am Sonntagabend gegen zehn auf seiner Terrasse gesehen. Sie kam mit Pupsi am Haus der Benders vorbei, sah Licht und zwei Personen auf der Terrasse sitzen. Sie schienen angeregt zu reden, allerdings konnte man auf der Straße nicht verstehen, worüber. Die Frau war Maren Bender, der Mann Oliver. Corinna habe ihren Augen nicht getraut und deshalb lange und genau hingeschaut. Ja, dort saß wirklich Oliver Bender. Er trug eine dunkle Hose und ein weißes Hemd. Er bewegte sich wie Oliver und seine Stimme klang wie Olivers Stimme – auch wenn das gar nicht sein konnte.
Noch Stunden später war Corinna die Szene auf der Terrasse der Nachbarn nicht aus dem Kopf gegangen. Am Montagmorgen hatte sie ihren Nachbarn Gerald beim Bäcker getroffen. Sie waren vor dem kleinen Dorfladen ins Gespräch gekommen. Da hatte Gerald erzählt, dass auch er Oliver gesehen und erkannt habe. Sie hatten gemeinsam nach Erklärungen gesucht. Gerald kannte Oliver Bender besser und wusste deshalb, dass der keinen Zwillingsbruder hatte, nur eine bereits verstorbene Schwester. Es musste also ein Doppelgänger gewesen sein.
Beide haben sie dann andere Nachbarn gefragt. Die jedoch lachten, machten ihre Witze und hatten ganz und gar nichts Auffälliges bemerkt. Sie alle waren auf Benders Beerdigung gewesen und sich deshalb absolut sicher, das dieser mausetot in der Erde lag.
Am Mittwoch hatte Corinna dann Gerald angerufen und ihn über das informiert, was sie beim Bäcker zufällig aufgeschnappt hatte. Es hat dort geheißen, das Grab sei am Abend zuvor von der Polizei untersucht worden. Es sei geöffnet und wieder verschlossen worden. Angeblich sei Oliver Bender nicht mehr da. Dies allerdings seien Gerüchte. Niemand habe wirklich etwas gesehen.
»Gerald hat dann sofort bei der Polizei angerufen,« erzählte Corinna weiter. »Er hat sich als Zeuge angeboten und den Beamten gesagt, dass er den angeblich Toten quicklebendig gesehen hat. Auch meinen Namen hat er als weitere Zeugin genannt. Die Beamten haben ihn nur ausgelacht.«
»Und da haben Sie beschlossen, zur Presse zu gehen.«
»Stimmt. Vielleicht finden ja Sie die Wahrheit heraus.«
»Ich werde es versuchen.«
Die sympathische Frau geleitet mich hinaus. Der Miniwachhund knurrt zwar noch, hat sich jedoch mit dem Besucher abgefunden. Die Kinder sind nicht mehr zu hören, dafür umso klarer Stimmen aus dem Fernseher. Ich muss an meine Neffen denken. Es hört sich an wie PawPatrol.
*
Bis zur Kirche sind es vom Neubaugebiet nur einige hundert Meter. Ich beschließe, meinen Golf stehenzulassen und zu Fuß zu gehen. Wieder hole ich meine Canon EOS aus dem Rucksack und fotografiere Benders Haus und die Straße. Zwar habe ich keinen redaktionellen Auftrag, aber man weiß ja nie ...
Himmelstal ist wirklich ein schönes Dorf. Ich schaue mir die Fachwerkhäuser, die rund um die Kirche stehen, etwas näher an. Hinter der Kirche lädt ein beschauliches Altenheim zu einem ruhigen Lebensabend ein. Davor steht eine mächtige, uralte Eiche. Alte und hohe Eichen gibt es hier ohnehin viele, einen solch dicken und knorrigen Baum wie diesen jedoch, findet man selten.
Vermutlich hat jedes Dorf auch seinen Schandfleck. Hier ist es eine wohl schon vor Jahren abgebrannte Scheune. Die verkohlten Balken ragen noch gen Himmel. Das Gebäude wartet auf endgültigen Abriss.
Gegenüber der Kirche an der Hauptstraße liegt das Tagungshaus, von dem mehrfach die Rede war. Auch dazu habe ich heute früh im Internet recherchiert. Das Fachwerkhaus war früher einmal die Dorfschule. Ein christlicher Verein hat sie nach Schließung Ende der Siebziger Jahre übernommen und nutzt es jetzt als Gästehaus. Vor allem Konfirmandengruppen, aber auch Erwachsene führen hier ihre Seminare durch. Dafür hat der Verein zwei weitere moderne Häuser gebaut. Eines davon ist dem Osterfest, also der Auferstehung Jesu gewidmet. Schon wieder Auferstehung!
Das Pfarrhaus liegt der Kirche schräg gegenüber, etwas abseits der Straße. Hätte ich das verblasste Schild an der Eingangspforte nicht gesehen, wäre ich vorbeigegangen. Der Garten ist verwildert. Das alte Fachwerkhaus wirkt verlassen. Bereits während ich klingle, sehe ich, dass niemand öffnen wird.
Hier wohnt niemand. Die Fenster sind ohne Gardinen, die Räume dahinter kahl und leer.
Dabei hatte der Nachbar doch gesagt, dass der Pastor mit der Polizei bei Frau Bender war. Und die alte Dame am Friedhof hatte gemeint, dass der Pastor auch bei der Öffnung des Grabes anwesend war. Wo also finde ich den Kirchenmann, wenn nicht im Pfarrhaus?
Die Ecke vor der alten Eingangstür ist als Terrasse gestaltet. Alles wirkt wildromantisch: Rosen umranken ein großes Fenster. Die zum Teil verblühten roten und weißen Blätter wehen über die Waschbetonplatten einer Sitzecke. Einige Sonnenblumen strecken ihre gelben Blüten leuchtend gelb dem Himmel entgegen. An einer verwitterten Pergola rankt Efeu.
Gleich an der Terrasse fällt mir eine Tür in der Holzwand auf. Dort drüben muss das Tagungshaus sein. Ich kann es ja einmal dort versuchen. Mit einiger Mühe öffne ich die Holztür in der Pergola.
Vor mir liegt ein Lagerfeuerplatz mit verkohlten Holzresten darin. Rechts neben einer größeren Gartenhütte steht ein Anhänger mit sechs grünen Kanus. Der Rasenplatz vor mir macht einen erbärmlichen Eindruck. Hier wird Volleyball gespielt und es ist sehr trocken. Von grünem Rasen kann also nicht die Rede sein. Vorne erhebt sich das Hauptgebäude.
Vom Eingang aus kommt mir ein junger Mann entgegen. Fragend schaut er mich an. Ich bitte ihn, mir zu sagen, wo man den Pastor erreichen kann.
»Oh, weiß ich auch nicht.« Der etwa achtzehn Jahre alte Junge hebt bedauernd die Schultern. »Ich bin gerade hier angekommen. Ich beginne mit meinem FSJ, müssen Sie wissen. Aber ich frage drinnen mal nach, dort sind noch einige von der alten HG.«
Er geht auf die Treppe zu. Ich folge ihm. An einem Pfosten, fast verdeckt von Weinranken, ist ein kleines Schild unter der Hausnummer angebracht. »Hier war Luther« heißt es da. Erst beim zweiten Hingucken sehe ich darunter in kleinen Buchstaben »nie«. Humor haben sie hier jedenfalls.
Zwei junge Frauen wirtschaften in einer großen Küche, ausgestattet mit professionellem Equipment aus Edelstahl. Eine der Frauen begrüßt mich. »Hallo, ich bin Bianca und gehöre zur Hausgemeinde.«
Aha, das meinte der ahnungslose junge Mann also mit »HG«, Hausgemeinde. Bianca macht einen selbstbewussten Eindruck.
»Was kann ich für Sie tun?«
Ich frage auch sie nach dem Pastor.
»Das tut mir leid. Zurzeit haben wir hier keinen Pastor. Die Stelle ist vakant. Der Pastor der Gemeinde ist gleichzeitig auch Leiter hier im Tagungshaus und einer der Begleiter von uns als Hausgemeinde. Aber wie gesagt, im Moment ist die Stelle nicht besetzt.«
»Ich habe gehört, ein Pastor hat letzte Woche jemanden beerdigt.«
Bianca schmunzelt. »Sie meinen Oliver Bender? Ach deshalb sind Sie hier? Auch wir haben von den Gerüchten gehört. Angeblich haben sie sein Grab nochmals geöffnet.«
»Und? Was halten Sie davon?«
Bianca lacht. »Da gehen unsere Meinungen auseinander. Wir haben gestern darüber diskutiert. Eigentlich meinen alle, es müsse eine natürliche Erklärung geben, vielleicht einen Doppelgänger oder so was. Oder er war scheintot und hat sich selbst aus seinem Sarg befreien können.«
»Also glaubt ihr nicht an eine Auferstehung?«
»Klar glauben wir daran, jedenfalls die meisten von uns. Aber doch nicht sofort nach der Beerdigung!«
Wieder lacht sie und steckt die anderen beiden neben sich mit an. »Und was die Beerdigung angeht. Die hat Pastor Klaus Kerber gemacht. Klaus ist hier Vertreter, solange die Stelle noch nicht wieder besetzt ist.«
Auf meine Bitte hin gibt sie mir die Telefonnummer des Pastors. Erstaunt sehe ich, dass es eine Nummer aus der Kreisstadt ist. Ich bedanke und verabschiede mich. Eine etwas seltsame Gemeinschaft ist das hier. Lauter junge Leute, die den Laden schmeißen. Die Stimmung scheint gut zu sein. Ich erinnere mich, schon von dieser Einrichtung gehört zu haben, irgendwie im Zusammenhang mit einem großen Jugendcamp zu Pfingsten. Aber ich war da nie mit Berichten involviert.