und ausgelacht. Niemand hat mir geholfen, nicht einmal meine Eltern. Ich sei krank im Kopf, wurde ich belehrt. Es war ein Leben wie in der Hölle. Ich dachte nur: ‚Warum kann mich denn niemand verstehen?‘, und manchmal war ich nahe daran, meinem Leben ein Ende zu setzen. Nach der Schule ging ich dann nach Zürich. Dort passte ich mein Outfit meinem wahren Wesen an. Da lernte ich auch andere mit der gleichen Veranlagung und den gleichen Problemen kennen. Wir alle haben keine Chance auf eine Berufsausbildung oder auf einen anständigen Job. Darum arbeite ich hier und muss mich von den Gästen begaffen lassen und mir auch manchmal blöde Sprüche anhören.
Andere wiederum sind gezwungen, im Rotlicht-Milieu zu arbeiten, aber ich mache hier das Beste daraus und spare Geld für eine Geschlechtsoperation. Das kostet sehr viel Geld, und ich muss dazu ins Ausland, weil in der Schweiz keine solchen Operationen vorgenommen werden.“
„Arme Chipsy“, dachte ich und sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Was hatte sie doch alles durchgemacht, und welche Ungewissheit stand ihr noch bevor! Ich spürte ihren inneren Schmerz, und ein tiefes Mitgefühl durchströmte meinen ganzen Körper Sie hatte mir mit ihrer Geschichte eine völlig unbekannte Welt eröffnet, eine Welt, von der ich bis anhin keine Ahnung hatte und die mich weit darüber hinaus ein Leben lang begleiten sollte. Zum Abschied drückte sie mich an sich und gab mir einen Kuss auf die Stirn mit der Ermahnung, mich niemals zu Vorurteilen hinreißen zu lassen.
Das war das letzte Mal, dass ich Chipsy gesehen habe. Als ich sie nämlich wieder einmal besuchen wollte, musste ich vernehmen, dass sie ins Ausland abgereist sei. Ich nehme an, dass die angestrebte Operation der Grund dazu war. Viele Jahre später hörte ich einmal, dass sie nach der Operation gestorben sei. Das einzige Andenken an sie ist ihr Konterfei, das noch heute die Packung einer bekannten Zigarettenmarke ziert.
Mara
Es war an einem schönen Frühlingstag: Ich war soeben von einem längeren Auslandaufenthalt zurückgekommen und genehmigte mir mit ein paar Freunden zusammen in unserer Stammkneipe ein Willkommensbier, als sich plötzlich eine Dame mit einem riesigen Blumenstrauß zur Türe hereinzwängte.
„Hallo, Mara!“, hörte ich meine Freunde. „Komm und setz dich zu uns!“
„Ich habe keine Zeit und wollte nur hereinschauen, ob vielleicht jemand da ist, der mich nach Hause bringt. Der Bus zu meinem Dorf ist mir vor der Nase weggefahren, und natürlich war es der letzte für heute.“ Damals fuhren in ländlichen Gegenden die letzten öffentlichen Busse bis ungefähr 19.00 Uhr.
Großes Schweigen herrschte in der Runde, und so bot ich bereitwillig meine Hilfe an.
„Weißt du nicht, dass sie ein Transvestit ist?“, raunte mir mein Tischnachbar zu.
„Nein, ich kenne sie nicht, aber deswegen kann ich sie trotzdem nach Hause bringen, oder?“
Natürlich nahm Mara mein Angebot dankend an wie auch die Einladung, zum Kennenlernen zuerst noch etwas zu trinken.
„Wie ich gehört habe, sollst du eine Transsexuelle sein“, eröffnete ich das Gespräch während der Fahrt, „du brauchst dir aber deswegen keine Gedanken zu machen.“
„Ja, das stimmt. Deswegen wollte mich niemand nach Hause bringen. Die haben alle Angst, sich mit mir in der Öffentlichkeit zu zeigen. Warum tust du das? Ich bin so froh, denn für ein Taxi hätte ich kein Geld gehabt. Ich habe dich noch nie gesehen, wohnst du nicht hier?“
„Ich bin vor ein paar Jahren hierhergezogen, aber ich bin meist für längere Zeit auswärts auf Montage. Wahrscheinlich sind wir uns deshalb noch nie begegnet. Heute bin ich soeben vom Ausland zurückgekommen. Was die Meinung der Leute anbetrifft, so mache ich mir wenig daraus. Was die über mich denken oder reden, ist mir so ziemlich egal.“
„Auch ich bin meist auswärts. Die Leute hier kennen mich seit meiner Jugend, weil ich ja hier in der Gegend aufgewachsen bin. Heute bin ich gekommen, weil ich meine Mutter wieder einmal besuchen möchte.“
„Aha, also deswegen der Blumenstrauß.“
„Ja, den habe ich ihr zum Muttertag gekauft.“
„Also du bist eine Transsexuelle“, nahm ich den Faden wieder auf. „Übrigens du bist sehr hübsch, und wer dich nicht kennt, würde niemals auf deine wahre Identität schließen. Wie bereits gesagt, habe ich keine Probleme mit Transsexualität“, und dann erzählte ich ihr die ganze Geschichte von Chipsy. Seit damals waren immerhin rund 20 Jahre vergangen, doch die Erinnerung war noch so gegenwärtig, als ob sich alles erst kürzlich zugetragen hätte.
„Ich weiß also Bescheid, dass euer Leben in unserer Gesellschaft alles andere als einfach ist. Wenn du möchtest, kannst du mir deine Geschichte ruhig anvertrauen.“
„Danke“, meldete sie sich nach einer langen Pause wieder. „Ich bin froh, einmal mit einem Menschen sprechen zu können, der sich ehrlich für unser Problem interessiert. Bis jetzt konnte ich mich nur in unseren Kreisen austauschen. Aber meine Geschichte ist lang, und ich befürchte, dass der Nachhauseweg zu kurz ist.“
„Dann fahren wir eben zu einem ruhigen Restaurant. Wie ich vermute, hast du wahrscheinlich noch nichts gegessen. Es ist ja noch früh am Abend. Ich kenne da auf dem Lande eine geeignete Lokalität, wo wir ungestört sind und auch etwas essen können. Du brauchst dir wegen des Geldes keine Gedanken zu machen. Die Geschichte von Chipsy hat mich all die Jahre hindurch beschäftigt. Sie hat mir damals die Augen für dieses Problem geöffnet und auch sonst viel gegeben, sodass ich denke, Menschen wie dir eine kleine Gefälligkeit schuldig zu sein.“
Sichtlich bewegt begann sie dann ihre Leidensgeschichte zu erzählen; zuerst langsam und sehr nachdenklich, dann immer leidenschaftlicher, und ich bemerkte, wie sie ihre Emotionen unterdrücken musste.
Sie berichtete, die Jungenzeit sei schlimm gewesen. Im Gegensatz zu Chipsys Eltern seien ihre eigenen Eltern immer auf ihrer Seite gewesen, aber die Schulbehörde und insbesondere der Dorfpfarrer hätten Druck auf ihre Eltern ausgeübt, bis sie in eine psychiatrische Behandlung eingewilligt hätten. In ländlichen Gegenden hat der Pfarrer eben ein gewichtiges Wort mitzureden. „Von da an“, fuhr sie fort, „war ich dem Spott des ganzen Dorfes ausgesetzt mit Ausnahme einer Familie, die aus einer anderen Gegend neu zugezogen war. Die hatten ein schönes Haus mit einem großen Garten, und dort durfte ich meine Freizeit verbringen. Die waren es auch, die durchsetzten, dass ich schließlich in der Stadt zur Schule gehen konnte, und sie haben mich auch sukzessive über den wahren Sachverhalt meines Problems aufgeklärt.“
„Wo wohnst du jetzt, und was machst du? Du brauchst dich vor mir nicht zu genieren, ich mache keinen Gebrauch davon.“
„Ja, das habe ich gemerkt. Lange Zeit hatte ich kein Vertrauen mehr zu Männern. Ich hatte nämlich einen Freund, und am Anfang ging auch alles gut. Dann merkte ich, dass er mein Vertrauen nur gewinnen wollte, um mich auf den Strich zu schicken, aber ich wollte nicht. Da wurde er grob und hat mich auch geschlagen. Ich war an einen üblen Zuhälter geraten. Zur Polizei konnte ich wegen meiner Veranlagung nicht gehen, das hatte mein Peiniger genau kalkuliert. Endlich gelang mir mithilfe von Freunden die Flucht. Wenigstens war ich dann diesbezüglich frei, aber auch danach hatte ich keine andere Möglichkeit, als den Lebensunterhalt als Prostituierte zu verdienen, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich spare Geld für eine Operation. Danach kann ich bei den Behörden eine Namensänderung und eine Änderung der Geschlechtsbezeichnung beantragen. Vielleicht habe ich danach eine Chance auf ein neues Leben. Zurzeit durchlaufe ich eine Hormonbehandlung zur Vorbereitung auf die Operation.“
„Hast du Angst?“, lautete meine mitfühlende Frage.
„Ja, sehr große Angst sogar. Ich mache das nur, weil ich darin die einzige Chance auf Anerkennung in der Gesellschaft sehe. Ich möchte ein normales Leben führen und einer Arbeit nachgehen können wie andere auch. Kannst du dir vorstellen, was es nach meinem Erlebnis für mich bedeutet, fremden Männern meine Liebesdienste anzubieten? Aber eine andere Möglichkeit habe ich zurzeit nicht. In meiner Verzweiflung suchte ich Trost im Alkohol und begann zu trinken. Davon bin ich ‒ gottlob! ‒ wieder