Günther Klößinger

Schnee von gestern ...und vorgestern


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was?“ Fox wurde ungeduldig und senkte die Stimme. Er sah, wie sich feine feuchte Perlen auf der Stirn des jungen Franzosen bildeten. Scheu sah der Kellner sich um und beugte sich noch weiter zu Fox hinunter. Dieser konnte nun sogar das dezente Aftershave des Obers riechen.

      „Am Abend, bevor Finkenwald abreiste, war Monsieur Nocturne hier angereist ...“

      „Welch düsterer Name!“, witzelte Prancock, aber der Ober legte den Zeigefinger an die Lippen. Dann ging er wiederum näher an Fox heran und flüsterte: „Monsieur Nocturne sitzt zwei Tische weiter!“

      Prancocks Blick presste sich durch seine Augenwinkel und streifte einen Mann von drahtiger, sportlicher Figur, in einen eleganten Designeranzug gehüllt. Er war scheinbar in die Lektüre der „France Soir“ vertieft.

      „Okay, Nocturne checkt ein – und was war dann?“

      „Ich habe gesehen, wie Finkenwald beim Abendessen Nocturne einige Tische neben sich sitzen sah. Er erbleichte richtiggehend und gab die Speisekarte zurück. Schließlich bestellte er nur ein Wasser, das er dann mit auf sein Zimmer nahm. Er erschien nicht beim Frühstück. Zum Mittagessen kam er so spät, dass wir ihm fast nichts mehr serviert hätten – er hatte gewartet, bis Nocturne nicht mehr im Speisesaal war. Dann sah er Sie und Ihre Freundin und voilà – räumte er sein Zimmer!“

      „Merkwürdig“, sinnierte Fox, „ich habe nie zuvor von ihm gehört. Meinen Sie, er hat mich irgendwie ... erkannt?“

      „Ich denke schon! Vielleicht war es ja auch nur Ihr englischer Akzent oder Ihre bezaubernde ... äh, Verlobte! Wenn ich es recht bedenke, glaube ich, er hat Sie erkannt, ja!“

      Beide schwiegen. Es war klar, dass sie das Gespräch langsam beenden mussten, wenn sie nicht auffallen wollten.

      „Eine Frage noch“, wagte Fox einen letzten Vorstoß, „war sonst noch etwas auffällig an Finkenwald?“

      „Oui“, die Sprache des Obers nahm nun einen höchst unheilschwangeren Ton an, „er erkundigte sich immer nach der alten Violon-Mühle.“

      „Violon-was?“, wollte Prancock noch wissen, aber er erkannte das gehetzte „Game over“ im Blick des jungen Kellners.

      Vom Nebentisch ertönte, wie ein Schlussgong, der Ruf „Garçon!“.

      „Gut“, intervenierte Prancock laut und leutselig, „zweimal Kirschtorte ,Foret Noir‘ bitte!“, und klatschte auffordernd in die Hände wie ein Sklaventreiber aus der Kolonialzeit. Das brachte ihm umgehend peinlich berührte Blicke weiterer Gartengäste ein.

      Geraume Zeit später kamen Getränke und Kuchen, noch etwas später erschien Ilka. Sie erblickte die Torte und setzte sich, die Augen rollend, zu Fox.

      „Gut“, sagte sie mit einer Mischung aus Walrossschnauben und ,Frau Antje‘-Lächeln, „jetzt sind wir quitt!“

      „Warum?“, fragte Fox mit seiner berühmten Unschuldsmiene. Sie war ein echtes Paradestück, wegen dem man ihn ohne Intervention von „Amnesty International“ selbst beim jüngsten Gericht einfach durchwinken würde.

      „Du hasst Hummer, ich kann Schwarzwälder Kirsch nicht ausstehen!“

      „Kein Problem“, ereiferte sich Fox fröhlich, „ich erlöse dich!“ Und als er sich über die zwei großen Stücke Torte hermachte, sinnierte er, ob er Ilka von den neuesten Erkenntnissen berichten sollte. Mit einem Seitenblick auf Nocturne, der sich seit Stunden derselben Seite seiner Zeitung zu widmen schien, beschloss er allerdings, das zu vertagen.

      Die Tränen waren getrocknet, aber ihre Spuren brannten noch auf den Wangen. Auch das Schluchzen war verklungen, Yasemin spürte noch ein Kratzen im Hals. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sich selbst schelten. Warum konnten diese Wunden nicht einfach heilen. Wieso vernarbten sie nur, eitrig nässend und schorfverkrustet, um immer wieder aufzubrechen? Ein leichter Hauch spätnachmittäglichen Windes kühlte ihr Gesicht, strich über ihre schweren Lider. Sie zog den Duft des sich verabschiedenden Frühjahrs ein, füllte ihre Lungen mit dem Versprechen eines Sommers, bald ganz hier Halt zu machen. Yasemin schloss die Augen, lehnte sich an die Scheunenwand, spürte das alte Holz durch ihr Shirt und bemühte sich, wieder regelmäßig zu atmen. Ihr Herz hatte die Trance-Beat-Party im Hals eingestellt und eine neue Angst klopfte zaghaft an: Hatte sie Jasmin, Nick, Robert, Jessica und auch Mehmet vor den Kopf gestoßen? Als der letzte Beckenschlag des Drumkit verklungen war und sie sich, in Tränen aufgelöst, an ihre Saz geklammert hatte, war nach einer Ewigkeit schweigender Beklommenheit Jasmin an sie herangetreten. Das Mädchen hatte sie vorsichtig am Arm genommen und sie etwas fragen wollen. Jassys besorgter Blick war Yasemin wie eine Alarmsirene erschienen: Sie kannte diese Blicke, die Fragen, die sie nach sich zogen: „Willst du darüber reden?“, oder: „Können wir dir irgendwie helfen?“

      Wie oft hatte sie diese heuchlerischen Betroffenheitsfloskeln schon gehört? Wie oft hatte sie schon ihre Ängste nach außen gekehrt, nur um zu erleben, wie sie dann in Kehrichteimer gefegt wurden: „Ich kann dich gut verstehen!“

      Wie sollte Yasemin das glauben? Hatten diese Sozialpädagogen, Behördentussis und Verwaltungsbeamten, die Polizisten, Anwälte und Richter auch solche Erfahrungen hinter sich? Waren sie jemals verfolgt, war die Existenz von Menschen, die sie liebten, einfach ausgelöscht worden? Waren sie jemals auf der Flucht gewesen, hatten um ihr Leben gezittert, waren wehrlos einem Vertrauensvorschuss ausgesetzt gegenüber Menschen, die einen verstecken konnten? Ein Vertrauen, das Freundschaft, aber auch Missbrauch, Verrat oder Verhaftung bedeuten konnte. Kannte irgendwer dieser betroffen blickenden Berufsseufzer das Gefühl, anderen ausgeliefert zu sein, jeden Tag aufs Neue um seine Freiheit zu bangen oder gar zu flehen? Gnade im Angesicht eines gnadenlosen Asylgesetzes bedeutete, zu leben, ohne ein Gesicht zu haben. Nirgends konnte Yasemin es wirklich zeigen, ohne die Angst zu spüren, jemand könnte sie den Behörden ausliefern, sie erpressen. Und alle Furcht, die sie in Worte gefasst hatte, war stets abgetan worden mit Achselzucken oder Sätzen wie: „Tut mir leid, aber da kann ich dir leider nicht helfen, laut Gesetz ...“ Gesetz, Gesetz, Gesetz! Die Vertreter irgendeines Gesetzes hatten sie zur Flucht gezwungen, ihr die Eltern geraubt, und die Gesetze ihres erhofften Zufluchtsortes hatten sie wiederum zu Freiwild gemacht, als Lügnerin diffamiert und die letzte Hoffnung auf so etwas wie ein „Zuhause“ zusammen mit dem Asylantrag das Klo runtergespült.

      Und dann war da dieser Blick von Jasmin, die sie am Arm berührte und besorgt guckte. Aber die konnte doch auch nichts für sie tun als wieder bloß reden, reden, reden! Guter Wille und Mitleid – was brachte ihr das schon.

      Mit einem heftigen Ruck hatte sich Yasemin von Jassy losgerissen, als hätte diese sie mit dem Polizeigriff festgehalten. „Deinen Sozialarbeiterquatsch kannst du dir sparen!“, hatte die Weinende gezischt und war, noch immer die Saz im Arm, aus der Scheune gelaufen.

      Jessica war aufgesprungen, um ihr nachzulaufen, aber Mehmet hatte ihr zu- oder vielmehr abgewunken: „Lass sein! Yasemin braucht jetzt Zeit! Reden sinnlos gerade!“

      Yasemin war einmal um die Stallungen herumgelaufen, bis zu der Scheune nahe am Waldrand. Sie hatte die Saz neben sich gestellt und sich angelehnt. Die Wand verströmte den unverkennbaren Duft wurmstichigen Alters.

      Da war sie ja: diese Hexe, die ihm um ein Haar das Auge verbrannt hatte! Sie stand nicht einmal zehn Schritte von ihm entfernt, lehnte an einer alten Scheune und heulte. Jetzt nur nicht schneller reden als denken – nein, gar nicht reden. Wäre das nicht die Gelegenheit, es dieser Schlampe zu zeigen?

      „Beobachten“, hatte der Chef angeordnet, „aus einem anderen Blickwinkel! Wir müssen wissen, wie wir bei der Ausführung von Plan zwei am besten vorgehen!“

      Kein Wort von „töten“, aber was, wenn diese abstoßende Kreatur ihn entdeckt hätte? „Dann müsste ich ...“, flüsterte er, biss sich aber fast dabei in die Zunge. Es schmerzte – und daran war nur sie schuld, diese flennende Rotzgöre. „Dann wäre ich gezwungen ... Ja, genau: gezwungen“, das war es! Dagegen könnte der Chef nichts haben! „Gezwungen“, wisperte er und ein Speichelfaden verfing sich im Gestrüpp vor ihm. Nicht einmal zehn Schritte! Sie würde ihn erst im