Detlef Wolf

Geschwisterliebe


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Arzt hob die Hand, setzte sich in sein Auto und fuhr davon. Die Polizisten hatten sich inzwischen den Kerl vorgenommen, den Stephan zwischen die Beine getreten hatte. Die anderen beiden wurden gerade von den Sanitätern ziemlich grob in den zweiten Krankenwagen verfrachtet. Sie konnten keine Fragen beantworten, da sie ständig vor Schmerzen schrieen. Stephan stellte sich zu den Beamten. Der eine gab ihm seinen Personalausweis zurück.

      „Ich nehme an, Sie brauchen mich nicht mehr?“ fragte er.

      Der Polizist schüttelte den Kopf. „Nicht im Moment. Aber wir müssen noch Ihre Aussage zu Protokoll nehmen. Auf dem Revier. Wann können Sie kommen?“

      „Morgen um diese Zeit, ist das okay?“

      „Ja, das paßt gut. Dann haben wir wieder Dienst, und Sie können uns die ganze Sache ausführlich erzählen.“

      Stephan nickte und hob seine Hand. Zum Gruß und zum Zeichen, daß er jetzt gehen würde. Der Beamte winkte ebenfalls.

      ***

      Er traf das Mädchen eine Straßenecke weiter. Es hatte sich in einer Hofeinfahrt verborgen und kam heraus, als es ihn kommen sah. Er faßte es am Ärmel und zog es in die Hofeinfahrt zurück.

      „Die Polizei ist noch immer in der Nähe“, erklärte er. „Wenn sie zufällig gleich hier durchfahren, brauchen sie uns nicht unbedingt zu sehen.“

      Das Mädchen warf ihm einen scheuen Blick zu. Dann sah es wieder zu Boden.

      „Deinen Bruder haben sie mitgenommen ins Krankenhaus. In zwei Stunden können wir ihn besuchen. Er legte ihr die Hand auf den Oberarm. Sie zuckte zurück.

      „Was ist mit ihm?“ fragte sie leise.

      „Wahrscheinlich hat er eine Gehirnerschütterung. Der Rest ist nur äußerlich. Gebrochen haben sie ihm jedenfalls nichts.“

      Er griff wieder nach ihrem Arm. Diesmal hielt er ihn fest.

      „Aber jetzt mal raus mit der Sprache. Warum hattest Du Angst vor der Polizei?“

      Sie zuckte die Achseln. „Nur so.“

      Stephan wurde ärgerlich. „Nur so. Erzähl mir doch keinen Scheiß, Mädchen. Keiner hat Angst vor der Polizei ’nur so’. Also was ist los? Habt Ihr was angestellt?“

      Sie schüttelte den Kopf. Eine Weile schwieg sie. Stephan wartete auf ihre Antwort.

      „Wenn unser Vater mitkriegt, daß wir mit der Polizei zu tun hatten, schlägt er uns windelweich“, brach es schließlich aus ihr hervor.

      Stephan war schockiert. „Wie bitte? Aber Ihr habt doch gar nichts gemacht.“

      „Das ist dem doch egal. Außerdem, wenn er besoffen ist, kriegt er das ohnehin nicht mit. Und meistens ist er besoffen.“

      „Und Eure Mutter?“

      „Die sagt nichts. Die sagt nie was, weil sie die erste ist, die was abkriegt. Meistens merkt sie aber nichts davon, weil sie selber besoffen ist.“

      Sie fing leise an zu weinen. Stephan wußte nicht, was er machen sollte. Als sie nicht aufhörte, wollte er sie einfach in den Arm nehmen. Mit einem leisen Schrei wich sie zurück.

      Er hob beide Hände hoch. „Um Gottes Willen, ich will Dir doch nichts tun“, rief er erschrocken. Er wartete, bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte. Dann fragte er sie: „Wie alt seid Ihr beide eigentlich?“

      „Ich bin fünfzehn, Kevin ist dreizehn.“

      Stephan sah sie erstaunt an. Damit hatte er nicht gerechnet. Schmächtig wie sie war, hätte er sie für wesentlich jünger gehalten. Ihre viel zu weite Kleidung tat ein übriges dazu. Sie sah ziemlich abgerissen aus, obwohl ihre Sachen sauber zu sein schienen. Trotz allem machte sie einen gepflegten Eindruck. Ihre Haare glänzten und waren ordentlich gekämmt. Sie hatte ein bildhübsches Gesicht. Allerdings lag eine Trostlosigkeit in ihren Augen, die ihn erschreckte.

      „Ich bin übrigens der Stephan“, stellte er sich vor. „Ich bin einundzwanzig.“

      Scheu reichte sie ihm die schmale, feingliedrige Hand. „Danke, daß Du Kevin geholfen hast“, sagte sie. Kaum daß Stephan sie berührt hatte, zog sie die Hand wieder zurück.

      „Keine Ursache“, antwortete Stephan. „Warum sind die drei eigentlich auf Deinen Bruder losgegangen?“

      „Ach, eigentlich wollten sie gar nichts von ihm. Hinter mir waren sie her. Das haben sie schon öfter gemacht. Einmal haben sie mich erwischt. Sie wollten, daß ich mich ausziehe. Aber ich hab das nicht gemacht. Ich konnte abhauen. Da haben sie alle meine Schulsachen kaputtgemacht, Bücher und Hefte zerrissen und in den Matsch geworfen. Den Rucksack haben sie mitgenommen. Der Haustürschlüssel war weg, mein Portemonnaie mit der Fahrkarte für den Bus, alles eben. Der Alte hat mich so verdroschen, daß ich eine ganze Woche nicht in die Schule gehen konnte. Heute hat Kevin sich ihnen in den Weg gestellt, damit ich wieder weglaufen konnte. Naja, was dann passiert ist, hast Du ja gesehen. Und jetzt ist er im Krankenhaus, und ich werde dafür die Prügel kriegen.“ Sie fing wieder an zu weinen.

      „Keiner wird Dich verprügeln, das verspreche ich Dir. Gleich gehen wir erst mal ins Krankenhaus und sehen, wie’s Kevin geht. Dann kommst Du mit zu mir, und dann sehen wir weiter.“

      „Muß Kevin denn im Krankenhaus bleiben?“

      „Wahrscheinlich. Sie werden ihn ein paar Tage dabehalten wollen. Mit so ‘ner Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen. Da kann leicht was zurückbleiben. Selbst wenn er aus dem Krankenhaus rauskommt, muß er sich verdammt vorsehen. Viel liegen, kein Sport, und er darf sich den Kopf nirgendwo anknallen.“

      Sie lachte bitter. „Das hat sich spätestens dann erledigt, wenn mein Vater ihm die erste Ohrfeige verpaßt hat. Also spätestens, wenn er die Wohnungstür hinter sich zugemacht hat.“

      „Das werden wir ja sehen“, antwortete Stephan.

      Er sah das Mädchen an. „Du bist wirklich sehr hübsch, kein Wunder, daß die Kerle auf Dich abfahren.“

      Sie zuckte mit den Schultern. „Das gibt sich, wenn mein Vater mich in der Mache hatte.“

      „Wo ist er jetzt?“

      Sie sah auf ihre Armbanduhr. Ein billiges Modell aus dem Kaufhaus. „Halb drei, da wird er mit seiner zweiten Flasche Schnaps angefangen haben und eine neue Packung Fluppen aufreißen. Auf der Couch, vor der Glotze.“

      „Er arbeitet nicht?“

      Nicole lachte bitter. „Der? Arbeiten? Wie kommst Du denn auf sowas?“

      „Und Deine Mutter?“

      „Die schon. Die putzt. Schwarz. Nachmittags und nachts. Zum Abendessen saufen sie zusammen. Wenn er sie nicht gerade verprügelt oder fickt. Meistens macht er das, nachdem er sie geprügelt hat.“ Ihre Stimme klang völlig verbittert. „Wir machen uns dann immer unsichtbar, damit er uns ja nicht erwischt. Erst wenn sie zu ihrer Arbeit verschwunden und er vom Schnaps eingeschlafen ist, machen wir uns schnell was zu essen, bevor wir ins Bett gehen. Meistens haben wir Glück, und er merkt nichts. Wenn doch, gibt’s statt Abendessen eine Tracht Prügel. Kevin kriegt dann immer das meiste ab, weil er versucht, mich da rauszuhalten.“

      „Ihr versteht Euch gut, Du und Dein Bruder?“ fragte Stephan.

      „Was bleibt uns übrig? Wir haben ja sonst niemanden.“

      Stephan überlegte einen Moment. Dann sagte er: „Paß auf. Wir gehen jetzt zu Euch, Du packst ein paar Sachen ein für Dich und Deinen Bruder, dann gehen wir ins Krankenhaus , sehen, wie’s ihm geht und danach nehm ich Dich mit zu mir. Wenn Du willst.“

      Sie sah ihn erschrocken an. „Bist Du verrückt geworden? Es ist doch noch heller Nachmittag. Wenn ich jetzt nach Hause komme, ist der Alte gereizt wie ein Kettenhund. Da hat er doch erst eine Flasche weg. Da ist er doch noch total nüchtern. Der schlägt mich glatt tot.“

      „Das wird er nicht tun.