billige Mietskasernen, heruntergekommen. Die Bewohner waren oft arbeitslos, viele Zugewanderte unter ihnen. Die Polizei war ständig dort im Einsatz. Schlägereien, Randale, das Übliche eben, wenn Menschen zuviel Zeit haben und zuviel Alkohol im Spiel ist. Keine Gegend jedenfalls, in der man gerne wohnte.
Nicole ging stumm neben ihm her. Sie hatte Angst, das konnte er spüren. Er dachte nach über das, was sie gesagt hatte. Nicht nur Verbitterung, auch vollkommene Hoffnungslosigkeit hatten aus ihren Worten geklungen. Offensichtlich machte sie sich mit ihren fünfzehn Jahren keine Illusionen mehr. Sie tat ihm leid.
Wie er vermutet hatte, steuerte sie auf eine der Mietskasernen zu. Vor dem Haus stand eine Gruppe Jugendlicher. Sie rauchten und tranken Bier aus Dosen. Einer warf die leere Bierdose Stephan vor die Füße. Stephan kickte sie wortlos zur Seite.
„Hey, Nicole“, brüllte ein anderer. „Ist das Dein neuer Stecher?“
Nicole gab ihm keine Antwort. Sie senkte den Kopf und ging mit schnellen Schritten auf das Haus zu. Der Kerl lief ihr nach und riß sie an der Schulter herum.
„Ich hab Dich was gefragt, Du blöde Fotze“, schrie er sie an.
Im Nu war Stephan bei ihr. Er packt den Schreihals am Kragen und riß ihn von dem Mädchen weg. Dann gab er ihm eine schallende Ohrfeige.
„Noch so ‘n Spruch, und Dir fehlen ein paar Zähne“, drohte er.
Der andere grunzte und ging auf Stephan los. Stephan ließ ihn herankommen, dann wich er blitzschnell aus und ließ ihn ins Leere laufen. Schäumend vor Wut drehte der andere sich um und griff erneut an. Stephan rührte sich nicht von der Stelle. Siegesgewiß holte der andere zum Schlag aus. Stephan wirbelte herum, riß den Fuß hoch und trat dem Angreifer mit Wucht gegen das Brustbein. Der Tritt war wohldosiert. Der Kerl blieb unverletzt, aber es trieb ihm sämtliche Luft aus den Lungen. Er taumelte rückwärts und knallte auf den Boden.
Stephan drehte sich zu den anderen um. „Noch jemand?“ fragte er provozierend.
Die Krakeeler verzogen sich murrend.
Stephan faßte Nicole am Arm und zog sie mit sich auf das Haus zu. „Sieht nicht so aus“, murmelte er.
***
Nicole zögerte einen Moment, bevor sie die Wohnungstür aufschloß. So leise wie möglich öffnete sie die Tür, schlich in den Flur und winkte Stephan, ihr zu folgen. Gerade wollte sie in ihrem Zimmer verschwinden, da wurde die Wohnzimmertür aufgerissen. Ein Schwall abgestandener Luft schlug Stephan entgegen. In der Tür stand ein Koloß von einem Mann. Strubbelige Haare, Dreitagebart, verschwitztes, fleckiges Unterhemd, eine ebenso dreckige, völlig versiffte Trainingshose. Der Mann stierte sie aus blutunterlaufenen Augen an.
„Was willst Du hier?“ brüllte er das Mädchen an. „Ich denke, Du bist in der Schule? Statt dessen schleppst Du mir Deine Stecher ins Haus, Du Flittchen. Na warte, Dir werd ich’s zeigen.“
Stephan rührte sich nicht vom Fleck. Während er den Mann ansah, schob er das verängstigte Mädchen hinter sich. „Guten Tag, Herr Zervatzky. Wir sind nur gekommen, um ein paar Sachen für Nicole zu holen. Dann sind wir schon wieder weg, und Sie können in Ruhe weitersaufen.“
Zervatzky stieß einen unartikulierten Grunzlaut aus und wollte sich auf Stephan stürzen. Der wich ihm geschickt aus. Zervatzky verlor das Gleichgewicht und knallte gegen die Garderobe. Einer der hölzernen Haken brach ab.
„Hoppala, sind Sie vorsichtig, Herr Zervatzky, sonst verletzen Sie sich noch“, sagte Stephan mit gespielter Freundlichkeit.
Der Koloß rappelte sich auf und drehte sich langsam um. Er bebte vor Wut am ganzen Körper. Stephan sah, daß er sich wieder auf ihn stürzen wollte. Gefährlich leise sagte er: „Ich würde das lassen, Herr Zervatzky. Sonst kann es passieren, daß sie ein paar Wochen lang weder Schnapsflasche noch Zigarette halten können.“
Doch der wutschnaubende Mann hörte nicht auf ihn. Im Nu war er heran.
„Ich hab Sie gewarnt“, sagte Stephan noch.
Dann machte er ein paar schnelle Bewegungen Zervatzky fiel zu Boden und brüllte wie ein Stier. Stephan hatte ihm beide Schultern ausgekugelt und beide Unterarme gebrochen. „Sie wollten ja nicht hören“, sagte er ruhig.
Dann drehte er sich zu Nicole um. „Pack ein paar Sachen zusammen. Für Dich und Deinen Bruder. Ich kümmere mich derweil um den hier.“
Er wartete, bis Nicole in ihrem Zimmer verschwunden war, dann setzte er den immer noch brüllenden Mann mit einem gezielten Handkantenschlag gegen den Hals außer Gefecht. Das Brüllen verstummte augenblicklich. Stephan zerrte Zervatzky zurecht, setzte ihn aufrecht in eine Ecke gegenüber der Wohnungstür damit er nicht umfallen konnte. So konnte er nicht an seiner eigenen Kotze ersticken. Und kotzen würde er, spätestens wenn er wieder zu sich kam, dessen war Stephan sich sicher. Dann ging er zu Nicole in ihr Zimmer.
Was er sah, versetzte ihm einen Schock. Zwei Matratzen lagen auf dem nackten Fußboden, bezogen mit Bettlaken, die seit Monaten nicht gewechselt waren. Decken und Kissen darauf waren ebenfalls schmutzig und lagen zusammengeknüllt in einer Ecke. Am Fenster stand ein alter Küchentisch mit zwei Stühlen. Darauf stapelten sich Schulbücher und Hefte. Nicole stand vor einem baufälligen Sperrholzkleiderschrank, dem eine der beiden Türen abhanden gekommen waren und stopfte wahllos Unterwäsche, T-Shirts, Jeans und Pullover in eine große Sporttasche. Ansonsten war der Raum leer. Die Tapete war teilweise heruntergerissen, die Gardinen vor den Fenstern fehlten. Statt dessen stand davor eine große Papptafel, offensichtlich um das Fenster nachts abzudunkeln. Es gab kein einziges Bild oder Poster oder Plakat an den Wänden, von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne.
„Hier wohnt ihr?“ fragte Stephan entsetzt.
Nicole nickte und zog den Reißverschluß ihrer Sporttasche zu.
„Ich fasse es ja nicht“, murmelte Stephan.
„So, fertig“, sagte das Mädchen.
„Dann laß uns gehen.“
Als sie auf den Flur hinaustraten, sah Nicole ihren Vater bewußtlos in der Flurecke auf dem Boden sitzen.
„Wir können den doch hier nicht einfach so liegenlassen.“
„Doch, können wir“, entgegnete Stephan. „Dem kann nichts passieren. Soll sich Deine Mutter um ihn kümmern, wenn sie nach Hause kommt.“
***
Als sie aus dem Haus kamen, standen die Jugendlichen wieder zusammen. Zwei stützten ihren angeschlagenen Kumpel. Wütend blickten sie zu Stephan hinüber und schüttelten die Fäuste. Stephan beachtete sie nicht. Er trug die Sporttasche mit Nicoles und Kevins Sachen darin.
„Gibt’s hier ’ne Bushaltestelle?“ fragte er Nicole.
Sie nickte. „Da vorn an der Ecke.“
Der Bus war fast leer. Nicole saß schweigend neben Stephan. Er hielt die Sporttasche auf seinen Oberschenkeln. Immer wieder sah sie ihn verstohlen von der Seite an. Offensichtlich hatte sie immer noch Angst.
„Was ist los mit Dir?“ erkundigte er sich.
„Du bist ziemlich stark“, sagte sie leise.
Stephan schüttelte den Kopf. „Nein, bin ich nicht. Aber ich kenne ein paar Tricks, wie man solche wie die von eben los wird.“
„Was hast Du mit dem Alten gemacht?“
„Ich hab ihm die Arme gebrochen. Der schlägt so schnell niemanden mehr. Für die nächsten Wochen ist er auf Deine Mutter angewiesen. Ich hoffe, er lernt seine Lektion.“
„Vergiß es“, erwiderte Nicole bitter. „Der lernt nichts. Der hat noch nie was kapiert.“
Stephan zuckte die Achseln. „Sein Problem.“
Nicole sah ihn an. „Warum tust Du das?“
„Was? Deinem Vater die Knochen brechen? Er wollte mir an die Wäsche, das hast Du