Ellen G. Reinke

In den Fängen der Stasi


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Ende 1975 begann er zusammen mit seinem Kollegen Christoph Richter, den wir kurz Chris nannten, mit einer außerplanmäßigen Aspirantur an der Bergakademie Freiberg. Von der Stasi sahen und hörten wir nichts und ich fühlte mich in meiner Vermutung bestätigt, dass wir für diesen Verein längst uninteressant geworden waren. War ich wirklich so naiv? War es Vogel Strauss Politik? Ich weiß es heute noch nicht.

      Im März 1980 sollte die Dissertation verteidigt werden. Zur Vorbereitung der Verteidigung wurde ein Kolloquium mit einem ausgewählten Kreis von Fachleuten der Hochschule anberaumt. Unmittelbar nach dem Beginn der Veranstaltung erschienen zwei Herren und trugen sich in die Anwesenheitsliste ein. Zum Abschluss der Veranstaltung wurde nochmals die Teilnehmerliste erörtert und man stellte fest, dass die beiden letzten Unterschriften unleserlich waren. Keiner der Anwesenden hatte die zwei Männer gekannt oder gar geladen.

      Am nächsten Tag wurde Jo zu seinem Generaldirektor bestellt. Man warf ihm vor, interne Informationen über das Bauwesen der DDR in einem Kreis von Fachleuten an der Bergakademie Freiberg erörtert zu haben. Mit sofortiger Wirkung wurden sämtliche an dritte ausgehändigten Materialien eingezogen und die Dissertation zur VVS (Vertrauliche Verschlusssache) erklärt. Für einen nicht mit dem politischen System vertrauten Leser wird es kaum möglich sein, abzuschätzen, wie kompliziert die Arbeit dadurch wurde. Dass darüber nicht gesprochen werden durfte, wäre nicht das Problem gewesen. Aber man hatte Jo vier Gutachter für die Dissertation benannt, Professoren von verschiedenen Universitäten, Wissenschaftler, für die es nicht üblich war, sich VVS verpflichten zu lassen. Wie also weiter?

      Alles ganz einfach, indem man die Professoren VVS verpflichtet? Ein Wissenschaftler ist aber der Meinung, dass die Forschung nicht politisch und somit frei von Zwängen durch Wirtschaft und Partei sein sollte. Am Ende hat man es wohl doch irgendwie geschafft, dass drei der Professoren die Verpflichtung akzeptiert haben. Der vierte wurde zur Verteidigung nicht zugelassen.

      Unsere Angst, dass noch irgendeine Reaktion der Stasi auf die Dissertation käme, schien zunächst unbegründet. Jos Arbeit hatte Fehler und Schwächen der sozialistischen Planwirtschaft und des Bilanzierungssystems aufgedeckt. Aber es gab im Ministerium für Bauwesen auch ein paar kluge Köpfe, für die seine Dissertation wertvoll war. Und so wurde er dort sogar in interne Arbeitsgruppen eingebunden.

      1981 setzte ihn der Generaldirektor der VVB Baumechanisierung als seinen Sonderbeauftragten für die Mechanisierung der Bauprozesse im kreisgeleiteten Bauwesen der DDR ein. Ließ man ihn gewähren? Allerdings waren wir trotz Jos Beförderung stets auf der Hut. Auch ich hatte inzwischen meine Fehleinschätzung der „Firma Horch und Guck“, wie man die Stasi volkstümlich nannte, erkannt und meine Meinung revidiert.

      12. Alles unter Kontrolle

      So recht wohl fühlten wir uns in unserem Wohnblock nicht mehr. Teils auch durch generationsbedingten Mieterwechsel, hatten wir im Haus nur eine einzige Familie, der wir trauen konnten und mit der wir uns anfreundeten.

      So sahen wir zum Beispiel Herrn Lauer aus dem Nachbarhaus des Öfteren unter unserem Fenster stehen und eine Zigarette, oder auch mehrere, rauchen. Klar, dass wir uns Gedanken darüber machten, warum er ausgerechnet uns die Luft verpestete, hatte er sich doch in der Vergangenheit schon mehrfach bei politischen Anlässen hervorgetan. Ich verachtete ihn und ich weiß nicht mehr, ob ich ihn überhaupt gegrüßt habe. Der Zufall wollte es, dass ich eines Tages als Notarzt zu einem Bewusstlosen gerufen wurde. Die „nicht ansprechbare Person“ war eben jener Herr Lauer. Ich konnte ihm helfen. Erst hinterher überdachte ich die Situation. Was habe ich für einen Job? Für einen Arzt gilt weder Sympathie noch Antipathie. Einige Tage später sprach mich Frau Lauer an, sie solle mich von ihrem Mann herzlich grüßen und bedankte sich dafür, dass ich ihm das Leben gerettet hätte. Ob er ähnliche Schlussfolgerungen gezogen hatte, wie etwa zehn Jahre zuvor der Kreisarchitekt von Freital, wage ich zu bezweifeln. Dass wir ihn künftig nicht mehr unter unserem Fenster stehen sahen, schrieb ich seinem Gesundheitszustand zu. Er durfte nicht mehr rauchen.

      Eine andere merkwürdige Begebenheit kann ich selbst heute nur annäherungsweise deuten: Unsere Nachbarin, Frau Reich, eine ältere Dame, die auch einen Schlüssel von unserer Wohnung hatte, erzählte uns, eine Frau von der „Urania“ habe sich nach mir erkundigt. Sie hätte gesagt, ich solle dort Vorträge halten. Und da müsste man schon Kenntnis davon haben, mit wem man es zu tun hätte. Sie wollte wissen, wie ich so sei, wie ich mein Kind erziehe, wie unsere Ehe gehe, ob wir uns oft streiten würden. … Ich konnte mir keinen Reim daraus machen. Den Uraniaverlag kannte ich. Von einer Gesellschaft Urania mit einer Vortragsreihe hatte ich wohl mal gehört, aber ich hatte niemals Kontakte dort hin und mich erst recht nicht bereit erklärt, da Vorträge zu halten. Dass wir uns beobachtet fühlten, war keinesfalls aus der Luft gegriffen. Aber warum um alles in der Welt interessierten sie sich für meinen Charakter? Was ging die an, wie wir unsere Ehe führten?

      13. Raus aus dem Tal der Ahnungslosen

      Wir liebäugelten mit einem eigenen Heim, aber im „Tal der Ahnungslosen“, wie man den Elbkessel von Dresden ohne Westfernsehen nannte, wollten wir nicht bleiben.

      Wir hatten Glück. Während meiner Tätigkeit in der Flugzeugwerft hatten wir uns mit einem Ehepaar namens Haustein angefreundet. Sie wohnten in Weixdorf, in Nähe des Dresdner Flughafens. Als die beiden uns signalisierten, dass eine Frau in ihrer unmittelbaren Nähe ihr Haus verkaufen wolle, handelten wir sofort. Wir wurden uns mit der Dame einig und unterschrieben im Januar 1981 den Notarvertrag. Dass wir zunächst nicht einziehen konnten, störte uns wenig. Die Vorbesitzerin wollte noch bis zum Erreichen ihrer Altersrente dort in der Nähe ihrer Arbeitsstelle wohnen bleiben. Sie war recht umgänglich und kam uns so weit entgegen, dass sie nicht nur die Renovierungsarbeiten, sondern sogar Umbaumaßnahmen duldete. Andererseits verzichteten wir auf Miete. Es war absehbar, dass die Dame die Altersrente erreichte, die Sanierungen abgeschlossen sein würden und wir dann nicht mehr zu den „Ahnungslosen“ gehörten.

      Die Umbauarbeiten gestalteten sich schwieriger als wir erwartet hatten. Das Haus war etwa vierzig Jahre alt und hatte noch Kohleheizung. Also musste eine Zentralheizung her. Dazu war wiederum ein neuer Schornstein erforderlich. Die Arbeiten konnte Jo mit Herrn Haustein und anderen Freunden größtenteils selbst durchführen. Aber die meisten Materialien waren für DDR-Mark nicht zu haben, außer man hatte Beziehungen, auch Vitamin B genannt. Wir hatten oft nach dem Motto: „Beziehungen schaden nur dem, der keine hat“, gehandelt und versucht, unseren Schaden so gering wie möglich zu halten. So konnten wir einiges beschaffen, aber manches war nur gegen „harte Währung“ (DM), allgemein Westmark genannt, zu bekommen. Doch auch dafür fanden wir eine Lösung. Meine Tante Erika aus Landsberg am Lech, die fast jährlich ihren Sohn in der DDR besuchte, brachte ihm immer DDR-Mark mit. Das war jedoch gefährlich, denn die DDR-Mark als so genannte Binnenwährung durfte ja nicht ausgeführt und erst recht nicht eingeführt werden. Damit Erika sich nicht strafbar machen müsse, hatten wir angeboten, ihr das Ostgeld zu geben, und sie gab uns dafür Westmark, die sie ja bei sich haben und auch ausgeben durfte. Auf diese Weise ging sie nicht mehr die Gefahr ein, erwischt zu werden, sparte sogar noch die Umtauschgebühr, und wir freuten uns über die D-Mark. Hin und wieder tauschten wir auch 10:1 statt 8:1, wie damals üblich, mit dem einen oder anderen Rentner. Mitunter bekamen diese von ihren Kindern aus der BRD ein paar Westmark zugesteckt. Das Aufbessern ihrer kargen Rente für den täglichen Bedarf war ihnen jedoch wichtiger als Luxusartikel aus dem Intershop. Das waren jene Läden in der DDR, wo Bundesbürger für DM einkaufen konnten. So hatten wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Die Rentner freuten sich über den großzügigen Umtauschkurs und waren uns dankbar. Wir jedoch benötigten die Devisen dringend für die Materialien, die wir für Ostmark nicht zu kaufen bekamen. Natürlich hatten wir kein Vermögen an „blauen Fliesen“, wie das Westgeld auch im Volksmund wegen des blauen Hundertmarkscheins genannt wurde. Aber es reichte für den Schwarzhandel.

      Bis das Haus beziehbar wäre, würde es noch dauern.

      14. Ein wertvolles Tauschobjekt

      Als einziger Zufluchtsort blieb uns weiterhin unser geliebtes Wochenendgrundstück. Da waren die Worte von Goethes Faust im Osterspaziergang: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“, zutreffend.

      Obwohl die Landbevölkerung im Allgemeinen nicht