Detlef Wolf

Geschwisterliebe


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dezent in eine Schrankwand eingebaut waren, daß sie bei Nichtbenutzung gar nicht weiter auffielen.

      Eine in diese Schrankwand eingebaute Tür führte schließlich ins Arbeitszimmer, das ungefähr die gleiche Größe wie die Küche hatte und das mit seinen raumhoch eingebauten Bücherregalen, die sich über geschlossenen Unterschränken über drei der vier Wände hinzogen, eher einer Bibliothek als einem Büro glich. Der Schreibtisch mit einem hypermodernen Schreibtischstuhl war in der Ecke vor dem Fenster aufgestellt, darauf zwei reichlich dimensionierte Computerbildschirme, davor zwei bequeme Drehsessel. Zwischen den Regalen, in der Mitte des Raumes gab es eine Sitzgruppe mit schweren, englischen Ledersesseln und einem niedrigen Glastisch in der Mitte. Das helle Kirschbaumholz, in dem alle Möbel gehalten waren, nahm dem Raum die Schwere. Ein weiteres dazu trug eine raffiniert angebrachte Beleuchtung bei, wie sie auch in den anderen Räumen zu finden war.

      Das Arbeitszimmer war der einzige Raum, den Nicole bis dahin gesehen hatte, welcher etwas unaufgeräumt aussah. Zeitungen lagen verteilt auf dem Glastisch und zwei der drei Sessel der Sitzgruppe, auf dem Schreibtisch stapelten sich Papiere und Zeitschriften. Mehrere Aktenordner lagen auf dem Fußboden neben dem Schreibtisch.

      Stephan ging wieder in die Eingangshalle hinaus. „Laß uns nach oben gehen“, sagte er zu Nicole, die, immer noch stumm, hinter ihm hergekommen war. „Dort kannst Du duschen und Dich umziehen.“

      Er nahm Nicols Sporttasche, die er auf der Garderobe abgestellt hatte und ging die Treppe hinauf. Nicole folgte ihm zögernd. Von der Empore im ersten Stock des Hauses zog sich ein breiter Gang nach hinten, von dem rechts und links Türen zu den einzelnen Zimmern abgingen. Nicole zählte sechs Türen zu beiden Seiten und eine geradeaus am Ende des Flurs.

      Stephan öffnete die mittlere Tür auf der linken Seite. Sie führte in ein großzügig ausgestattetes Badezimmer mit einer großen Dusche, einer überdimensionierten Eckbadewanne an der einen Wand und zwei in einem Waschtisch eingebauten Waschbecken, über dessen gesamte Länge sich ein Spiegelschrank hinzog. Die Toilette befand sich in der hinteren Ecke und war durch eine halbhohe Maurer abgetrennt. Neben dem Waschtisch und zwischen Dusche und Badewanne auf der gegenüberliegenden Seite führten zwei Türen, die zur Gänze mit einem Spiegel bedeckt waren, in die beiden Nachbarzimmer.

      Stephan stellte die Sporttasche auf den Waschtisch. „So, hier kannst Du duschen oder auch baden, wenn Du willst. Handtücher und Badetücher findest Du hier.“ Er öffnete den Schrank neben einer der Türen, gegenüber der Dusche. „alles was Du sonst noch brauchst, ist in dem Spiegelschrank.

      Nicole sah ihn an und nickte.

      Er ging zur Tür. „Ich laß Dich dann mal allein.“

      Leise zog er die Tür hinter sich ins Schloß. Nicole wartete einen Moment, dann drehte sie die Schlüssel in allen drei Türen um. Erst danach zog sie sich aus.

      ***

      Stephan ging hinunter in die Küche. Er war auf Besuch nicht vorbereitet und hatte dementsprechend nichts Besonderes zum Essen anzubieten. Allerdings war genug Wurst, Käse und Brot da, daß es allemal für zwei Personen reichte. Er richtete alles appetitlich auf Platten an, stellte ein Schälchen mit kleinen Tomaten dazu und einen Teller mit Gurken. Er war gerade dabei den Tisch in der Küche zu decken, als Nicole hereinkam. Sie war splitternackt.

      „So, ich wär dann soweit“, sagte sie.

      Stephan wich einen Schritt zurück und sah sie an. Der Kopf mit dem bildhübschen Gesicht und den traurigen Augen saß auf einem mageren, ausgemergelten Körper, der von Striemen übersät war. Unter der wächsernen Haut des Brustkorbs zeichneten sich die Rippen ab, die kleinen Brüste entsprachen keineswegs dem Entwicklungsstadium einer Fünfzehnjährigen. Die Hüftknochen standen deutlich heraus, Ihr Bauch war flach, fast konkav. Das Geschlecht war mit dünnem, dunkelblondem Schamhaar bedeckt, trotzdem war die gerötete, entzündete Haut deutlich zu erkennen. Die Muskulatur der endlos langen Beine war unterentwickelt, ebenso wie auch an die der Arme. Großflächige Hämatome hatten sich an den Innenseiten der Oberschenkel und den Oberarmen gebildet. Das Mädchen sah wirklich erbarmungswürdig aus.

      Stephan erschrak. „Bist Du verrückt geworden?“ fragte er. „Was soll das denn?“

      „Na, das wolltest Du doch, oder? Deshalb hast Du mich doch hierhergebracht.“

      „Was wollte ich?“ fragte er ungläubig. „Gar nichts wollte ich. Jetzt lauf nach oben und zieh Dir was an, Du erkältest Dich ja. Und dann komm wieder runter. Das Essen ist fertig.“

      Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief sie hinaus. Als sie kurz darauf wieder zurückkam, trug sie Jeans, ein T-Shirt und Sandalen.

      „Ist Dir nicht zu kalt in dem dünnen Shirt?“ fragte er.

      Völlig eingeschüchtert schüttelte sie den Kopf.

      „Setz Dich“, forderte er sie auf. „Was möchtest Du trinken? Ich trink Milch.“

      „Kann ich auch ein Glas davon haben?“ fragte sie leise.

      „Ja, sicher, deshalb frag ich ja.“

      Er schüttete ihr ein Glas Milch ein. „Greif zu, Du hast doch sicher Hunger.“

      Langsam und sorgfältig machte sie sich eine Scheibe Brot zurecht. Stephan hielt sein Glas in beiden Händen und sah ihr zu.

      „Hast Du wirklich geglaubt, ich hab Dich nur hierhergebracht, um mit Dir…?“

      Sie sah ihn an und nickte.

      „Du bist schon oft dazu gezwungen worden?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

      Wieder nickte sie nur. Tränen stiegen ihr in die Augen.

      Er wollte ihre Hand nehmen, aber sie zog sie blitzschnell weg. „Du brauchst keine Angst zu haben“, versicherte er. „Ich tu Dir bestimmt nichts.“

      Sie gab ihm keine Antwort.

      Schweigend aßen sie ihr Abendbrot.

      „Setz Dich ins Wohnzimmer“, sagte er, als sie mit dem Essen fertig waren. „Ich räum nur noch schnell hier auf, dann komm ich auch.“

      Aber statt seiner Aufforderung nachzukommen, machte sie sich daran, den Tisch abzuräumen. Er lächelte sie an und nahm ihr die Wurstplatte aus der Hand. „Ich mach das schon, setz Du Dich schon mal rüber.“

      Zögernd ging sie hinaus. Nachdem er die Reste des Abendessens weggeräumt hatte, setzte er sich zu ihr. Mit Bedacht wählte er einen entfernt von ihr stehenden Sessel. Er wollte deutlich machen, daß er ihr nicht zu nahe kommen würde.

      „Hast Du schon mal in die Nachbarzimmer geguckt, rechts und links neben dem Badezimmer?“

      Sie schüttelte den Kopf.

      „Eins von den Zimmern kannst Du Dir aussuchen. Eigentlich sehen sie genau gleich aus. Nur spiegelverkehrt. Früher haben sie mal mir und meiner Schwester gehört. Jetzt stehen sie leer. Aber sie sind in Ordnung.“

      „Wo ist denn Deine Familie?“ fragte sie zaghaft.

      „Die gibt’s nicht mehr“, antwortete er beiläufig, fast schroff. „Ich wohne alleine hier.“

      Nicole ahnte eine Geschichte hinter seiner knappen Antwort, aber sie wagte es nicht, ihn danach zu fragen.

      Stephan sah das Mädchen an. „Du hast Angst, stimmt’s?“

      Sie nickte.

      „Vor mir?“

      Sie sah ihn stumm an.

      „Mußt Du nicht. Ich will Euch nur helfen, Dir und Deinem Bruder. Ihr steckt so in der Scheiße, da muß man doch einfach was tun.“

      „Pah“, machte sie. „Und was willst Du da tun?“ Es klang aggressiv.

      „Weiß ich noch nicht“, gab er zu. „Jedenfalls bist Du jetzt erstmal hier, Dein Bruder ist im Krankenhaus gut aufgehoben und Dein Alter vorerst aus dem Verkehr gezogen. Was dann kommt, müssen wir sehen.“

      „Ich