erleichtert kehrte ich zur Veranstaltung zurück.

      Damals Mitte dreißig – 2006 bis 2013

      Ich wollte so schnell wie möglich wieder nach Hause. Nach einer schlaflosen Nacht hatte ich Serenus zum Flughafen gebracht und in der Eile vergessen, mir etwas Warmes überzuziehen. Es war einer dieser Oktobertage, die für Deutschland so typisch sind. Zwar herrschte strahlender Sonnenschein, aber dennoch würde es den ganzen Tag kalt bleiben.

      Ich durchquerte die Abflughalle und hielt auf die verglaste Flucht mit den Ausgängen zu. Die Schiebetüren glitten zur Seite und ich trat ins Freie. Den Lärm um mich herum vernahm ich nicht, weder die Triebwerke der startenden Flugzeuge, noch die Räder der Trollies, die über den genoppten Hartgummiboden rumpelten, auch nicht die