Detlef Wolf

Geschwisterliebe


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oder was?“

      „Zum Beispiel.“

      „Das kann ich nicht“, antwortete er schlicht.

      „Und warum nicht?“

      „Keine Ahnung.“

      „Was willst Du von uns? Was hast Du mit uns zu tun?

      „Gar nichts. Ich will Euch einfach nur helfen.“

      Sie sah ihn skeptisch an. Sie glaubte ihm nicht. Ihre Erfahrung war, niemand machte irgend etwas ohne dafür etwas zu wollen. Und jetzt hatte sie Angst vor dem, was Stephan wohl im Sinn haben mochte. Allein die Sorge um ihren Bruder ließ sie nicht weglaufen.

      Der Bus hielt, sie mußten aussteigen. Den Rest des Weges gingen sie zu Fuß. Es hatte angefangen zu regnen. Nicht sehr fest, ein feiner Nieselregen eher, wie er im Frühjahr oft fällt. Schweigend gingen sie nebeneinander her.

      Im Krankenhaus erkundigte Stephan sich nach Kevin. Sie fuhren mit dem Aufzug zu der angegebenen Station. Immer noch hatte Nicole kein Wort gesagt. Das Krankenzimmer war für drei Personen vorgesehen, aber im Moment war Kevin der einzige Patient. Er sah winzig aus in dem großen Bett. An einem Metallständer neben dem Bett hingen zwei Infusionsbeutel, die mit einem dünnen Plastikschlauch verbunden waren. Die Infusionsnadel steckte in seiner linken Hand. Sein Gesicht war blaß, fast wächsern. Ein großes Pflaster klebte über der Platzwunde an seiner Augenbraue. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er seine Schwester sah. Nicole stellte sich neben sein Bett und nickte ihm zur Begrüßung zu. Er hob kurz die Hand, auch um Stephan zu begrüßen.

      „Na, wie geht’s Dir, Du Held?“ fragte Stephan.

      „Die Bullen waren noch nicht hier“, antwortete Kevin.

      „Die kommen auch nicht. Ich hab Deinen Namen rausgehalten.“

      Die Erleichterung war ihm deutlich anzumerken. Er atmete tief durch und schloß die Augen.

      „Morgen gehe ich hin und mache meine Aussage“, fuhr Stephan fort. „Ich werde ihnen die ganze Geschichte erzählen.“

      Sofort war die Angst wieder da. Kevin riß die Augen auf und starrte Stephan an.

      „Keine Sorge“, beruhigte Stephan ihn. „Dein Alter wird Dir deshalb nichts tun. Der ist vorläufig außer Gefecht gesetzt.“

      „Er hat ihm die Arme gebrochen“, sagte Nicole mit einer Kopfbewegung zu Stephan hin. „Beide.“

      Kevin starrte Stephan weiterhin an. Ungläubig jetzt. Dann grinste er. „Wirklich?“

      Stephan nickte.

      Kevin lächelte zufrieden. Seine Augen gingen wieder zu. Stephan zog zwei Stühle heran und setzte sich. Nicole blieb unbeweglich neben dem Bett stehen und sah ihren Bruder an. Man merkte ihr an, daß sie sich Sorgen um ihn machte.

      „Was ist denn nun?“ fragte sie.

      Kevin schlug die Augen auf. „Gehirnerschütterung. Ist wohl ziemlich übel. Jedenfalls wollen sie mich vorerst hierbehalten.“

      Stephan sah, daß man ihm eines dieser Krankenhaushemdchen angezogen hatte, die auf dem Rücken offen waren und mit Bändchen um den Hals festgebunden wurden.

      „Hast Du ihm einen Schlafanzug mitgebracht?“ fragte er das Mädchen.

      Nicole schüttelte den Kopf. „Sowas haben wir nicht.“

      „Dann gib ihm ein T-Shirt und eine Unterhose“, forderte er sie auf.

      Sie wühlte in der Sporttasche herum, zog schließlich die Sachen daraus hervor.

      „Hier“, sagte sie und legte die beiden Kleidungsstücke auf Kevins Bett.

      „Kannst Du das alleine?“

      Kevin zuckte die Achseln. „Weiß nicht. Ich soll nicht aufstehen.“

      Stephan nickte. „Ich hol eine Schwester. Die kann Dir helfen. Auch mit der Infusion.“

      Als er wenig später mit einer Krankenschwester zurückkam, hatte Kevin den Slip bereits angezogen. Nicole hatte ihm offenbar dabei geholfen. Gerade breitete sie die Decke wieder über ihm aus. Das Krankenhaushemdchen hatte er ausgezogen. Stephan sah den schmächtigen, nackten Oberkörper des Jungen und die blutunterlaufenen Striemen, die sich über seine Brust zogen. Die Schwester zog den Infusionsschlauch ab, damit er das T-Shirt anziehen konnte. Sie schloß den Schlauch wieder an.

      Stephan lächelte ihr zu. „Danke Schwester.“

      Sie nickte. „Kann ich Sie nachher mal kurz sprechen?“ fragte sie.

      Stephan sah sie an. Er hatte sofort verstanden, was sie wollte. „Natürlich“, sagte er.

      Sie ging hinaus.

      Stephan wandte sich an den Jungen. „Besser so, oder?“

      Kevin nickte dankbar. „Viel.“

      Nicole stand immer noch neben dem Bett. Stephan faßte sie am Arm und zog sie auf den leeren Stuhl. „Setz Dich, Mädchen“, sagte er.

      Sie rutschte ganz nach vorn auf die Stuhlkante.

      „Was ist mit den anderen?“ erkundigte Kevin sich.

      „Zwei sind ebenfalls hier gelandet, den dritten hatten die Bullen dazwischen als ich ging“, antwortete Stephan.

      „Und Nicci?“

      Stephan sah ihn verständnislos an.

      „Na Nicole“, erklärte Kevin und deutete mit einer knappen Handbewegung auf seine Schwester.

      „Der ist nix passiert. Siehst Du ja.“

      „Ich soll mit zu ihm kommen“, sagte Nicole.

      „Zumindest mal heute Nacht“, ergänzte Stephan. „Bei Euch wird heute Abend der Teufel los sein, wenn Deine Mutter Deinen Vater findet. Da dachte ich, es ist besser, ich nehm sie erstmal mit.“

      Kevin nickte. Aber er schien beunruhigt. „Wo wohnst Du denn?“

      „Keine Angst, bei mir ist Platz genug“, sagte Stephan, statt seine Frage zu beantworten.

      Kevin sah ihn an. „Warum hast Du mir geholfen?“

      „Ist das nicht selbstverständlich?“ fragte Stephan zurück. „Die drei hätten Dich richtig aufgemischt. Du bist ja so schon übel genug dran. Wer weiß, was passiert wäre.“

      „Wenn nicht diesmal, dann eben beim nächsten Mal.“ Kevins Stimme klang resigniert. „Sie werden’s wieder versuchen. Schließlich sind sie mal in Nicols Klasse gewesen.“

      „Das wollen wir erst mal abwarten“, versuchte Stephan, ihn zu beruhigen. „In welche Schule geht Ihr denn?“

      „Willy Brand Hauptschule“, antwortete Kevin knapp. „Sie ist nächstes Jahr fertig. Ich muß noch ein Jahr länger.“

      „Und dann?“

      „Keine Ahnung“, sagte Nicole. „Ich hab schon mal angefangen, mich zu bewerben. Bis jetzt nur Absagen. Wer will schon eine mit Hauptschulabschluß?“

      „Aber die Schule machst Du auf jeden Fall fertig?“

      „Was hast Du denn gedacht?“ rief Kevin. „Wir haben doch sonst nichts.“

      Stephan sah ihn eine Weile durchdringend an. Dann stand er auf. „Ich muß mal“, erklärte er.

      Draußen auf dem Flur sah er sich nach der Krankenschwester um. Sie saß in einem kleinen Glaskasten in der Mitte des langen Flurs hinter einem Schreibtisch.

      „Sie wollten mit mir sprechen“, sagte er.

      Sie sah ihn an. „Haben Sie den Jungen gesehen?“

      „Sie meinen die Striemen auf seinem Oberkörper. Ja, die hab ich gesehen.“

      „Kennen Sie die beiden?“