Günther Klößinger

Schnee von gestern ...und vorgestern


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anderen es nicht hörten. Jedenfalls sollte das das Letzte sein, was diese Türkenhexe in ihrem Drecksleben sehen sollte: sein lachendes Gesicht! Darum bemüht, keinen Laut zu erzeugen, richtete er sich auf. Sein Blick war starr zu dem heulenden Etwas gewandt, das noch gar nicht wusste, wie viel Grund es für sein Gerotze hatte.

      Yasemin schrak zusammen, als sie die Hand spürte. Entsetzt riss sie den Kopf hoch und sah jemanden an ihrer Seite.

      „Nick!“, stieß sie, gleichermaßen vorwurfsvoll und erleichtert, hervor.

      „Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe!“

      Obwohl genügend Platz war – sie hatten eine ganze Scheunenwand für sich – rückte Yasemin demonstrativ etwas zur Seite. Nick lehnte sich ebenso an das alte Holz, wie das Mädchen es tat, zog ein Päckchen Tabak hervor und schien meditativ in das Drehen einer Zigarette zu versinken. Yasemin war ihm dankbar dafür, dass er einfach gar nichts sagte. Sicher, das musste natürlich nichts heißen, aber dass er ihr Zeit gab und sie nicht zum Reagieren zwang, war für sie ein Geschenk.

      „Verdammt noch mal!“ Hatte er das nun von sich gegeben oder nur gedacht?

      Egal, jedenfalls hatte er sich so sehr auf diese stinkende Töle konzentriert, dass er nicht bemerkt hatte, wie der Junge von den Stallungen herübergekommen war. Er duckte sich, versuchte seine vor Erregung zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen. Es knirschte und knackte, als er wieder in die Hocke ging – sollte er fliehen? Er hielt die Luft an und starrte zu dem schweigenden Paar hinüber: Sie schienen nur mit sich selbst beschäftigt zu sein, würdigten das Gebüsch keines Blickes, was heißen musste, dass sie ihn nicht entdeckt hatten.

      „Möchtest du?“, durchbrach Nick die Stille. Er hielt Yasemin eine seiner unverwechselbar schiefen Zigaretten hin. Yasemin schüttelte nur kurz den Kopf, kaum sichtbar, aber Nick nahm es wahr. Er steckte das abenteuerliche Gebilde aus Tabak und Papier in seinen eigenen Mund. Lässig zündete er es an, inhalierte lange und ließ den Blick über die Landschaft schweifen, als sähe er sie zum ersten Mal. Yasemin wusste natürlich nicht, dass Nick einige Jahre seiner Kindheit hier verbracht hatte und sein Blick eher zu Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ passte: ein Rückblick auf vergangene Jahre, im Bewusstsein, sich noch einmal einer großen Herausforderung zu stellen. Plötzlich fühlte sich der Junge wie der greise Fischer. Nick fand den Gedanken so komisch, dass er sich fast am eigenen blauen Dunst verschluckte. Er hustete eine Rauchwolke aus. Ein zaghaftes, fast schüchternes Klopfen auf den Rücken half dem gequält vorgebeugten Jungen, den Hustenreiz zu vertreiben. Als er wieder durchatmen konnte, lehnte er sich an die Wand. Dabei erhaschte er einen Blick auf Yasemins Gesicht. Eigentlich hatte er sich gesträubt, ihr in die Augen zu sehen, aber dem Spiel ihrer Mundwinkel konnte er sich nicht entziehen.

      „Jetzt siehst du aus, als hättest du auch geheult!“, stellte Yasemin trocken fest. Sie reichte Nick ein Papiertaschentuch.

      „Moment mal, das wäre mein Job gewesen!“, keuchte dieser und schien tatsächlich peinlich berührt zu sein.

      „Gleichberechtigung gut, würde Mehmet jetzt sagen!“, flüsterte das Mädchen.

      Nick stellte erleichtert fest, dass sich aus ihrer trauernden Gestalt wieder jene Yasemin schälte, die für jeden Scherz zu haben war. Oder mit ihren flotten Sprüchen alle zum Lachen brachte und es spielend schaffte, jedem die Show zu stehlen. Und das, ohne dass der Bestohlene wirklich böse auf sie sein konnte.

      Wieder schwiegen sie für einige Sekunden. Yasemin packte einen Kaugummi aus, steckte ihn in den Mund und begann schon nach wenigen Augenblicken mit ihrer Blasenproduktion.

      „Das war vorhin echt der Wahnsinn!“, fing Nick an, doch ein fragender Blick von Yasemin ließ ihn innehalten. „Na, dein Solo! Du bist genau die Musikerin, die uns fehlt! Willst du nicht bei uns einsteigen?“

      Yasemin erstarrte. Ihr Lächeln schien nun leblos, als habe es ein dilettantischer Skulpteur in Stein gemeißelt. Sie spuckte den Kaugummi ins Gras und sah zu Boden, als suche sie einen Souffleur.

      Nicks Herz begann wild gegen den Adamsapfel zu trommeln. Irgendetwas lief hier schief, aber er konnte nicht sagen, was.

      „Wie stellst du dir das vor?“, fragte Yasemin.

      Ihre Stimme erzeugte in seinem Magen den Nachgeschmack konservierter Traurigkeit.

      „Ich bin illegal hier, Nick. Soll ich immer mit Gesichtsmaske auftreten? Als wen stellt ihr mich vor? – ,An der Saz: das Gespenst aus dem wilden Kurdistan‘?“

      Yasemin hielt inne. Die Musik war ihr Ein und Alles. Dabei wusste sie noch nicht einmal, wo ihre Virtuosität herrührte. Ihre Fingerfertigkeit war antrainiert, klar, aber es war die Seele ihrer Melodien, die jeden Zuhörer stets anrührte. Sie schloss die Augen: Ihre flinken Finger erzählten nur Yasemins eigene Geschichte. Sie benutzten das Griffbrett der Saz eher wie eine Schreibmaschine und fanden so Wörter und Sätze, die kein Songtext, kein Gedicht oder Roman treffender zum Ausdruck bringen konnte.

      Nick, der eher ein Künstler der Worte war, verspürte das dringende Bedürfnis, seine Betroffenheit darzulegen, seine Sprachlosigkeit in Prosa zu verwandeln. Angesichts der bedrückenden Wirklichkeit des Wortes „illegal“ verbot sich aber jegliche Blumigkeit: Das hier war kein Schwarz-Weiß-Film, den man mit einem Computerprogramm bonbonfarben nachkolorieren konnte. Dies war trübe, graue Realität. Performance, die keine Show werden konnte oder gar durfte.

      Beide lehnten noch eine Weile schweigend an der Scheunenwand. Sie vermieden es tunlichst, sich gegenseitig anzusehen und damit Worte herauszufordern. Eine Zeit lang hätte man die zwei für Standbilder halten können, die allerdings bald von einigen herabrieselnden Regentropfen zum Leben erweckt wurden.

      Der plötzlich hereinbrechende Sturm hatte das „Joli Bois“ im Nu in ein „Triste Bois“ verzaubert. Die Gäste, die im Garten gesessen hatten, hatten ihr Heil in der Flucht Richtung Lounge gesucht. Ein tropfender Fox und eine triefende Ilka standen ebenfalls in dem dampfenden Speisesaal. Ihre langen Gesichter waren wie Abziehbilder des Mienenspiels aller anderen Gäste, die dem Schauspiel aus Wind und Wasser durch regenverhangene Scheiben zusahen.

      Lediglich Monsieur Nocturne stand nicht am Fenster, sondern hatte sich an einem der Tische niedergelassen. Er schien sich erneut in die Lektüre seiner Zeitung zu vertiefen, wobei ihm das Umblättern der durchweichten und somit verklebten Seiten schwerfiel.

      „Na, na“, dachte Fox, „ist das Käseblatt wirklich so interessant oder schirmst du dich bloß ab, Junge? Oder observierst du wie der selige Sherlock Holmes durch ein Loch im Papier?“

      Ilka strich sich gedankenverloren Wasser aus den Haaren. Plötzlich hielt sie inne. Ihr Blick war auf die kleine Bedarfsgarderobe gefallen. Sie stutzte und stieß Fox sachte an.

      „Was gibt’s, Kätzchen?“, wandte der sich von Nocturne ab.

      „Schau mal, was da an dem Kleiderhaken hängt!“, flüsterte Ilka Prancock zu. Sie war so offensichtlich um Unauffälligkeit bemüht, dass einige der herumstehenden Gäste ihr und Prancock neugierige Blicke zuwarfen.

      „He, ist das mein Trench?“, flüsterte Fox zurück. Er war leicht verwirrt und hatte keinen blassen Schimmer, was seine Freundin ihm mitteilen wollte.

      „Quatsch“, gab diese leise zur Antwort, „da würde nicht mal dein Bauch reinpassen ...“

      Fox konnte es sich angesichts dieser Frechheit nicht verkneifen, Ilka mit dem vernichtendsten seiner Blicke zu bedenken. Diesen setzte er ansonsten höchstens bei der Verhaftung von Serienmördern ein.

      Sie fuhr allerdings unbeirrt fort: „Der hängt schon seit gestern unverändert da. Genauer gesagt, seit wir angekommen sind!“

      Der große Kriminalist wollte natürlich sofort auf die geringe Bedeutsamkeit einer solchen Beobachtung hinweisen. Er begann sich, soweit seine Undercover-Mentalität das zuließ, in Pose zu stellen. Doch noch bevor er loslegen konnte, rastete der von Ilka noch nicht einmal ausgesprochene Rückschluss mit einem „klick“ in seinem Secondhand-Stasi-Equipment ein: Ein Trenchcoat, der seine schlampige Aufhängung seit fast vierundzwanzig