Ellen G. Reinke

In den Fängen der Stasi


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Möglichkeiten gäbe, „abzuhauen“.

      Wir wohnten in Varna, genauer gesagt, am Goldstrand, einem der beliebtesten Urlaubsziele für Ostdeutsche. Von Nessebar, einem anderen Urlaubsort, aus fuhr ein Tragflächenboot nach Istanbul. Und wir glaubten, dass es für uns irgendwie möglich sein müsste, da hinauf zu kommen. Warum hätte sonst der Reiseleiter so großen Wert darauf gelegt, täglich zu kontrollieren, ob wir noch alle da sind. Wir überredeten das jüngere Paar, welches die Türkei noch nicht kannte, eine solche Reise zu unternehmen. Und tatsächlich fuhren sie nach Istanbul.

      Unser Hoffnungsschimmer löste sich in nichts auf, als sie meinten, wir als DDR Bürger hätten keine Chancen, auf das Schiff zu gelangen. Die Pässe wurden abgenommen, wenn man an Bord ging und erst beim Verlassen des Bootes in Nessebar persönlich wieder ausgehändigt. Aber wie hätten wir in den Besitz eines gefälschten Passes kommen können?

      Von unseren Kontakten zu den Westberlinern hat niemand aus unserer Reisegruppe etwas mitbekommen.

      Um eine Vielzahl an nicht nur positiven Erlebnissen reicher, traten wir unsere Heimreise an. Und als wir auf dem Flugplatz in Dresden ankamen, riet mir Jo, mich bei der Ausweis- und Zollkontrolle in der Schlange hinten anzustellen. Ich verfolgte seinen Blick und sah meine Namensvetterin heulen. Ich hatte begriffen. Die Rache des kleinen Mannes! Der Reiseleiter war vorgegangen, während alle anderen Passagiere geduldig warten mussten. Offensichtlich hatte er berichten müssen. Jo war ohne Probleme durch die Kontrolle gekommen. Dann kam ich an die Reihe. Alles wurde auseinander genommen, pikant, die schmutzige Unterwäsche. Ich weiß nicht, wer mehr abgebrüht war, ich als Ärztin, die schon einiges gesehen hatte, oder die Beamten. Man fand auch mein kleines Notizbüchlein mit gestempelten Rezepturen. Für den, der Latein beherrscht, kein Problem, für den Zoll aber „böhmische Dörfer“, vielleicht Geheimcodes? Warum um alles in der Welt hatte ich es bei mir? Ich hätte mich ohrfeigen können! In Bulgarien hätte ich es eh nicht gebraucht. Glücklicherweise konnte ich den Zweck der Notizen erklären. Dann entdeckte man ein ro-ro-ro Taschenbuch. Ich hatte es schon von der DDR aus als Urlaubslektüre mitgenommen. Da es von einem Schriftsteller war, der auch in der DDR verlegt wurde, hatte ich es für unverfänglich gehalten. Weit gefehlt, der Verlag war das Problem. Man wollte es konfiszieren. Wütend verlangte ich, dass man mir nachweise, dass es auf der Liste der verbotenen Bücher stehe. Ansonsten hätten sie überhaupt kein Recht, mir das Büchlein wegzunehmen. Sollten sie es doch beschlagnahmen, so wollte ich wenigstens eine Quittung haben, um es mir später wiederzuholen. Es gab ein Hin und Her und ich bestand darauf, dass man den Offizier vom Dienst hole. Er kam, hörte mein Anliegen und sagte: „Was wir Ihnen wegnehmen und wofür wir Ihnen eine Quittung geben, das bestimmen wir, einzig und allein nur WIR. Merken Sie sich das!“ Ein sanfter Stoß von Jo in meine Rippen verhinderte, dass ich das, was ich schon auf den Lippen hatte, aussprach: „Willkür!“ Natürlich war es mir nicht um das Büchlein gegangen, das ich ohnehin ausgelesen hatte, sondern ums Prinzip. Wie oft hatte ich die Worte aus der Arie des Zacharias: „Wer glaubt, dass das Recht siegt, der wartet vergebens, denn nur wer die Macht hat, bestimmt auch das Recht“, zitiert. So viele Male hatte ich meine Lieblingsoper Nabucco erleben dürfen, sodass ich mehrere Passagen auswendig kannte, ohne den Text jemals gelesen zu haben. Allerdings habe ich jetzt erst kürzlich eine Inszenierung dieser Oper gesehen und eben jene Worte vermisst. Leider! So bin ich heute im Nachhinein noch dem Regisseur in der DDR dankbar für diese Passage, an der sich außer mir sicherlich auch andere Opernfreunde aufrichten konnten.

      Wollte ich damals auf dem Flughafen etwa nicht begreifen, dass das Recht beugsam war und dass es in der Deutschen DEMOKRATISCHEN Republik keine Demokratie gab und noch lange nicht angewandt werden musste, was geschrieben stand?

      Die ganze Prozedur hatte so lange gedauert, dass der letzte Bus inzwischen abgefahren war. Ein Taxi in der DDR zu bekommen, war jedoch Glückssache. Hier am Flughafen stand keins. Wir hätten mit unserem Gepäck nach Hause laufen können, wenn nicht ein Ehepaar aus Cottbus, auch aus unserer Reisegruppe, das alles beobachtet und gewartet hätte. Sie hatten ihr Auto am Flughafen stehen und boten uns an, uns mitzunehmen. Das war der Beginn einer anhaltenden Freundschaft. In Bulgarien hatten wir kaum miteinander gesprochen.

      6. Ein Blick nach Schirnding

      Diese Willkür und schikanöse Behandlung verdeutlichte uns wieder einmal, in welch erbärmlichem System wir lebten. Sollten wir etwa den Rest unseres Lebens unter der „Diktatur des Proletariats“ verbringen? Nein, das wollten wir keinesfalls! Unsere Fluchtgedanken verstärkten sich.

      Ich hatte einen tschechischen Freund, Jiri. Seine Eltern wohnten in einem kleinen Ort im Böhmerwald in der Nähe von Bayerisch Eisenstein. Als wir Jiri einmal in Prag besuchten, erzählte er uns, dass es in der Gegend, wo seine Eltern lebten, Leute gäbe, die Menschen auch nach der Dubcek Ära über die Grenze nach Bayern geführt hätten. Wir baten ihn, dies genauer zu eruieren. Mit Heinz und Irene, einem gleichaltrigen und gleich gesinnten befreundeten Arztehepaar unterhielten wir uns darüber und planten gemeinsam eine Reise in den Böhmerwald. Wir wollten das selbst erkunden. Auch die beiden hätten viel lieber ihr weiteres Leben in der BRD fortgesetzt.

      Obwohl ein Telefonat aus Prag „kein gutes Wetter im Böhmerwald“ verhieß, fuhren wir zu Jiris Eltern. Es waren sehr nette Leute. Aber sie meinten, dass es in der CSSR inzwischen genau so unmöglich wäre, die Grenze zu überwinden, wie in der DDR. Also brachen wir wieder auf und wählten eine Landesstraße unmittelbar an der Grenze entlang nach Eger. Auf einem gemütlichen Rasenstück nahe der Eger-Talsperre machten wir Rast und ließen uns den köstlichen, von unseren Wirtsleuten selbst gebackenen Heidelbeerkuchen munden. Dann gingen wir noch ein Stück eine kleine Straße entlang, vorbei an zwei oder drei Häusern, auf den Wald zu. Der Sohn unserer Freunde lief zwischen uns Erwachsenen hin und her und wir versuchten, nicht gerade geräuschlos, ihn zu fangen. Vor dem letzten Haus saßen zwei Anwohner, die wir freundlich grüßten und die ebenso freundlich dankten. Kurz hinter dem Haus machte die Straße eine Linksbiegung. Geradeaus ging nur eine Art Feldweg und da stand rechts ein Verbotsschild mit dem Hinweis: Grenze. Wir bezogen dies auf den Weg und gingen auf der Straße weiter. Aber wir waren noch keine fünf Meter hinter der Biegung, als plötzlich ein Grenzsoldat von einer Art Hochstand in einem Baum herunter sprang. Er gestikulierte wild, hielt die MP auf uns gerichtet und befahl uns, stehen zu bleiben, als wir wieder zurückgehen wollten. Dann zog er einen Telefonhörer aus seiner Tasche und steckte das Kabel, welches aus dem Hörer heraushing, zu unserem Erstaunen in einen Telefonmast und telefonierte in seiner Landessprache. Die Einheimischen, die keine zwanzig Meter hinter uns gesessen hatten, waren im Haus verschwunden. Nach geraumer Zeit kam ein Jeep und wir wurden gezwungen, aufzusteigen. Man brachte uns in die Kaserne. Die Erwachsenen wurden getrennt, jeder in ein anderes Zimmer gesteckt, und auch ich sollte in einen gesonderten Raum. Ich war jedoch widerspenstig und bedeutete, dass ich nur mit meinem Mann zusammen in ein Zimmer gehen würde. Natürlich verstand mich keiner. Man wollte mich anfassen, doch ich hob die Hand, als würde ich zuschlagen, falls mich einer berühre, und schrie: „Offizier, Offizier!“ Inzwischen war ein Massenauflauf von Grenzsoldaten entstanden und alle grienten. Sicher war dies eine willkommene Abwechslung für sie gewesen. Der Offizier kam und ich durfte zu meinem Mann. Er saß in einem nüchtern eingerichteten Raum mit einem Schreibtisch und mehreren Stühlen und blieb brav sitzen. Auch mich forderte man auf, sich zu setzen. Aber ich war viel zu aufgeregt. Kaum dass ich Platz genommen hatte, stand ich sofort wieder auf und ging ans Fenster. Man konnte den Bahnhof von Schirnding sehen. Ich berichtete Jo, was ich sah und wollte, dass auch er ans Fenster käme, aber einer unserer beiden Bewacher, die mit vorgehaltener MP da standen, räusperte sich. Jo schaute mich viel sagend an und ich nahm brav wieder Platz. Es vergingen Stunden, bis eine deutsch sprechende Zivilperson, die sich nicht vorstellte, kam und uns vernahm. Wir schilderten den Umstand, der zu unserer Festnahme geführt hatte und erfuhren, dass uns die Wachposten schon auf der gesamten Fahrtstrecke an der Grenze von Turm zu Turm beobachtet und gemeldet hatten. Da sich unsere Aussagen mit denen von Heinz und Irene deckten und offensichtlich überzeugend waren, wurden wir freigelassen. Wir mussten das Land binnen 24 Stunden verlassen. Bei Nichteinhaltung dieser Auflage würde eine Meldung an die DDR-Behörden erfolgen. Sollten wir jedoch nochmals in Grenznähe angetroffen werden, hätten wir mit einer Inhaftierung zu rechnen.

      Wie froh wir alle waren, heil davonzukommen, kann keiner ermessen, der nicht in einer ähnlichen Situation gesteckt