Detlef Wolf

Geschwisterliebe


Скачать книгу

kaum auf den Beinen halten. Ihr Höschen war voller Blutflecken im Schritt. Sie hatten ihr übel mitgespielt. Wieder einmal. Vorsichtig löste er den Stoff von der verletzten Haut. Sie stöhnte vor Schmerzen. Tränen schossen in ihre Augen, als er das Blut mit einem feuchten Waschlappen wegtupfte. Wortlos ließ sie die Prozedur über sich ergehen. Schweigend kümmerte sich der Junge um die Verletzungen seiner Schwester. Er wusch sie und trocknete sie ab und preßte ein Papiertaschentuch auf die blutenden Stellen zwischen ihren Beinen, so lange, bis das Bluten aufhörte. Flüchtig betrachtete er ihren Oberkörper. Sie hatte Glück gehabt. Die Gürtelschnalle hatte sie nicht allzu oft getroffen. Drei, vier blutige Schrammen nur auf dem Rücken und zwei am rechten Oberschenkel. Nicht allzu tief. Es hatten sich bereits Krusten gebildet. Striemen hatte sie allerdings reichlich davongetragen. An mehreren Stellen war die Haut aufgeplatzt. Wenigstens blutete es nicht mehr.

      Während das Mädchen still auf dem Badewannenrand sitzen blieb, versuchte er, die Blutflecken so gut es ging aus ihrem Höschen und dem Waschlappen auszuwaschen. Dabei spürte er ihre Hand auf seinem Rücken. Sie wollte nachsehen, ob er irgendwelche Verletzungen davongetragen hatte. Natürlich am Po, aber es war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Ihn hatte die Gürtelschnalle öfter getroffen. Er hatte einige tiefe Schürfwunden auf dem Rücken und den Pobacken. Und natürlich Striemen. Weil er sich bemüht hatte, seine Schwester abzuschirmen, hatte er den Großteil der Schläge abbekommen. Zärtlich strich sie mit den Fingerspitzen über seinen Rücken. Er verstand ihre Geste, drehte sich zu ihr um und lächelte sie an. Sie lächelte zurück, obwohl ihr noch immer die Tränen über die Wangen rannen.

      Er drückte das Wasser aus den beiden Wäschestücken und legte sie zum Trocknen über den Rand der Badewanne. Dann schob er noch einmal sanft ihre Beine auseinander. Blut war jetzt keines mehr zu sehen, nur noch die zerschundene, rote Haut. Er hoffte, daß sich nichts entzündete, denn dann würden ihre Schmerzen beim nächsten mal um so fürchterlicher sein. Und es würde mit Sicherheit ein nächstes Mal geben. Auf eine mögliche Entzündung würde der Alte keine Rücksicht nehmen.

      Er sammelte die Kleidungsstücke auf und half seiner Schwester hinüber in ihr gemeinsames Zimmer. Achtlos ließ er die Sachen auf den Boden fallen. Aus dem Kleiderschrank nahm er ein frisches Höschen und ein T-Shirt. Beides zog er ihr an, bevor er sie behutsam hinlegte und zudeckte. Er zog ebenfalls ein T-Shirt und eine Unterhose über. Schlafanzüge besaßen sie beide nicht. Ebensowenig wie ordentliche Betten. Schlafen mußten sie auf Matratzen, die auf dem Fußboden lagen. Er schob seine Matratze neben die seiner Schwester, schaltete das Licht im Zimmer aus und legte sich hin. Sie hatte wieder angefangen zu weinen. Ob aus Wut oder Verzweiflung oder wegen der Schmerzen, er wußte es nicht. Es war auch gleichgültig. Er schob sich dicht an sie heran und nahm sie tröstend in die Arme. Noch immer hatten sie kein Wort miteinander gesprochen.

      1. Kämpfe

      Der Junge war ganz offensichtlich in Schwierigkeiten. Zwar war er genauso groß wie die anderen drei, aber wesentlich schmächtiger. Gegen diese Übermacht hatte er keine Chance. Sie droschen mit aller Macht auf ihn ein, gleichgültig wohin, wo immer sie ihn trafen. Lange hielt er das Trommelfeuer aus Schlägen und Tritten nicht aus bevor er zu Boden ging. Er krümmte sich zusammen, hielt die Arme schützend vor das Gesicht. Doch das stoppte die drei anderen nicht, ihn weiter zu treten. Mit voller Wucht, in den Leib, vor den Kopf. Der Junge ächzte und stöhnte.

      Stephan beschleunigte seinen Schritt. Er konnte nicht glauben, was er dort sah, mitten auf dem Bahnhofsvorplatz. Passanten machten einen weiten Bogen um die vier Jugendlichen. Niemand griff ein, niemand kümmerte sich um die vier. Er ging geradewegs auf sie zu.

      „Hey, was soll das denn?“ rief er über den Platz. „Hört sofort auf!“

      Sie beachteten ihn nicht. Ungerührt traten sie weiter auf den wehrlosen Jungen ein. Sekunden später war er bei ihnen, riß zwei von ihnen auseinander und schleuderte sie so heftig zur Seite, daß sie zu Boden stürzten. Den dritten setzte er mit einem gezielten Tritt zwischen die Beine außer Gefecht. Er schrie laut auf, knickte zusammen wie ein Klappmesser und fiel auf die Knie. Einen Moment lang sah er Stephan entsetzt ungläubig an, dann beugte er sich zur Seite und erbrach sich heftig. Stephan gab ihm einen Stoß mit dem Fuß, so daß er umkippte und zusammengekrümmt liegen blieb. Dann wandte er sich dem verletzten Jungen zu. Er war bei Bewußtsein, blutete aus der Nase und aus einer Platzwunde über der rechten Augenbraue. Andere Verletzungen konnte Stephan nicht ausmachen.

      Stephan faßte ihn vorsichtig an der Schulter. „Kannst Du aufstehen?“

      Der Junge nickte. Mühsam versuchte er, sich aufzurichten. Stephan half ihm auf die Beine. Allein stehen konnte er nicht. Er mußte sich auf Stephans Schulter stützen.

      Stephan hielt ihn fest. „Geht’s?“

      Der Junge nickte. „Einigermaßen, danke.“

      Aus den Augenwinkeln sah Stephan die zwei Angreifer kommen, die er zur Seite gestoßen hatte. Sie hatten sich aufgerappelt und wollten nun gemeinsam auf ihn losgehen. Er drehte sich um, wollte den verletzten Jungen hinter sich schieben, Aber der fiel gleich wieder hin, sobald Stephan ihn losließ.

      „Habt Ihr noch nicht genug?“ fauchte er die beiden an. „Braucht Ihr noch eine Abreibung?“

      Einer der beiden zog ein Messer und ließ es aufschnappen. Das war jetzt nicht mehr ganz so harmlos. Stephans Augen wurden zu Schlitzen, als er den Jungen mit dem Messer taxierte. Langsam kam er näher, wobei er drohend mit seinem Messer herumfuchtelte. Nein, er fuchtelte nicht, er wußte offensichtlich mit dem Messer umzugehen. Der Kerl war gefährlich. Stephan blieb ruhig stehen und ließ den anderen näherkommen. Aufmerksam verfolgte er jede Bewegung. Der Angreifer hatte das Messer in der Faust, die Klinge nach oben gerichtet, als wolle er Stephan den Leib aufschlitzen.

      Stephan wartete, bis der andere kurz vor ihm stand, bereit, mit dem Messer zuzustoßen. Dann ging alles blitzschnell. Stephan wirbelte um die eigene Achse, sein Fuß fuhr in die Höhe und traf den Arm des Angreifers, mit dem dieser das Messer hielt. Deutlich war zu hören, wie die Knochen brachen. In hohem Bogen flog das Messer davon und landete scheppernd auf dem Pflaster. Dann kam der gellende Schmerzensschrei.

      Stephan kümmerte sich nicht darum. Er sah, daß der andere Schläger sich nach dem Messer bückte. „Denk nicht mal dran!“ rief er dem Kerl zu.

      Der zögerte einen Moment, riß dann aber doch das Messer vom Boden hoch und schleuderte es in Stephans Richtung. Es flog knapp an seinem Kopf vorbei. Stephan rührte sich nicht. Er fixierte seinen Gegenüber, der völlig überrascht war, daß sein Messerwurf danebengegangen war. Eine Sekunde später ging der Junge zu Boden, während Stephan scheinbar immer noch auf dem selben Fleck stand, als wenn nichts geschehen wäre. Einzig ein lautes Knacken und ein weiterer Schmerzensschrei kündeten davon, daß Stephen ihm den Unterschenkel gebrochen hatte. Laut wimmernd wälzte sich der Angreifer auf dem Pflaster. Stephan sah sich nach den beiden anderen um. Beide waren außer Gefecht gesetzt. Einer stand da und hielt sich stöhnend seinen gebrochenen Arm, der andere saß mit glasigen Augen auf dem Boden. Der verletzte Junge war ein Stück weggekrochen und blickte ungläubig in die Runde. Einige Passanten waren stehengeblieben und sahen dem Schauspiel zu ohne einzugreifen. Andere gingen kopfschüttelnd vorbei.

      Stephan wandte sich an den Jungen. Panisch vor Angst und unfähig, sich zu bewegen, saß er da und starrte Stephan an. Der legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.

      „Keine Angst, Junge, ich tu Dir nichts“, sagte er, zog sein Handy aus der Jackentasche und wählte den Notruf der Polizei. „Ich habe hier einen mit einem gebrochenen Arm, einen mit einem gebrochenen Bein, einen, der für längere Zeit mit Mädchen nichts mehr anzufangen weiß und einen, der blutet wie verrückt und von dem ich nicht weiß, was er sonst noch hat. Es wäre gut, wenn Sie einen Krankenwagen schicken könnten und einen Arzt, und es wäre auch nicht schlecht, wenn Sie selbst ebenfalls vorbeischauen könnten.“

      Stephan sprach mit vollkommen ruhiger Stimme. Er beantwortete die Frage nach seinem Namen und dem Ort, an dem er sich befand und versicherte, er werde selbstverständlich dort bleiben und warten. Dann schaltete er das Handy wieder aus und steckte es in die Jackentasche