Detlef Wolf

Geschwisterliebe


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vergewaltigen will. Deshalb macht mir das ja auch bei Kevin nichts aus. Kannst Du das verstehen?“

      „Ehrlich gesagt, nicht so ganz. Ein bißchen vielleicht schon, aber so richtig nicht. Normalerweise schämt sich ein Mädchen doch zu Tode, wenn ein Fremder sie so ansieht und dann auch noch an ihr rumfummelt.“

      „Aber Du bist ja gar kein Fremder mehr“, antwortete sie. „Weißt Du Stephan, ich hatte so eine Angst vor Dir, als ich zuerst mit Dir hierherkam. Ich hab ehrlich gedacht, Du wolltest auch nur, was die anderen alle wollten. Wenigstens warst Du nicht so widerlich wie die. Und Du hattest Kevin geholfen. Und den Alten außer Gefecht gesetzt. Da dachte ich, wenn’s denn sein muß, meinetwegen.“

      „Mein Gott, Mäuschen, das ist ja schrecklich!“ Stephan war entsetzt. „Nur weil ich Deinem Bruder geholfen habe und Deinem Vater eine verpaßt habe warst Du dazu bereit?“

      „Du hast ja keine Ahnung, was das für mich bedeutet hat. Keiner konnte Kevin mehr was tun, und der Alte würde uns für lange Zeit nicht mehr zu seinen fiesen Kerlen mitschleppen. Da wär so ’ne kurze Sache mit Dir doch gar nichts gewesen. Das hätt ich doch mit links überstanden. Und dann wär ich einfach weggelaufen. Daß das jetzt alles so ganz anders gekommen ist, das kann ich immer noch nicht glauben.“

      Stephan hatte unterdessen all ihre zerschundenen Körperstellen eingecremt. Er gab ihr einen kleinen Klaps auf den Po. „So, mein Mäuschen. Jetzt aber schnell unter die Decke mit Dir. Wir stehen hier rum und quatschen und Du hast gar nichts an und frierst. Du holst Dir ja den Tod.“ Er schlug die Bettdecke zurück. „Los, rein da mit Dir.“

      „Und Zähne putzen?“ protestierte sie.

      „Kannst Du morgen machen.“ Kurzerhand hob er sie hoch, legte sie behutsam in ihr Bett und deckte sie zu. Dann beugte er sich über sie und drückte ihr ein Küßchen auf die Stirn. „Und jetzt schlaf gut, Du Süße.“

      „Ach Stephan“, sagte sie und fing an zu weinen. „Ich bin so froh.“

      „Das ist schön, Mäuschen, und eigentlich kein Grund zum Weinen. Aber wenn’s Dir guttut, dann wein ruhig.“

      Er setzte sich auf ihr Bett, hielt ihre Hand und wartete, bis sie zu weinen aufgehört hatte und eingeschlafen war.

      Nachdenklich ging Stephan aus dem Zimmer. Jetzt hatte er sie beide ins Bett gebracht, und beide hatten geweint. Sie waren offensichtlich völlig mit den Nerven am Ende. Er war ratlos, was er jetzt tun sollte. Langsam stieg er die Treppe hinunter. In der Küche sah er die Weinflasche, die er zum Abendessen aufgemacht hatte. Sie war noch mehr als halb voll. Er schenkte sich ein Glas ein und setzte sich damit ins Wohnzimmer. Beethovens viertes Klavierkonzert, von dem der Junge so begeistert gewesen war, das wäre jetzt gerade recht. Er suchte die Aufnahme heraus und schob sie in den CD-Spieler. Die Katzen kamen wieder herein, weil er die Tür einen Spalt hatte aufstehen lassen und machten es sich auf dem Nachbarsessel bequem. Er langte hinüber und kraulte sie.

      „Was meint Ihr, was soll ich mit den beiden machen? Ich hab sie inzwischen richtig lieb, und ich will unbedingt, daß es ihnen gut geht. Und daß sie bei mir bleiben können.“

      Aber die Katzen gaben ihm natürlich keine Antwort. Sie schnurrten nur, weil er sie kraulte.

      „Das hab ich mir gedacht, daß Ihr beiden auch keine Ahnung habt.“

      Stephan trank einen großen Schluck aus seinem Glas. „Mann, Mann, Mann, da hab ich mir was Schönes eingebrockt.“

      „Was hast Du Dir eingebrockt?“ kam eine Stimme von hinten.

      Erschrocken fuhr Stephan herum. Unbemerkt war Kevin hereingekommen und hatte offensichtlich den letzten Teil seines Selbstgespräches mit angehört.

      „Junge, Du hast mich vielleicht erschreckt“, sagte Stephan. „Warum liegst Du denn nicht im Bett und schläfst?“

      Der Junge zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Ich hab ja geschlafen. Aber auf einmal bin ich wach geworden und hab die tolle Musik gehört. Da bin ich aufgestanden und runtergekommen.“

      „Ja, ohne Dir was anzuziehen. Bist Du noch zu retten, Du Held?“

      „Schlimm?“

      „Für mich nicht, aber Du holst Dir ’ne Erkältung. Guck mal, da unten in dem Schrank, da ist ’ne Wolldecke. Die nimmst Du jetzt und packst Dich darin ein. Du kannst doch in Deinem Zustand nicht so splitternackt durch die Gegend laufen. Was denkst Du Dir denn? Möchtest Du was zu trinken haben?“

      Kevin nickte. „Ich hol’s mir schon.“

      Stephan hielt ihn am Arm fest. „Du holst Dir garnix. Ich mach das. Du setzt Dich jetzt dahin und deckst Dich zu. Verstanden?“

      Stephan stand auf und holte ihm ein Glas Apfelschorle aus der Küche.

      Kevin trank einen Schluck. „Darf ich zu Dir kommen?“

      „Natürlich darfst Du zu mir kommen, Du Quälgeist. Du willst kuscheln, stimmt’s?“

      Schnell setzte sich der Junge auf Stephans Schoß. Stephan breitete die Decke über ihn.

      „Du bist mir ’ne Schmusebacke“, sagte Stephan lachend. „Wie kommt das denn?“

      „Ich hab das noch nie gemacht. Und ich hab’s mir immer so gewünscht. Bei Nicci hab ich mich nie getraut. Obwohl, heute Mittag, da haben wir uns richtig toll geküßt. Das war so toll.“

      „Och Du“, sagte Stephan und drückte den Jungen fest an sich.

      „Kannst Du das nochmal von vorn laufen lassen?“ bat Kevin. „Das gefällt mir richtig gut.“

      Stephan tat ihm den Gefallen. Kevin schmiegte sich in Stephans Arme und schloß die Augen. Es war ziemlich unbequem für Stephan, aber er ließ den Jungen. Zärtlich streichelte er seinen Kopf. „Du bist mir einer“, sagte er leise.

      Gemeinsam lauschten sie der Musik.

      „War das schön“, flüsterte Kevin, als der dritte Satz zu Ende war. „Können wir noch was hören?“

      „Ja, willst Du denn überhaupt nicht schlafen gehen?“ fragte Stephan.

      „Och nee. Das ist so schön hier bei Dir.“

      Stephan lachte. „Na schön. Eins noch. Aber diesmal was ohne Klavier. Vielleicht gefällt Dir das ja auch. Steh mal auf, Du Nacktfrosch.“

      „Soll ich mir was anziehen?“

      Stephan schüttelte den Kopf. „Ist nicht nötig. Wenn Du Dich schön in Deine Decke einwickelst, dann geht’s schon. Ich will nur nicht, daß Du Dir zusätzlich zu Deinem ramponierten Schädel noch ’ne andere Malaise einhandelst.“

      Stephan nahm die CD aus dem Spieler und suchte statt dessen eine andere heraus. „Das hier ist jetzt von dem gleichen Komponisten, Ludwig van Beethoven, und es ist seine sechste Symphonie. ‚Pastorale’ heißt die, und ich finde, die paßt jetzt ganz gut.“

      Er schob die Scheibe in den CD-Spieler und setzte sich wieder in seinen Sessel. Sofort saß Kevin wieder auf seinem Schoß und kuschelte sich an ihn. Lachend drückte Stephan den Jungen und startete die CD.

      „Wow!“ machte Kevin, nachdem er die ersten Takte gehört hatte. „Das ist ja der Wahnsinn.“

      „Gefällt’s Dir?“ fragte Stephan.

      „Sehr“, antwortete Kevin.

      „Na, dann hör mal gut zu.“

      Irgendwann, in der Mitte des zweiten Satzes, stand Nicole neben ihnen. Wie ihr Bruder auch, hatte sie es nicht für nötig gehalten, sich etwas anzuziehen.

      „Nicci!“ rief Kevin überrascht. „Was machst Du denn hier?“

      „Und Ihr? Was macht Ihr hier?“ fragte sie zurück.

      „Musik hören“, antwortete Kevin. „Ich bin auf einmal wach geworden und hab die Musik gehört. Da bin ich einfach aufgestanden und hier runtergegangen.