Ellen G. Reinke

In den Fängen der Stasi


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unzählige Stunden gekostet. Eine Hilfe hatte ich nicht. Im Gegenteil, um das Cardiologische Labor samstags benutzen zu können, hatte ich mich bereit erklärt, bei personellen Engpässen, die es leider oft gab, morgens mit Blut abzunehmen. Dafür hatte ich jedes Mal Vorlesungen schwänzen müssen. Das war nun alles umsonst! Verständlich, dass mein Fluch auch das politische Regime traf.

      Zweitens hatte ich mich ganz gegen meinen Willen verliebt. Das merkte ich von Tag zu Tag, an dem ich nichts von Jo hörte, umso mehr. Dabei war er doch sicher ein „Roter“, wie wir alle linientreuen, dem Staat ergebenen Bürger nannten. Als persönlicher Referent des Direktors eines großen Werkes mit 6000 Beschäftigten war er natürlich in der Partei. Warum musste ich gerade an so einen mein Herz hängen? Ich hatte die Telefonnummer von Jos Dienststelle, aber da anzurufen wäre undenkbar gewesen. Ihm schreiben? Nein, keinesfalls! Er könnte sich ja auch mal melden. Tat er aber nicht.

      Als ich es nicht mehr aushalten konnte, fasste ich mir ein Herz und suchte Jos Mutter auf. Ich fand sie recht nett und der Bann war sofort gebrochen, als sie mir verriet, dass er wohl auch leide und oft am Fenster stehe und Ausschau halte. Außerdem hätte die Zurückhaltung der Familie mir gegenüber nichts mit meiner Person zu tun, sondern mit Jos Lebenswandel. Er und seine Freunde hätten ständig neue Mädchen mit nach Hause gebracht und die seien auf einer Verlobungsfeier nun wirklich fehl am Platze gewesen. So hatte der Familienrat beschlossen, dass er zur Feier ein Mädchen nur mitbringen könne, wenn er „ernste Absichten“ hätte. Jo aber hatte ihnen gedroht, selbst auch nicht zu kommen, wenn er mich nicht mitbringen dürfe, verständlicherweise ohne sich über seine Absichten zu äußern.

      Ich hätte sie küssen können und wollte mehr über ihn wissen. Einiges erfuhr ich von ihr und einiges wohl auch später von ihm selbst.

      Jo war der Vierte von fünf Kindern, drei Mädchen und zwei Jungen. Vor 1945 hatte die Familie in Reick, einem Stadtteil von Dresden, gewohnt und war ebenfalls ausgebombt worden. Da sie nicht wie wir eine Oma in Dresden hatte, zu der sie hätte ziehen können, wurde sie in ein kleines Dorf im Erzgebirge zu einem Bauern evakuiert. Der Vater war in französischer Kriegsgefangenschaft und die Mutter hätte es nicht geschafft, allein für sechs Personen zu sorgen. So mussten die Kinder beim Bauern mit arbeiten. Jo traf es am härtesten, denn die zwei Großen waren im Internat und die Jüngste war noch zu klein. In der Erntezeit zum Beispiel bekam Jo die Schule nur äußerst selten zu sehen. Dass die Familie wieder Zuzug nach Dresden erhielt, war Glück im Unglück, denn das Bauerngehöft, in dem man sie untergebracht hatte, brannte nachts aus. Alle hatten lediglich ihr Leben retten können.

      Ausgebombt... Ausgebrannt... Abermals Neuanfang...

      So ist es für Jo sehr schwer gewesen, den Anschluss in der Schule zu finden, und er musste schon in der Grundschule abgehen und Maurer lernen. Über die Abendschule war er dann zum Ingenieurstudium gekommen.

      Er hatte im Stahlwerk Riesa als Bauingenieur angefangen und als sein Chef Werkdirektor im Stahlwerk Gröditz wurde, hat dieser ihn als seinen persönlichen Referenten mitgenommen. Später hat Jo sich dann in das Edelstahlwerk in Freital, eine kleine Kreisstadt vor den Toren Dresdens, versetzen lassen. Für diesen neuen Posten war ein Betriebswirtschaftsstudium, in der DDR hieß das Ingenieurökonomie, erforderlich. So hatte Jo also noch ein Fernstudium aufgenommen.

      Er hat mich doch nicht angelogen, als er mir zum Fasching erzählte, er sei Student, stellte ich erleichtert fest. Damals hatte ich jedoch nur an Direktstudenten gedacht. Kein leichter Weg also, vom „Dorfdunzel“, wie wir Kinder diejenigen genannt hatten, die vom Land in die Stadt gekommen waren, zum Wissenschaftlichen Mitarbeiter. Ich schämte mich ein wenig, wenn ich dagegen meinen glatten Bildungsweg betrachtete. Mir war immer alles leicht gefallen und ich versuchte, mir vorzustellen, wie Jo um sein Vorwärtskommen hatte kämpfen müssen. Ich verstand sogar, warum er in die Partei eingetreten war. War er nun rot oder nicht? Ich würde einige Zeit brauchen, um sein wahres Gesicht kennen zu lernen. Natürlich gab ich mich ihm gegenüber auch linientreu und mir war klar, dass Jo mich ebenfalls für eine Rote halten musste. Eigentlich sollte er das ja, zumindest so lange, bis ich wüsste, wie er wirklich dachte.

      Wie oft fragte ich mich, ob sich wohl alle Liebenden so quälen müssten, bevor sie sich outen könnten? Man wusste ja, dass politisch Andersdenkende verfolgt wurden und möglicherweise sogar mit einer Inhaftierung zu rechnen hatten. Von einem humanen System, in dem wir lebten, konnte man wohl kaum sprechen. Es wird in keiner Statistik erscheinen, wie viele Beziehungen daran gescheitert sind, dass der eine vom anderen fürchtete, er könne ihn denunzieren, wenn er sich bekenne.

      Es folgte eine schreckliche Zeit. Ich liebte Jo, wollte ihn nicht verlieren, aber ich wollte weder einen Roten, noch wollte ich ans Messer geliefert werden. Ganz behutsam entblätterten wir uns gegenseitig, wie Zwiebeln, bis wir endlich feststellen konnten, dass wir beide das DDR-Regime verachteten. Zwei von Jos Schwestern waren sogar 1958, also noch vor dem Mauerbau, „nach dem Westen abgehauen“, wie man im Volksjargon sagte. Offiziell hieß das Republikflucht.

      3. Endlich nicht mehr solo, aber auch kein sorgloser Student mehr

      Im September fing mein letztes Studienjahr an. Nur diesen einen Monat hatten wir noch Vorlesungen, dann begannen die Praktika, vergleichbar mit dem PJ in der BRD. Im Hörsaal saß ich immer mit meiner Clique zusammen. Wir waren zwei Mädchen und drei Jungs. Genau vor uns saß oft ein merkwürdiger Typ, der unsere Aufmerksamkeit erweckte. Er war etwa in unserem Alter, aber nach Student sah er nicht aus. Ab und zu schrieb er etwas in Steno mit. Ich hatte in der Grundschule zwar Steno gelernt, jedoch kostete es mich einige Mühe, zu entziffern, was der komische Heini da zu Papier brachte. Er notierte zweideutige Äußerungen, politische Witze etc. Manchmal machte er auch nur ein paar Krakel, damit es aussehe, als ob er mehr mitschreibe. Das hatte mir das Entziffern so schwer gemacht.

      Er war also ein Spitzel! Jetzt konnte ich meine Erregung nur schwer verbergen und teilte diese Feststellung meiner Clique mit. Nun begriffen wir auch, warum er nur die Vorlesung bestimmter Dozenten besuchte. Wir überlegten, wie wir ihn überführen könnten. So sprach ich ihn allein an, ob er ein neuer Student sei. Er verneinte und ich fragte ihn, wieso er es sich leisten könne, im Hörsaal zu sitzen, obwohl er arbeitete. In der DDR gab es nämlich nicht nur ein Recht auf Arbeit, sondern auch eine Pflicht zur Arbeit. Er erklärte mir, dass sich seine Tätigkeit mit seinem Interesse an Medizin-Vorlesungen vereinbare und ich erwiderte, dass ich so eine Arbeit interessant fände. Meine Interessengebiete seien aber eher Oper oder Konzert. „Darüber lässt sich reden“, antwortete er mir spontan und ich wusste, dass ich zu weit gegangen war. Ab sofort schirmten mich die Jungs meiner Clique ihm gegenüber komplett ab. Es gelang ihm jedoch, mich direkt vor der Damentoilette abzupassen und mir einen Zettel zuzustecken. Im Befehlston sagte er noch kurz: „Reden Sie mit niemandem darüber!“ Auf dem Zettel stand: „Freitag 16 Uhr Normaluhr Schillerplatz!“ Die Clique beriet und wir hatten alle möglichen Ideen, unter anderem auch, dass ich hingehe und die Jungs im Hintergrund warten und ihn angreifen würden, wenn er aufdringlich werden sollte. Ich müsse ja nicht wissen, von welcher „Firma“ er sei. Natürlich erzählte ich das auch Jo. „Bist du wahnsinnig?“ So wütend hatte ich ihn noch nicht gesehen. Er erklärte mir, dass die Stasi mir schon beweisen würde, dass ich gewusst haben müsse, woher der Typ komme und ich unweigerlich als Berichterstatter in deren Fängen landen müsse. Die Bezeichnung IM kannte damals sicher noch niemand. Am Montag kam der ekelige Typ trotz dessen, dass die Jungs der Clique mich abschirmten, auf mich zu und fragte, wo ich am Freitag gewesen sei. Ich sei nicht erschienen. Doch Janosch, ein Junge aus unserer Clique, baute sich mit seiner Statur wie Arnold Schwarzenegger vor ihm auf und sagte: „Lass die Finger von der, die ist in festen Händen und ihr Freund ist Boxer.“ Dann legte er seinen Arm um mich und schob mich weg. Ich bin heute noch heilfroh, dass es so glimpflich ausgegangen ist, denn das war meine letzte Begegnung mit dem Stasimann.

      Der September war glücklicherweise zu Ende und im Oktober verlobte ich mich mit Jo. Leider verstarb sein Vater, den ich sehr mochte, bereits im Dezember mit nur 64 Jahren. Aus diesem Anlass kam auch Jos älteste Schwester Gerda aus der Schweiz zu Besuch. Probleme traten dabei nicht auf.

      Mein Studium ging langsam zur Neige. Wir hatten beschlossen, zu heiraten, sobald ich meine letzte Prüfung hinter mich gebracht hätte.

      Jo arbeitete