Vater. Als sie den Jungen hierhergebracht haben, bin ich mit ihr zu ihr nach Hause gegangen. Der Alte war da und wollte auf sie los. Ich hab ihn daran gehindert. Sie werden ihn wohl bald hier haben. Tun Sie mir nur einen Gefallen und legen Sie ihn nicht zu seinem Sohn aufs Zimmer.“
„Und das Mädchen?“
„Das nehm ich erst mal mit zu mir.“
Sie sah ihn prüfend an. „Aber Sie werden ihr nichts tun?“
Er hielt ihrem Blick stand. „Nein, ich werde ihr nichts tun. Ich will nur nicht, daß sie in das Dreckloch zurückkehrt, in dem sie hausen muß.“
„Wie lange wollen sie sie denn bei sich behalten?“
„Keine Ahnung. Das muß sich ergeben. Morgen gehe ich erstmal zur Polizei und mache meine Aussage. Danach werde ich wahrscheinlich mit dem Jugendamt reden. Vielleicht können die ja was machen.“
„Sie meinen’s ernst, oder?“
„Die beiden tun mir leid“, antwortete Stephan nur.
„Kommen Sie morgen wieder?“
„Ja, sicher. Wie lange muß der Junge denn hierbleiben?“
„Der Doktor meinte, ein, zwei Tage. Aber dann…“
„Ich weiß. Dann muß er viel liegen, darf sich nicht anstrengen und so weiter. Er hat eine Gehirnerschütterung. Ich weiß nicht, ob er die bei sich zu Hause auskurieren kann. Jetzt, wo der Alte weg ist, vielleicht. Wir werden sehen.“
„Ich rede mit dem Arzt. Mal sehen, was sich machen läßt. Sprechen Sie mich auf jeden Fall morgen nochmal an. Und jetzt wäre es besser, wenn Sie ihn allein ließen. Er braucht Ruhe.“
Stephan nickte. Er ging zurück in das Krankenzimmer. Nicole saß noch immer auf der Stuhlkante. Sie und ihr Bruder sahen sich schweigend an.
„Wir sollten jetzt gehen“, sagte Stephan. „Die Schwester meint, Kevin braucht Ruhe.“
Sofort stand das Mädchen auf, hob die Hand zum Abschied und wandte sich von ihrem Bruder ab.
„Wir kommen auf jeden Fall morgen wieder“, versprach Stephan und legte seine Hand auf die des Jungen. Kevin zog seine Hand weg, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen.
„Mach’s gut, Kevin“, sagte Stephan, nahm die Sporttasche auf und ging hinter Nicole her, die bereits in der Tür stand. Schweigend verließen sie das Krankenhaus. Es regnete noch immer. Die Luft war zwar warm, aber Stephan sah, daß das Mädchen in seinem dünnen T-Shirt fröstelte. An der Bushaltestelle mußten sie ewig auf den Bus warten. Als er endlich kam, waren sie beide völlig durchnäßt.
***
Sie fuhren bis zur Endhaltestelle vor der Stadt. Stephan ging mit ihr auf einem geteerten Feldweg zwischen Getreidefeldern hindurch. Nicole fühlte sich unbehaglich, um so mehr, je weiter sie sich von der Stadt entfernten. Aber sie stellte keine Fragen. Sie lief einfach stumm neben Stephan her. Zehn Minuten später kamen sie an ein eingezäuntes Grundstück. Eine übermannshohe, dichte Hecke hinter dem Zaun versperrte den Blick darauf. Ein großes, schmiedeeisernes Tor schloß die Einfahrt gegen die Straße ab. Stephan hob den Deckel eines kleinen Metallkästchens an, das am linken Torpfeiler montiert war. Er tippte einen fünfstelligen Code in das Zahlenfeld, das sich in dem Kästchen befand. Das Tor öffnete sich langsam.
Der gepflasterte Weg dahinter schlängelte sich durch eine Wiese, zwischen gepflegten Beeten und sorgsam gestutzten Büschen hindurch zu einer Gruppe von Häusern, die ursprünglich ein Bauernhof gewesen sein mochten. Der gepflasterte Platz vor dem Eingang war von hohen, alten Bäumen gesäumt. Das Wohnhaus, die Scheune und ein weiteres, kleineres Gebäude, ursprünglich vermutlich ein Geräteschuppen, die um den Vorplatz herum in einem Halbkreis zueinander standen, waren behutsam renoviert worden, ohne den ursprünglichen Charakter des Hofes zu zerstören. Beide Nebengebäude waren mit dem Wohnhaus durch gläserne, überdachte Gänge verbunden.
Neben der schweren, hölzernen Haustür befand sich wiederum ein Metallkästchen mit einer Tastatur darin. Stephan gab den Code ein, die Haustür öffnete sich. Er winkte Nicole, einzutreten. Überrascht blieb das Mädchen an der Tür stehen, als es die riesige Eingangshalle sah, die sich bis ins Dach hinauf erstreckte. Der Fußboden war mit schwarzem Marmor ausgelegt, in der Mitte der Halle plätscherte ein Marmorbrunnen, dessen Rand einen umlaufenden Blumenkasten bildete. Die Blumen darin blühten in kräftigen Farben. Rechts vorne gab es eine großzügige Garderobe, an der Stephan seine Jacke aufhing. Links, gegenüber ein kleiner Raum, offenbar eine Gästetoilette. Dahinter eine offenstehende Tür zu einem großen Arbeitszimmer. Die ebenfalls offene Tür gegenüber führte in die Küche. Dazwischen mündeten die gläsernen Gänge zu den anderen Gebäuden. Sie waren mit Glastüren abgeschlossen. Weiter hinten gelangte man über eine geschwungene Holztreppe mit geschnitztem Geländer nach oben auf eine Art Empore, die nach vorne hin und zu beiden Seiten mit dem gleichen Holzgeländer abgeschlossen wurde. Von der Empore gingen mehrere Türen ab, die allesamt geschlossen waren. Hinter der Treppe befand sich eine große Flügeltür, durch die offensichtlich ins Wohnzimmer kam. Mehrere riesige Topfpflanzen standen in der Eingangshalle und nahmen dem Raum die Kälte und die Unpersönlichkeit. Sie wurden von weichem Licht aus mehreren Strahlern angeleuchtet. Ansonsten war die Halle durch indirekte Beleuchtung in ein angenehmes Licht getaucht.
Eine graugetigerte Katze tauchte auf und strich Stephan um die Beine.
„Das ist Napoleon, genannt Polo“, stellte Stephan das Tier vor. „Seine Frau heißt Katharina die Große, genannt Katie. Die ist ein bißchen scheu und versteckt sich wohl.“ Er bückte sich und kraulte den Kater. Das Tier hob den Kopf und maunzte.
„Ja, ich weiß, Du hast Hunger“, sagte Stephan.
Er ging in die Küche. Der Kater lief hinter ihm her. Nicole blieb bewegungslos in der Eingangshalle stehen.
„Kommst Du?“ rief Stephan aus der Küche.
Zaghaft ging sie hinein.
Auch die Küche war ungewöhnlich groß, beinahe geeignet, ein kleines Restaurant daraus zu versorgen. Eine Kochinsel in der Mitte des Raumes unter einer großen Dunstabzugshaube barg einen Sechs-Flammen Induktionsherd und gegenüber ein Waschbecken. Zu beiden Seiten gab es großzügige Arbeits- und Ablageflächen. Die Stirnwand war mit Geräteschränken bestückt. Ein großer Gefrierschrank reihte sich neben einen ebenso großen Kühlschrank, es gab einen Mikrowellenherd, zwei Backöfen, Spülmaschine, eine Eiswürfelmaschine und einen kleinen Dampfgarer. Über die Länge der Seitenwand neben der Eingangstür zog sich eine Arbeitsplatte hin, in die zwei Spülbecken und das Ablaufblech eingebaut waren. Darüber Hängeschränke, deren Türen nach oben aufgefaltet wurden. Die gegenüberliegende Seitenwand war die Fensterwand mit einer Glastür in den Garten. Vor dem Fenster stand ein großer, runder Eßtisch mit vier Stühlen. Unter dem Fenster, neben der Tür gab es ein Loch in der Wand mit einer Holzklappe darin, durch das die Katzen schlüpfen konnten Die vierte Wand bestand vollständig aus Einbauschränken, darin in der Mitte die Tür zum Eßzimmer.
Die Küche war tipp-topp aufgeräumt und blitzte vor Sauberkeit.
„Sag mal, wieviele Leute wohnen denn hier?“ fragte Nicole fassungslos. „Das ist ja riesig.“
Stephan lachte. Er gab der Katze zu fressen. „Komm, ich zeig Dir das Eßzimmer“, sagte er.
Der Raum war lang und schmal, ausreichend groß für einen Eßtisch mit zwölf Stühlen und eingebaute Büffetschränke an beiden Längsseiten. Darüber an der einen Längswand große Fenster zum Garten, in den man durch eine Flügeltür an der schmalen Seite des Raumes gelangte. Eine ebensolche Tür an der anderen Längswand führte ins Wohnzimmer, das zweifellos der größte Raum im Haus war. Es war von zwei Seiten zum Garten hin vollkommen verglast. In den Glaswänden befanden sich mehrere Schiebetüren, die einen ungehinderten Zugang zum Garten ermöglichten. Der Raum war im wesentlichen in drei Bereiche aufgeteilt. Der eine wurde beherrscht von einem großen Konzertflügel, ein weiterer von einer großen, sehr gemütlich aussehenden Sitzgruppe, in der leicht ein Dutzend Personen Platz finden konnten und der