Manfred Rehor

Czordan und der Millionenerbe


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mich der Alte an. Ich streckte ihm die Post entgegen, die er zitternd nahm. Da er mich bei der Lautstärke der Musik ohnehin nicht verstehen konnte, zog ich nur fragend die Augenbrauen hoch. Er winkte mich mit einer schlaffen Geste zur Tür.

      In diesem Zustand hatte ich ihn schon mehrmals angetroffen. Ob er dabei von der guten alten Zeit träumte und sich zudröhnte, weil er das Leben außerhalb seines geliebten New York nicht mehr ertrug, weiß ich nicht zu sagen. Als ich ihn zum ersten Mal so erlebte, befürchtete ich, dass ihm diese Exzesse in seinem Alter nicht gut tun. Aber am Morgen danach war er fit wie ein frisch geladener Akku.

      Ich rechnete nicht mehr damit, ihn an dem Tag noch einmal zu sehen, doch kurz vor neunzehn Uhr kam er herunter ins Büro und schaltete seinen PC ein. Seinem Aussehen nach hätte man ihn eigentlich sofort in ein Pflegeheim einweisen müssen. Er hing mehr auf dem Stuhl, als dass er saß. Nach einem Blick in den Emaileingang schaltete den PC wieder aus und sagte: „Feierabend.“

      Ein versöhnliches Ende dieses Arbeitstags. Anscheinend hatte er den kleinen Zwist vom Montag noch nicht vergessen.

      Doch aus dem pünktlichen Feierabend wurde nichts.

      Während ich meinen Schreibtisch aufräumte, läutete es an der Tür. Ich öffnete und vor mir stand ein bulliger fünfzigjähriger Mann, der so sehr nach Polizist aussah, dass er bestimmt in seinem Leben noch nie die Dienstmarke zeigen musste.

      „Schmidt“, sagte er. „Ist Sam Czordan da?“

      Ich wandte mich nach Czordan um. Der zog eine Grimasse und nickte. Also trat ich beiseite und ließ den Besucher herein.

      Schmidt ging auf den Besucherstuhl vor Czordans Schreibtisch zu, beäugte ihn missmutig und sah sich im Büro um. Mit ausgestrecktem Arm hinderte er mich daran, an ihm vorbei zu gehen. Stattdessen marschierte er um meinen Schreibtisch herum, zog meinen Stuhl näher zu Czordan und ließ sich darauf nieder.

      Da Czordan auf diesen Affront nicht reagierte, blieb ich ebenfalls gelassen. „Möchten Sie etwas zu trinken?“, fragte ich.

      „Gut trainiert, der Junge, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Könnte der Richtige sein“, sagte Schmidt zu Czordan. Zu mir gewandt forderte er: „Cola!“

      „Kaffee, stark!“, ergänzte der Alte heiser.

      Ich ging nach hinten in die Miniküche, ließ aber die Türe offen.

      Schmidt rief mir nach: „Wie heißen Sie, junger Mann?“

      „Siegfried Ehrlich“, antwortete ich.

      „Genannt Sig, vierunddreißig Jahre alt. Wusste ich doch, dass ich Ihr Gesicht schon mal gesehen habe. Unangenehme Sache, das damals. Aber eindeutig nicht Ihre Schuld.“

      Mit der Colaflasche und einem Glas kehrte ich ins Büro zurück und schenkte ihm ein. „Ich bin Ihnen noch nie begegnet.“

      „Richtig.“

      Mehr sagte er nicht, also beließ ich es dabei. „Kaffee kommt gleich“, informierte ich den Alten.

      Schmidt wandte sich an Czordan: „Was sollte das vorgestern Abend? Dieser Anruf wegen des Geländewagens und der angeblichen Entführung?“

      „Ich habe etwas gehört und an Sie weitergeben lassen.“

      „Warum? Tun Sie doch sonst nicht.“

      „Sig, berichte!“, befahl Czordan.

      Ich tat ihm den Gefallen und erzählt kurz und ohne ihren Namen zu nennen vom Besuch der alten Frau. Anschließend holte ich den Kaffee und stellte die Tasse vor Czordan hin. Auf die Untertasse hatte ich neben Milch und Zucker auch zwei Aspirintabletten gelegt, die er gleich mit dem ersten Schluck hinunterspülte.

      Schmidt schlug die Beine übereinander und betrachtete Czordan eine Weile, bevor er sagte: „Sie haben einen Fall angenommen, der nur auf der Beobachtung einer Alkoholikerin beruht? Die Geschäfte Ihrer Auskunftei müssen sehr schlecht gehen.“

      „Ihr Besuch beweist, dass ich mich nicht getäuscht habe. Was ist passiert?“

      „In einer dunklen Ecke nahe der Potsdamer Straße wurde vorletzte Nacht eine Frau erschossen. Sie hatte keine Papiere bei sich, deshalb hat es eine Weile gedauert, bis wir sie identifizieren konnten.“

      „Gisela Ahner“, folgerte Czordan. Er setzte sich auf und wirkte nun hellwach. „Das war unsere Informantin. Zeugen?“

      „Möglich. In der Gegend gibt es viele Prostituierte. Die reden aber nicht gerne mit uns. Eine indirekte Zeugin haben wir allerdings schon - eine junge Frau, die in der Nähe beinahe von einem Geländewagen überfahren worden wäre, der mit überhöhter Geschwindigkeit um die Kurve kam.“

      „Aus Richtung des Tatortes.“

      „Ja. Das Kennzeichen des Wagens war verschmutzt, der Fahrer nicht zu erkennen, es ging zu schnell.“

      „Es wird Ihrer Maschinerie ein Leichtes sein, den Wagen zu finden und den Fahrer zu überführen.“

      „Sicherlich. Trotzdem eine interessante Situation: Kaum machen Sie auf Detektiv, arbeiten wir beide am selben Fall. Vorschläge für einen Verhaltenscodex?“

      „Ich brauche keinen. Mein Verhalten ist korrekt, ich bewege mich strikt im Rahmen der Gesetze.“

      „Das heißt, Sie werden uns nicht mehr helfen, als Sie müssen - außer Sie haben einen Vorteil davon.“

      „Eine Detektei ist ein Wirtschaftsunternehmen. Wir produzieren Wissen und verkaufen es. Zu verschenken haben wir nichts.“

      „Nette Definition. Was sagen Sie dazu, junger Mann?“

      „Ich stimme vollinhaltlich zu“, behauptete ich. Dass Czordan von ‚wir‘ redete, wenn er von der Detektei sprach, fand ich interessant. Fast so interessant wie sein Verhältnis zu diesem Polizeibeamten. Als würden sie sich schon lange kennen. Wie das, wenn der Alte bisher in Deutschland nie als Detektiv gearbeitet hatte?

      „Das habe ich nicht anders erwartet, schließlich verdienen Sie hier Ihren Lebensunterhalt. Wie viel zahlt Ihnen denn der alte Knauser?“

      Ich fand, die Frage ging zu weit, wurde aber durch einen neuen Besucher einer Antwort enthoben. Es klingelte, und zwar ausdauernd. Jemand nahm den Finger nicht mehr vom Knopf. Vor der Tür stand ein dürres Wrack, das nach Schweiß, Schnaps und Urin stank. Alter und Größe entsprachen denen von Czordan, aber während mein Boss ein Energiebündel und geistig voll da war, jedenfalls an guten Tagen, war mit diesem Menschen nichts mehr anzufangen. Und das vermutlich schon seit vielen Jahren.

      „Heißen Sie Czordan?“, fragte mich der Mann. Er wandte sich ab, ohne auf die Antwort zu warten, und stellte Schmidt dieselbe Frage. Diesmal antwortete er sich gleich selbst: „Nein, Sie sind Polizist.“

      Seine Aussprache war undeutlich. Er redete langsam und bewegte dabei den Kopf, als müsse er den einzelnen Worten nachsehen.

      Vor Czordan baute er sich auf und sagte: „Sie! Meine Frau ist umgebracht worden. Nachdem sie bei Ihnen war.“

      „Setzten Sie sich bitte, Herr Ahner.“

      Doch Ahner blieb stehen. Er stützte sich auf den Schreibtisch und fuhr fort: „Dieses verdammte Herumspionieren, warum haben Sie es ihr nicht ausgeredet? Seit vierzig Jahren sage ich ihr: Steck deine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten, schrei nicht immer gleich nach der Polizei, wenn dir jemand nicht passt.“

      Schmidt warf ein: „Sie war auf dem Revier tatsächlich bekannt. Hat gegen Gott und die Welt Anzeige erstattet - oder es zumindest versucht. Schließlich wurde sie von niemandem mehr ernst genommen.“

      „Diesmal hat sie wirklich ein Verbrechen beobachtet“, sagte Czordan. „Sie ist zu mir gekommen, weil sie wusste, dass die Polizei sie auslachen würde.“

      „Wir haben sie nicht ausgelacht“, widersprach Schmidt scharf.

      „Er hat sie umgebracht!“, schrie Ahner und zeigte auf Czordan. „Anstatt ihr zu sagen, sie soll