Ein Kleinod im Grünen
Die Mutter von Heinz, eine sehr gut verdienende frei niedergelassene Zahnärztin, hatte ein Boot an einem der Berliner Seen liegen und hätte das zugehörige Grundstück käuflich erwerben können, um darauf einen Fertigteil-Bungalow aufzustellen. Für dessen Bestellung war jedoch eine Baugenehmigung erforderlich. Für eine solche Genehmigung musste man aber Grundstücksbesitzer sein. Das Land wiederum wollte sie nur kaufen, wenn sie dort ein Häuschen aufstellen dürfte. Ein DDR-typischer Circulus vitiosus!
Sie bat Jo um Hilfe und er wusste Rat. Ein ehemaliger Kommilitone von ihm war in der Staatlichen Bauaufsicht unseres Stadtbezirkes tätig. Dieser besorgte pro forma eine Aufstellgenehmigung für ein solches ca. 20 m² großes Häuschen in den Schrebergarten meiner Eltern mit einer Fläche von kaum mehr als 100 m². Also bestellten wir den Fertigteil-Bungalow auf unseren Namen.
Allerdings erfuhren wir wenige Wochen später von der Mutter von Heinz, dass die Bestellung solcher Häuschen infolge der Absatzschwierigkeiten in das NSW (Nicht Sozialistisches Wirtschaftsgebiet) nunmehr frei sei. Man brauchte keine Baugenehmigung mehr.
Wie also weiter? Wir berieten. Die Zahnärztin bestellte selbst auf ihren Namen und wir beließen es bei unserer Bestellung, denn bei einer Lieferzeit von mehreren Jahren würden wir dann auch in der Lage sein, uns ein Wochenendgrundstück zu leisten. Allerdings wurden aus der Lieferfrist von mehreren Jahren plötzlich nur noch mehrere Tage. Und ehe wir uns versahen, lagerten die Fertigteile zweier Bungalows im Garten der Mutter von Heinz. Was tun? Wir brauchten ein Grundstück und merkten erst jetzt, dass dies gar nicht so leicht war. Wir sprachen alle möglichen Leute, ich vor allem Patienten, an. Ziemlich aussichtslos! Doch eines Tages rief mich ein Patient an, er sitze gerade mit dem Förster zusammen und der habe möglicherweise etwas für uns.
Ein Hoffnungsschimmer? Also fuhren wir sofort los. Der Förster erzählte uns, dass ein Grundstücksbesitzer, den er gemahnt hatte, weil dieser sein Holzsoll von fünf Festmetern nicht abgegeben hatte, gesagt hätte: „Am liebsten würde ich verkaufen.“ Als wir an dem Grundstück ankamen, sah und wusste ich: das oder keins! 5000 m², Wald, Wiese, Felsen, ein Schiefer-Steinbruch, als Grenze ein Bächlein, kein Vis á Vis, keine Nachbarn und im Triebischtal genau zwischen zwei Dörfern, die einen Kilometer von einander entfernt waren, gelegen. Obwohl im Moment alles recht verwüstet und der Steinbruch teilweise zugeschüttet war, brauchte man nicht allzu viel Phantasie, sich vorzustellen, welche Idylle hier entstehen konnte. Ein echtes Kleinod!
Mit dem Besitzer waren wir uns schnell einig, der Preis akzeptabel. Guten Mutes beantragten wir eine Baugenehmigung, nicht ahnend, dass unsere Chancen gleich Null waren. Einzelstandort! Nur Komplexstandorte wurden genehmigt. Der Staat musste ja seine Schäfchen unter Kontrolle haben. Das Bauamt schien uns hold zu sein, denn man bot uns sogar Komplexstandort-Grundstücke an, die aber wollten wir nicht. Wir hatten kürzlich Bekannte in ihrem Wochenendhaus besucht. Sie besaßen einen komfortablen Bungalow auf einem 200 m² Grundstück, Komplexstandort. Zur Begrüßung wurde auf der Terrasse Sekt, den unsere Gastgeberin im Haus in Kaffeetassen gefüllt hatte, getrunken. Die Nachbarn sollten nicht sehen, was wir tranken. Die Unterhaltung war im Flüsterton erfolgt. Die Nachbarn brauchten nicht zu wissen, worüber man sprach.
Die Nachbarn, die Nachbarn…
Jeder verdächtigte den anderen, ihn zu bespitzeln und sei es nur aus Neid. Hätten wir so etwa unsere Wochenenden verbringen sollen? Nein Danke! Dann hätten wir ganz verzichtet.
Ich weiß nicht, wie es uns gelang, das Bauamt davon zu überzeugen, wenigstens eine Standort-Begehung durchzuführen, bevor es uns eine schriftliche Absage erteilen würde, aber die Begehung fand statt. Zu unserer Überraschung erschienen gleich drei Mitarbeiter der Behörde. Zwei von ihnen wären wohl zu Kompromissen bereit gewesen, aber der dritte, der Kreisarchitekt, ein junger Mann mit roten Haaren, verabschiedete sich von mir mit den Worten: „Hoffnungsloser Fall, junge Frau, ganz klarer Einzelstandort.“ Ich schaute ihm fest in die Augen und erwiderte: „Für mich gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Ich bin Ärztin und ich habe noch nie aufgegeben. Ich kämpfe nicht nur bis zum letzten Atemzug, sondern auch darüber hinaus. Selbst in diesem Falle werde ich kämpfen.“ Jo hatte das mit angehört und fragte mich, ob ich glaubte, dass dies etwas genützt hätte. Ich schüttelte den Kopf.
Am nächsten Tag rief mich ein Mitarbeiter des Bauamtes an. Es war glücklicherweise einer meiner Patienten. Ich erwartete eine Absage, doch ich traute meinen Ohren nicht, als er mir erklärte, dass wir gute Chancen hätten. Wo kam auf einmal der Sinneswandel her? Er erzählte mir, dass der Architekt auf der Heimfahrt plötzlich gesagt hätte: „Ich werde mich für die Frau einsetzen, die hat mir das Leben gerettet.“ Er war irgendwann einmal mit Magenbluten im Schock, also bewusstlos, ins Krankenhaus eingeliefert worden. Als er wieder zu sich kam, war ich gerade um ihn bemüht und somit für ihn der rettende Engel gewesen. Aufgrund meiner Worte hatte er sich daran erinnert. Ich hingegen konnte mich nicht auf ihn besinnen. Jetzt schienen sich die Rollen vertauscht zu haben.
Und wirklich, nach langem Hin und Her hat man uns eine Ausnahmegenehmigung, die auf höherer Ebene beschlossen werden musste, erteilt. Wir waren stolze Besitzer einer Datscha, wie man im Volksmund die Wochenendgrundstücke nannte.
Mit sehr viel Fleiß und Mühe gelang es uns, dieses schöne Fleckchen Erde zu einem idyllischen Zufluchtsort zu machen, der seinesgleichen suchte.
Hinter dem Bungalow, den wir am Hang aufgestellt hatten, stand eine große alte Eiche. Und um sie herum hatten wir den Schiefersteinbruch frei geschachtet. Die alten verrotteten Obstbäume auf der Wiese waren entfernt und teilweise durch neue ersetzt worden. Den Mischwald, der etwa die Hälfte des Grundstücks betrug, hatten wir gesäubert und dabei einen kleinen Kletterfelsen frei gelegt.
All das war ein Traum für jeden Naturliebhaber. Hier verbrachten wir unsere Wochenenden, selten allein, oft mit gleich gesinnten guten Freunden. Unsere Lagerfeuer im Steinbruch waren beliebt und begehrt, aber den staatlichen Stellen wohl auch ein Dorn im Auge. Die Heimatlieder, die wir zur Gitarre bis in die frühen Morgenstunden am Lagerfeuer sangen, waren bestimmt keine kommunistischen Gesänge.
Es gab also für uns doch einen Ort, wo wir uns pudelwohl fühlen konnten.
Unsere Fluchtpläne hatten wir vorübergehend auf Eis gelegt, denn wir sahen keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. Mit unserem Leben wollten wir nicht spielen. An der gesamten DDR-Grenze herrschte Schiessbefehl.
8. Gut und Böse dicht beieinander
1972 schien zunächst ein gutes Jahr für uns zu werden. Im Oktober war unsere Tochter Cornelia geboren worden. Wir nannten sie meist nur Conny. Kurz vorher hatten wir in eine Wohnung der AWG (Arbeiter Wohnungsbau Genossenschaft) umziehen können. Es war eine sehr gefragte Neubau Wohnung mit Zentralheizung. Die Warmmiete für unsere Dreizimmerwohnung betrug 57,89 Mark (Ost). Allerdings musste man ein paar Hundert Mark Einlagen zahlen und sowohl zur Aufnahme als auch jährlich so genannte Aufbaustunden ableisten, die nur in Sonderfällen mit Geld abgegolten werden konnten. Die Wohnung hatten wir von Jos älterem Bruder Werner übernehmen können. Er hatte eine in Dresden lebende Ungarin geheiratet und war nun mit ihr nach Ungarn ausgewandert. Um dem Zugriff der DDR- Behörden gänzlich zu entkommen, hat er später sogar die ungarische Staatsbürgerschaft angenommen. Dadurch konnte er ins westliche Ausland reisen.
Im Allgemeinen bin ich nicht futterneidisch. Aber als er uns Jahre später Fotos von der Hochzeit der ältesten Schwester Gerda in Washington D.C. oder sogar von Hawaii, wo die mittlere Schwester Hanna hingezogen war, zeigte, empfand ich nicht nur Neid!
Für uns hatte Werners Wohnsitz in Ungarn viel Positives. Dadurch konnten wir uns wenigstens ab und zu auch mal einen Auslandsurlaub leisten, denn der Umtausch von DDR-Mark war staatlich reguliert. Man durfte pro Tag 30 Mark wechseln. Davon hätte man jedoch entweder nur Unterkunft oder aber Verpflegung bezahlen können.
Gegen Ende des Jahres wurde meine Schwiegermutter schwer krank und die Prognose war sehr ernst. Gerda wollte ihre Mutter zu Lebzeiten noch einmal sehen. Sie beantragte die Einreise in die DDR und gab wahrheitsgetreu an, dass sie in Washington in der Botschaft der BRD arbeite. Wir gingen davon aus, dass die Stasi dies alles - und noch mehr - bereits wusste, aber...
Mein