Günther Klößinger

Schnee von gestern ...und vorgestern


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genommen. Danach war keine ernsthafte Besprechung mehr möglich gewesen. Es schien, als ob die eigentliche Ursache für dieses Happening auf dem Hof für alle völlig aus dem Blickfeld geraten war. Die Aufbruchsstimmung nach dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“ war einem lockeren „Let’s have a party!“ gewichen.

      „Klar soll euch die Aktion hier auch Spaß machen, aber immerhin ...“

      „Ich weiß, ich weiß!“, unterbrach Jessy die sich anbahnende Standpauke. „Soll ich dich jetzt ,Mama‘ nennen? Mir ist schon klar, dass es um Leben und Tod geht, und ich glaube auch, dass dieser Spanner mehr als bloß ein Spanner ist.“

      „Kümmerst du dich darum, dass jemand regelmäßig dieses Gebüsch im Auge behält?“

      „Vielleicht nicht gerade Yasemin, sonst braucht der Kerl demnächst noch ’ne zweite Augenklappe!“, grinste Jessy in Pennys Richtung.

      „Aber eins musst du versprechen, Jessy: keine Übergriffe! Lasst den Typen ruhig im Glauben, er sei unentdeckt geblieben!“

      „Denkst du wirklich, der ist so blöd nach Yasemins Spiegelaktion?“

      „Wahrscheinlich schon – immerhin ist er eindeutig wieder zu seinem alten Versteck zurückgekehrt.“

      „Gut, ich kümmer’ mich drum. Hast du vielleicht so ’ne Digitalkamera? Das wär’ doch praktisch.“

      Petra zog wortlos ein kleines Gerät hervor, reichte es Jessy und sagte: „Muss wohl Telepathie gewesen sein!“

      „Das ist auch nur ’ne Art von Datenübertragung im New-Age-Modus!“

      Beide lachten und der letzte Anflug von Groll gegen Jessy war ins Nirwana entschwunden. Sie saßen noch eine Weile schweigend beisammen. Jessica spielte mit der Kamera herum, während Penny sich umsah. Sie beobachtete das bunte, beinahe ausgelassene Treiben auf dem Hof und fühlte sich fast in eine Hippie-Kommune der sechziger Jahre zurückversetzt: Hier erzählte Mehmet Anekdoten aus seinem Leben, dort stimmte Jasmin ihre Gitarre, einige spät aufgestandene Männer mopsten die Reste vom Grill und an einer anderen Ecke saß Nick und rauchte gedankenverloren eine Zigarette.

      „Genau das macht mir Sorgen!“, rückte Jessica unverblümt heraus.

      „Bitte was?“, stammelte Penny so verdattert, als hätte man sie aus dem Tiefschlaf anlässlich eines Rosamunde-Pilcher-Films gerissen.

      „Na das!“, gab Jessy als einzige Erklärung ab. Sie deutete mit ihrem Kopf in zwei entgegengesetzte Richtungen.

      „Schon mal so ’nen großen Abstand zwischen Zauberer Nick und seiner Prinzessin gesehen?“

      Jetzt fiel es Penny auch auf: Der Junge hockte mit nicht gerade fröhlichem Gesicht abseits jeglicher Aktivitäten herum, während eine gut gelaunte Jasmin inmitten einer Schar von jungen Leuten saß und ein Lied anstimmte.

      „Machst du dir mehr Sorgen um ihn oder um sie?“, fragte Penny.

      Jessy schüttelte den Kopf. „Nur um die Band“, meinte sie, „Zoff zwischen der Sängerin und dem Bassisten, das hat schon die Karriere mancher Kultstars zerstört!“

      „Das mit dem Internet-Café war ’ne klasse Idee, Kätzchen“, gab Prancock zu. Versonnen kickte er ein Steinchen vor sich her durch die Gassen von Colmar, „nur dieser Online-Cappuccino macht mir Sodbrennen!“

      „Bist du sicher, dass dafür nicht der Grappa danach verantwortlich ist?“, neckte Ilka ihren Freund.

      „Quatsch“, gab dieser zurück, „damit wollte ich bloß die überschüssige Magensäure wegätzen!“

      Statt einer Erwiderung wandte sich Ilka Fox nur lächelnd zu. Noch immer drohten die sportgestählten Knie des Kommissars zu Butter zu werden, wenn er in jenes dunkle Augenpaar sah. In Verbindung mit dem schelmischen Ausdruck, der Ilkas Mundwinkel umspielte wie ein Libero den Stürmer der gegnerischen Elf, konnten diese Augen ihn buchstäblich lahmlegen. Jetzt noch ein richtiges Wort und Prancocks Herz war, auch ganz ohne Elfmeterschießen, hoffnungslos verloren.

      „Ich liebe dich, mein kleiner Celentano!“

      Hoppla, fast ein Tor, aber der Vergleich mit Adriano ließ Prancock doch noch einmal nach dem Ball greifen. „Celentano? Könntest du mich nicht wenigstens mit Mel Gibson vergleichen?“

      „Trinkt der auch Grappa?“, versuchte sich Ilka als Unschuld vom Lande.

      „Bestimmt!“, versicherte Fox.

      „Na gut“, spielte sie die Komödie weiter, „auf Mickey Rourke lasse ich mich heraufhandeln!“

      „Schon wieder ’n Typ mit so ’nem angeschmuddelten Image!“, protestierte Fox.

      „Na, bei der Wahl zum ,Mr. Dreitagebart‘ wärt ihr scharfe Konkurrenten!“, stichelte Ilka weiter.

      „Dieser Milchbubi braucht für die paar Stoppeln bestimmt ’ne Woche – wenn nicht sogar zwei!“

      Ilka gluckste, unterdrückte den Lachanfall aber noch einmal, trat einen Schritt vor Prancock. Sie blieb stehen und hinderte ihn so am Weiterschlendern. Wieder traf ihn der für die Beinmuskulatur so fatale Blick.

      „Wer möchtest du denn dann sein?“, fragte sie mit sanfter Provokation.

      „Humphrey Bogart vielleicht?“ Verdammt noch mal, was sollte nur dieses „vielleicht“? Cool musste er sein, selbstsicher, sich seines Sex-Appeals bewusst! Ihre Augen jedoch, und ihr Lächeln jagten den Ball so zielsicher in die Torwand seines Herzens, dass Fox zu keinem Machogehabe mehr fähig war.

      „Dann bin ich Lauren Bacall!“, flüsterte sie ihm zu, ergriff seine Hände und zog ihn an sich.

      Eine ältliche Passantin erinnerte sich beim Anblick des hemmungslos knutschenden Paares an ihre eigene bewegte Jugend und lächelte. Ein fundamental verbrämter Moralin-Junkie versuchte hingegen unter entsetztem Kopfschütteln, sich mit hektischen Schritten von diesem Ort des Lasters zu entfernen. Der auf einer Bank am Straßenrand sitzende Reporter der Gazette „Jouer Garcon“, der seit Wochen über einem Artikel zum Thema „Erotik im Alltag“ brütete, bedauerte, seine Kamera nicht dabei zu haben.

      Der kleine Herr im dunklen, leicht abgewetzten Anzug, der die beiden Verliebten aus einer Seitengasse heraus verstohlen beobachtete, hielt diesen Moment für günstig. Die zwei waren nicht weit von ihrem abgestellten Auto entfernt, würden also bestimmt bald weiter oder zumindest zurück in ihre Pension fahren wollen. Außerdem waren sie abgelenkt – eine ideale Situation, denn die Nachricht sollte nicht zu lange offen an der Windschutzscheibe zu sehen sein. Das wäre gefährlich, vielleicht wurde er ja observiert. Er zögerte einen Moment – falls er tatsächlich beobachtet wurde, brachte er dann mit seiner Aktion nicht zwei Unschuldige in Gefahr? Er blickte sich um, bemühte sich aber, dies so unauffällig wie möglich zu tun. Ein verzweifeltes Lachen blieb zwischen seinen Zähnen hängen: Nach wem sah er sich um? Jeder der Passanten, selbst der Eisverkäufer am Straßenrand, konnte einer seiner Verfolger sein. Er ging weiter, griff in seine Hosentasche und zog den kleinen, leicht angeknitterten Zettel heraus. Ja – er brachte sie in Gefahr, aber es war seine einzige Chance, noch einmal um Hilfe zu bitten oder wenigstens jemanden auf die Sache aufmerksam zu machen. Er erkannte das Auto wieder, das unweit des Internet-Cafés parkte. Um einen lässigen Gang bemüht, schlenderte er daran vorbei, griff im Laufen nach einem der Scheibenwischer, hob ihn kurz an und schob das kleine Stück Papier darunter. Gleichzeitig begann er darum zu beten, dass die anderen ihm noch nicht wieder auf den Fersen waren. Mit forschem Gang verschwand er in einer Seitengasse und verbarg sich hinter einer Telefonzelle. Von dort aus spähte er hinüber zum Parkplatz. Er sah einen jungen Herrn im sportlichen Designeranzug, der sich zielsicher dem Auto des Kommissars näherte.

      „Oh nein!“, stöhnte der kleine Mann im Schatten des alten Fernsprechers. Sein Magen schien zusammenzuschrumpeln wie nasses Leder beim Trocknen. Der modebewusste Beau ging an Prancocks Auto vorbei. Die Nachricht hing noch am Scheibenwischer. Der Knittermagen entkrampfte sich ein wenig.

      Lautlos und sachte glitten Ilkas Lippen von