eröffnete sie mir ihren Entschluss, nach Amerika zurückzukehren, denn dort wohne ihre ebenfalls alleinstehende Schwester, und bei ihr werde sie sich niederlassen.
Ich spürte ihre Verzweiflung und wünschte ihr, dort endlich das zu finden, wonach sie immer gesucht hatte ‒ eine Gesellschaft mit mehr Toleranz. Allerdings hegte ich meine stillen Zweifel. Ich erinnerte mich nämlich daran, wie ich Anfang der 1970er-Jahre mit meiner damals Verlobten zu Besuch bei meiner Schwester in New York war und wie wir uns bei Nachbarn als Ehepaar vorstellen mussten, denn ein unverheiratetes Paar, obwohl verlobt, im gemeinsamen Schlafzimmer war für die konservativen Amerikaner selbst in einer Weltstadt, wie New York es ist, höchst verwerflich.
Mathilda
Es war am Ende eines feuchtfröhlichen Abends, an dem wir den Ausklang eines erfolgreichen Arbeitstags auf der Mustermesse gefeiert hatten. Die Mustermesse in Basel ist die größte Warenmesse der Schweiz und gleichzeitig der Spiegel für einheimische Industrie, Gewerbe und Handel. Als Importeur und Schweizer Vertretung eines ausländischen Möbelherstellers repräsentierte ich zusammen mit dessen Exportmanagern seine Produkte. Eigentlich war ich noch in aufgeheizter Stimmung, und es war mir überhaupt nicht zum Schlafen zumute; und so entschloss ich mich, trotz der fortgeschrittenen Nachtstunde noch eine Bar aufzusuchen. Während der Messezeit hatten die Bars und Restaurants rund um das Messegelände verlängerte Öffnungszeiten, und so war auch nicht erstaunlich, dass in diesen Etablissements ein wahres Gedränge herrschte. Diesem Umstand und dem bereits genossenen Alkohol war es wahrscheinlich zuzuschreiben, dass ich beim Eintreten das sympathische Lächeln der dicht an mich gedrückten Servicedame als eine Art Aufforderung verstand. Jedenfalls fackelte ich nicht lange und drückte ihr einen kräftigen Kuss auf den hübschen Mund. Schon wollte ich mich für die Dreistigkeit wieder entschuldigen, aber zu meinem Erstaunen erntete ich einen verheißungsvollen Blick, und damit nahm die Fortsetzung dieser Geschichte ihren Anfang.
Am nächsten Tag nahm ich mir eine Auszeit an unserem Präsentationsstand, „um einen Kundenbesuch zu machen“, wie ich offiziell begründete. In Wirklichkeit aber wollte ich die Dame in der nahe gelegenen Bar aufsuchen, um mich für den gestrigen Vorfall zu entschuldigen. Ich wollte unter allen Umständen eine peinliche Situation vermeiden für den Fall, dass jemand meiner Mitrepräsentanten auf die Idee kommen sollte, ausgerechnet diese Bar für einen Umtrunk nach Messeschluss auszuwählen. Zu meiner Freude, aber auch mit einem beklemmenden Gefühl sah ich die Dame bereits wieder an der Arbeit. Ich wusste, dass die Bar erst jetzt geöffnet hatte, und konnte somit hoffen, dass aller Wahrscheinlichkeit nach noch keine Gäste anwesend waren.
„Hallo!“, grüßte ich etwas unsicher. „Sind Sie die Dame von gestern Nacht, die ich spontan geküsst habe? Ich bin gekommen, um mich bei Ihnen zu entschuldigen.“
„Hallo! Sie sind also der Herr, dem ich meine schlaflose Nacht zu verdanken habe“, lächelte sie zurück, und eine sanfte Ironie klang in ihren Worten mit. „Ich habe gedacht, Sie hätten mich bereits wieder vergessen.“
„Wie könnte ich auch!“, lautete nun meinerseits das aufrichtige Bekenntnis. „Ich bin zwar gekommen, um mich zu entschuldigen und Sie zu bitten, nichts auszuplaudern, falls ich heute von meinen Kollegen begleitet werde, insgeheim habe ich jedoch auch gehofft, Sie um diese Zeit alleine anzutreffen.“
„Oh, das kostet natürlich einen Drink“, meinte sie sichtlich geschmeichelt, aber mit etwas heiser-belegter Stimme, wahrscheinlich eine Folge des gestrigen Abends. „Wissen Sie, auch ich freue mich, Sie wiederzusehen. Denn in meinem Beruf und besonders während solcher Tage muss man sich so manches anhören und manchmal auch gefallen lassen.“
„Ja, und dann kommt noch einer wie ich und nimmt sich die Frechheit, Sie, ohne zu fragen, einfach zu küssen.“
„Das hat mich aufgestellt, denn ich fühlte, dass eine aufrichtige Leidenschaft mitgespielt hatte.“
„Sie haben richtig getippt“, witzelte ich, „aber das ist eine lange Geschichte, die Sie kaum interessieren wird, und ich muss ohnehin wieder zu meinem Stand an die Messe.“
„Halt, so einfach geht das nun auch wieder nicht. Ich bestehe auf der Fortsetzung der Geschichte. Rufen Sie mich nach der Messe einmal an? Mein Name ist Mathilda.“
„Ich schwöre und verspreche es, gedulden Sie sich aber bitte noch die nächsten zwei Wochen, denn da habe ich noch den Rücktransport der Waren zu organisieren.“ Ich hatte natürlich selbst das Verlangen, diese seltsame Begegnung zu erneuern, was ich aber geflissentlich verschwieg. Ich hatte gerade eine Ehescheidung hinter mir und fühlte mich manchmal sehr einsam; da war mir eine solche Begegnung mehr als willkommen. Diese Frau strahlte etwas ungewöhnlich Reizvolles aus, und ich empfand eine große Sympathie ihr gegenüber und eine unerklärliche Verbundenheit mit ihr.
„Hallo, Mathilda, hier ist der Geschichtenerzähler!“, meldete ich mich dann einige Zeit später an. „Es hat leider etwas länger gedauert, aber ich hoffe, dass du dich trotzdem noch an mich erinnerst. Ich wollte mich erst telefonisch versichern, ob du noch dort arbeitest.“
„Und ich habe schon gedacht, ich müsse mir selbst eine Geschichte zusammenreimen. Wie du hörst, bin ich noch am Leben und freue mich auf deinen hoffentlich baldigen Besuch.“ Wieder klang dieser etwas leicht heisere Klang in ihrer Stimme mit.
„Dann kannst du uns gleich zwei Drinks mixen wie gewöhnlich“, meinte ich zu ihr, denn ich war während des Gesprächs bereits vor der Tür angekommen.
Es war ein beidseitig freudiges, herzliches Wiedersehen, und an den Drinks konnte ich erkennen, dass sie mich tatsächlich nicht vergessen hatte. Und dann erzählte ich ihr von meinem Ärger mit der Messeleitung, weil Möbel für zwei komplette Wohnungseinrichtungen gestohlen worden waren, die fertig verpackt für den Rücktransport bereitgestanden hatten und einfach von einem unbekannten Transportunternehmen abgeholt worden waren. Ich berichtete, wie meine Anzeige bei der Polizei als unglaubwürdig abgelehnt worden war und der Sicherheitsdienst der Messeleitung jede Verantwortung von sich gewiesen hatte, obwohl jede Transportfirma eine Abholbestätigung
hätte vorweisen müssen. „Weißt du, dass so etwas in der sauberen Schweiz möglich sein könnte, hätte ich niemals für möglich gehalten. Aber ich möchte dich nicht mit dieser Angelegenheit belasten. Erzähl doch bitte lieber etwas aus deinem Leben! Hast du dich erkältet, was deine Stimme vermuten lässt? ‒ Habe ich etwas Falsches gesagt?“, beeilte ich mich beizufügen, denn ich sah, wie ein Schatten über ihr sonst so hübsches Gesicht huschte.
„Nein, du hast schon richtig bemerkt, aber genau das ist mein Problem. Aber das kann ich dir nicht erzählen, weil du dann nicht wiederkommst.“
„Da brauchst du dir bestimmt keine Sorgen zu machen, denn ich werde immer wieder zur Anhörung von Schicksalen und Leidensgeschichten auserkoren. Es hat beinahe den Anschein, als wirkte ich wie ein Magnet auf Menschen, die sich mit ihren Sorgen jemandem anvertrauen möchten. Wenn es dir also ebenso ergeht und es dich erleichtert, über irgendein Ereignis zu reden, kannst du mir ruhig vertrauen. Wir können uns jedoch auch an einem anderen Ort treffen, wo wir ungestört reden können.“
Offensichtlich hatte sie doch etwas Mühe, ihre Zweifel an meiner Ehrlichkeit zu beseitigen, als sie dann unaufgeforderten einen weiteren Drink brachte und dabei sichtlich erleichtert meinte, mit mir reden zu wollen, weil sie sonst niemanden kenne, dem sie vertrauen könne: „Nächste Woche habe ich zwei Tage frei, da könnten wir uns treffen. Versprich mir aber bitte, dass du mich in jedem Fall weiterhin akzeptierst!“
„Also“, begann sie das Gespräch, als wir uns an einem ihrer freien Tage trafen, „ich bin eine Transsexuelle, ich habe männliche Geschlechtsorgane. Aber ich fühle mich seit meiner Kindheit als weibliches Wesen und hatte in der Kindheit auch keine Probleme, weil äußerlich eigentlich kein Unterschied zu anderen Mädchen erkennbar war. Das Problem begann erst mit dem Stimmbruch während der Pubertät, da konnte ich mich nicht mehr verstecken. Ich begann meinen Körper zu hassen, weil er meiner Meinung nach mein ganzes Leben verpfuschte. Meine Eltern litten darunter ebenso wie ich, denn sie hatten ja alles versucht, meine Kindheit zu meinem Wohl zu gestalten, und wahrscheinlich hatten