dann wieder hingehen. Wann hast Du das letzte Mal richtig geschlafen?“
Sie zog die Schultern hoch. „Weiß nicht.“
„Sie holen Dich oft, nicht wahr?“
Sie fing wieder an zu weinen. Er widerstand der Versuchung, sie in den Arm zu nehmen. Statt dessen holte er ihr nur ein Papiertaschentuch. Sie schneuzte sich laut und kräftig.
„Einmal hat Kevin sie daran hindern wollen. Sie haben ihn fast totgeschlagen. Seitdem macht er nichts mehr.“
„Du liebst Deinen Bruder?“
Sie zuckte die Achseln. „Weiß nicht. Ich hab niemanden sonst. Er versucht, mich zu beschützen. Und er ist der einzige, mit dem ich reden kann.“
„Hast Du keinen Freund?“
Sie schüttelte den Kopf. „Wie denn? Wenn ich einen Freund hätte, wollte der auch irgendwann, daß ich mich ausziehe. Und Du hast ja gesehen, wie ich aussehe.“
„Dein Bruder weiß es auch?“
„Na klar. Wir wohnen ja zusammen in einem Zimmer. Da läßt sich das nicht vermeiden. Außerdem sieht er genauso aus.“
„Sie machen’s mit ihm auch?“
Nicole nickte. „Schon lange. Aber mittlerweile ist es ihm egal. Genau wie mir. Wenn Du stillhältst, ist es schnell vorbei. Dann lassen sie Dich wieder gehen.“
Stephan war fassungslos über das, was er da hörte. Auf ihrem Gesicht stand tiefste Verzweiflung. Hoffnungslosigkeit. Sie schien ziemlich am Ende zu sein.
„Möchtest Du was trinken? Oder möchtest Du lieber schlafen gehen?“ fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern.
Er stand auf, ging in die Küche und kam mit zwei Gläsern Rotwein zurück. Er gab ihr eins davon in die Hand.
„Hier. Eigentlich solltest Du sowas noch gar nicht trinken, aber, ich denke, heute wird es Dir guttun. Man schläft gut danach. Und das sollst Du.“
Sie nippte an ihrem Glas.
„Schmeckt er Dir?“
Sie nickte.
„Das ist ein Cabernet-Sauvignon von Stellenbosch aus Südafrika“, klärte er sie auf, nur um etwas Belangloses zu sagen. „Ich mag den ganz gern.“
Es half nicht. Sie saßen sich gegenüber und schwiegen sich an. Nach einer Weile stand sie auf. „Ich glaub, ich geh jetzt schlafen.“
Stephan blieb sitzen. Er sah sie an und nickte. „Mach das.“
Leise zog sie die Tür hinter sich ins Schloß. Er blieb noch eine Weile sitzen und trank seinen Wein aus. Sie hatte von ihrem kaum genippt. Er überlegte einen Moment, ob er ihr Glas ausschütten sollte. Dann entschied er sich dagegen. Es wäre einfach zu schade drum. Er setzte sich wieder und nahm einen Schluck. Nachdenklich betrachtete er die dunkelrote Flüssigkeit in dem bauchigen Glas.
Was sollte er jetzt tun. Plötzlich waren die zwei in sein wohlsortiertes Leben eingebrochen und hatten ein heilloses Durcheinander angerichtet. Es war offensichtlich, daß sie dringend Hilfe brauchten. Halbe Kinder noch, die von einem gewalttätigen Vater gezwungen wurden, sich mißbrauchen zu lassen, während die Mutter dabeistand und nichts unternahm. Sie taten ihm leid. Aber was sollte er machen? Er könnte sie zu sich nehmen. Das Haus war allemal groß genug für drei Personen. Aber würde das geduldet werden? Auf jeden Fall wollte er sie nicht wieder in das Dreckloch zurückschicken, in dem sie jetzt hausten. Wohin aber sonst? Er wußte sich keinen Rat. Frustriert leerte er das Glas, brachte es in die Küche und ging nach oben in sein Schlafzimmer.
Es war der größte Raum in der oberen Etage mit einer riesigen Fensterfront an der Längsseite, gegenüber der Tür, die durch eine Schrankwand führte, welche sich über die gesamte innere Längswand hinzog. An der rechten Seitenwand stand das große Doppelbett, mitten im Raum ein runder Glastisch mit zwei Sesseln. Durch eine Tür in der linken Seitenwand gelangte man in das Badezimmer, ähnlich ausgestattet war, wie das, was Stephan Nicole vorher gezeigt hatte. Allerdings war die Badewanne noch ein Stück größer, und die Toilette war in einem separaten Raum untergebracht.
Stephan öffnete die Tür in der Glaswand, und trat hinaus auf den Balkon, der sich an drei Seiten um den hinteren Teil des Hauses herumzog und von allen Zimmern aus zugänglich war. Er legte die Hände auf die Brüstung und sah in den Garten hinunter. Es hatte aufgehört zu regnen, aber es wehte ein kühler Wind, der den Aufenthalt hier draußen ungemütlich machte. Stephan widerstand der Versuchung, über den Balkon zu Nicols Zimmer zu gehen und nach ihr zu sehen. Er hätte sich gerne versichert, daß es ihr gutging. Aber wenn sie die Jalousien heruntergelassen hatte, konnte er sowieso nichts erkennen. Anderenfalls hätte er sie nur erschreckt. Also ging er wieder hinein, schloß die Balkontür und ließ die Rolläden herunterfahren.
Er zog sich aus und legte sich ins Bett. Aber er konnte nicht einschlafen. Unruhig wälzte er sich hin und her. Die Ereignisse des vergangenen Tages gingen ihm durch den Kopf. Auf was hatte er sich da eingelassen? Was machte er mit dem Mädchen, das da eingeschüchtert und verängstigt im Nachbarzimmer lag? Und mit dem Jungen, der in einigen Tagen aus dem Krankenhaus entlassen wurde? Eins war sicher, in ihr altes Zuhause würde er sie nicht zurücklassen. Sie zu sich zu nehmen wäre dagegen kein Problem. Platz hatte er mehr als genug. Aber würde er sich ausreichend um sie kümmern können? Was sollte er, ein Einundzwanzigjähriger, der gerade dabei war, sich seinen Platz im Leben zu erobern, mit einer Fünfzehnjährigen und einem Dreizehnjährigen anfangen? Würden sie überhaupt bei ihm bleiben wollen? Und würde man gestatten, daß sie bei ihm blieben, wenn die Beiden es denn wollten? Auf keine der Fragen hatte er eine Antwort.
Nicole gingen ähnliche Gedanken durch den Kopf. Auch sie lag schlaflos in ihrem Bett. Sie hatte sich das Zimmer links neben dem Bad ausgesucht, das anscheinend einmal ein Mädchenzimmer gewesen war. Die Farbe der Wände, des Teppichbodens und der Polster der Sessel deuteten darauf hin. Das Zimmer war groß und großzügig eingerichtet. Die Wand zum Badezimmer wurde von eingebauten Schränken und Regalen eingenommen, die allesamt leer geräumt waren, ebenso wie der Schreibtisch an der Stirnwand, unter dem Fenster zum Balkon. Die Couch ließ sich in ein bequemes Bett umwandeln, davor ein niedriger Glastisch mit zwei Drehsesseln. Fernseher und Musikanlage waren in die Schrankwand eingebaut, ebenso wie ein kleiner Kühlschrank, ähnlich dem, die man aus Hotelzimmern kennt. Eine Tür neben dem Schreibtisch führte hinaus auf den Balkon.
Nicole hatte die Jalousien heruntergelassen und die Türen verriegelt, bevor sie sich auszog und ins Bett legte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in einem richtigen Bett geschlafen zu haben. Schon als kleine Kinder waren sie und ihr Bruder gezwungen gewesen, sich mit auf dem Fußboden liegenden Matratzen zu begnügen. Es gab keine richtigen Kissen und Decken, das einzige war ein Bettlaken, auf dem sie monatelang liegen mußten, bevor sie es wechseln durften. Jetzt, in dem weichen und bequemen, frisch bezogenen Bett mit einer richtigen Bettdecke und ordentlichen Kopfkissen kam sie sich vor wie im Paradies. Wenigstens diese eine Nacht wollte sie es genießen.
Und dieser Stephan schien sie tatsächlich in Ruhe zu lassen. Vielleicht wollte er ja wirklich nichts von ihr. Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bevor sie wieder in die vergammelte Mietwohnung ihrer Eltern zurückmußte. Wahrscheinlich morgen schon. Der kurze Ausflug in eine andere Welt, die sie bislang nur aus dem Fernsehen oder aus Zeitschriften kannte, die ihr hin und wieder in die Hände fielen, würde wohl bald wieder zu Ende sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß man so wohnen konnte. Ebensowenig wie sie sich vorstellen konnte, daß einer wie Stephan sie und ihren Bruder lange bei sich haben wollte. Verzweifelt dachte sie daran, am nächsten oder übernächsten Tag wieder weggeschickt zu werden. Sie fing an zu weinen und weinte noch immer, als sie schließlich doch einschlief.
2. Einzug
Nicole wachte auf, weil das Tageslicht durch die Ritzen der Jalousien in den Raum fiel. Erschrocken stellte sie fest, daß es bereits nach acht war. Schnell sprang sie aus dem Bett. Die Schmerzen in ihrem Unterleib waren schlimmer geworden. Sie