Gabriele Plate

Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum


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fehlte dieser Schatten. Obwohl sie ihn fürchtete, kreierte sie ihn bei jedem Spiel aufs Neue.

      Heute hatte sie also wieder einmal, hoch oben auf ihrem Baumversteck, das langsame Verstummen der Vögel in der beginnenden Abenddämmerung nicht bemerkt, obwohl die gurgelnd spitzen Schreie des Fasans im nahen, mannshohen Farnkrauthang den Abend deutlich angemeldet hatten. Obwohl die Amsel laut, fast schrill und aufdringlich als Letzte gemahnt, obwohl das Licht längst nicht mehr reichte um sehend vom Baum zu klettern, und, obwohl sie schon seit Stunden den Urindrang und ihren knurrenden Magen ignoriert hatte. Erst das weiche, seufzende Huh-Huch der Waldohreule, ganz in ihrer Nähe, ließ sie in ihrem Spiel innehalten, ließ sie erschrocken in die Baumkronen über sich blicken, um an einer letzten Handvoll Licht die Uhrzeit abzuschätzen. Der Abend berührte schon die Nacht, zitternde Silhouetten und ein allerletztes Grau.

      Edda sah nach unten in die dunkle Tiefe, klemmte sich eilig ihre Clogs vorne in die gestreifte Latzhose und begann mit sicheren Bewegungen und geschlossenen Augen den Abstieg vom Baumriesen.

      Sie bewältigte diesen Abstieg nicht mit geschlossenen Lidern, weil ihr jeder Schritt vertraut war, sondern, da sie aus schmerzhafter Erfahrung wusste, dass die Buche mit kleinsten Zweigen nach ihr schlug, was sich im Dunkeln zu spät erkennen ließ, und sie daher nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Das hatte schon mal eine tagelange Augenklappe zur Folge gehabt und was viel ärgerlicher war, ein Baumkletterverbot.

      Beinahe wieselflink war sie unten. Die Furcht vor den Folgen eines Zu-Spät-Nachhause-Kommens erwachte, begann in ihr zu beben. Vielleicht war Vater noch nicht zurück, hatte eine Autopanne, oder er hatte noch nicht bemerkt, dass sie nicht im Haus war, dass sie noch s p i e l t e, wie er dieses Wort so drohend auszuspucken pflegte, als zähle das Spielen zu den sündhaftesten aller Vergehen. Es kam jetzt auf jede Minute an.

      Hoffentlich hatte er sich heute nicht besonders geärgert. Sich normal verärgert aufzuführen, sobald er nach Hause kam, war eigentlich seine Angewohnheit. Eine Ärgerlichkeit, die sich im Lot hielt, wenn man es verstand sie nicht zu schüren. Edda verstand sich nicht auf diesen empfehlenswerten Leisetritt, sie war in diesem Fall eine Art Schürhaken.

      Nun hoffte sie flehentlich, er hätte noch nicht nach ihr gerufen oder sogar nach ihrer Schultasche gegriffen, Eselsohren und Fettflecken in den Heften gezählt und alte vergessene Pausenbrote im schmuddeligen Ranzen entdeckt. Diese harten, angeschimmelten Hasenbrote. Hasenbrote, die Stullen vom Vortag. Bei Edda lagerten sie vom Vor- und Vor- und Vortag in den Fächern zwischen den Heften. Vergammeltes Brot, das gehörte zu den Todsünden. Da kam sie nicht mit ein paar Mahnworten davon.

      Spielen, anstatt Vokabeln zu lernen, fettige Hefte, fliegende Brote! Stock oder Gerte? Er ließ ihr die Wahl.

      Edda begann zu laufen. Barfuß, schneller, immer schneller glitten ihre nackten Füße gewandt über den kühlen Waldboden. Sie wusste genau wo, auf diesem etwa ein Kilometer, recht steil abfallendem Trampelpfad, die großen alten Buchen ihre Wurzeln über das Erdreich kriechen ließen. Wo Steine, Fels, Kuhlen, Rillen und Erhebungen waren. Sie wusste wo und wann sie zu springen, hüpfen, laufen oder sich im Schnellflug an den schmalsten Stellen des engen Hohlweges, am Seitenhang wechselseitig abzustoßen hatte. In Windeseile.

      Und dann vergaß Edda warum sie rannte. Sie berührte scheinbar kaum den Boden, flog durch die Nachtluft wie körperlos. Sie nahm sich nicht mehr wahr. Dieser knappe Kilometer bergab, fliegend durch die Dunkelheit, dauerte nur wenige Minuten und doch erschien es ihr wie eine große Reise, zeitlos durch das Licht.

      Sie erreichte den unteren Waldrand, war einen Moment nur erstaunt, Jene zu sein, die sie war und hier zu sein. Dann stahl sie sich noch ein paar letzte Sekunden aus ihrer Welt, hockte sich über den Waldboden, blickte in den Sternenhimmel und pinkelte sich den langanhaltend, wohltuend warmen Strahl über die Hände. Es war ein eigenes Gefühl, und sie konnte das Mädchen mit den Streichhölzern, die Kleine aus dem Märchen, so gut verstehen.

      Die Lichtung, der Bach, das Haus. Der Bach so nahe am Haus. Die nördliche Ecke des zweistöckigen Gebäudes hatte keine drei Meter entfernt von der Bachböschung ihr Fundament. Es gab starke Erosionen und der reißende Wasserlauf spülte sich näher. Oft träumte sie von diesem stürmischen Bach, in dem sie dann samt Haus versank. Erstickte, überschüttet von Geröll und Schlamm.

      Es tönte Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 in b-Moll, bis an den Waldrand. Vater war also schon zurück. Edda zog es vor, nicht die Haustür zu benutzen. Sie lief hinter das Haus, schwang sich auf eine kleine Mauer, die den Eingang zum Heizölraum in Türhöhe schützte. Sie hievte sich von dort auf die Fensterbank und kletterte leise in ihr Zimmer. Sie mochte diesen großen, eckigen, mit 4ooo Liter Diesel gesättigten Metallkasten nicht. Er wirkte bedrohlich und außerdem lagerte in seiner Nähe der Geruch einer Tankstelle. Sie hatte nie verstanden warum dieses Ungetüm direkt unter ihrem Kinderzimmer hockte. Aber die Mauer war hilfreich, da sie sonst nicht unbemerkt ins oder aus dem Haus hätte gelangen können. Niemand ahnte etwas von ihren nächtlichen Ausflügen.

      Edda schien noch einige Momente Zeit zu haben. Sie wusste, wenn Van Cliburn diesen Satz zu Ende gebracht hatte, würde er ihn dreimal in voller Lautstärke wiederholen müssen. Sie schwärmte für diesen Pianisten, nicht wegen seiner Künste, davon verstand sie gar nichts, sondern weil er für sie so richtig aussah. So schön, ein bisschen so, wie sie sich Gott vorstellte. Sie kannte nur das Profil des Pianisten, vom großen Schwarzweiß-Foto des Plattencovers.

      Konnte es schon die dritte Wiederholung gewesen sein? Vater hörte besonders gerne diesen Satz. Edda wusste nicht, warum diese bevorzugten Stellen immer in voller Lautstärke gehört werden mussten, denn er war kein bisschen schwerhörig. Sie erkannte nicht, dass ihr Vater nur das selbstgefällige Tongefüge suchte, es in sich hinein hämmern ließ, während er glaubte sich der Musik hinzugeben. Er berauschte sich dabei an sich selbst, an seinen sentimentalen Gefühlen, die ihm die zugänglichen Passagen vermittelten. Dabei entging ihm der Dialog zwischen Klavier und Orchester, er bemerkte nicht, wo und wann Partnerschaft gefordert oder perfekt erfüllt wurde. Er genoss nur die Ohrwürmer, jene Stellen, welche dieses Meisterwerk in aller Ohren hatte hängen lassen.

      Edda schloss das Fenster, sie hielt die Luft an, riss sich die Hose vom Leib, trat die Schuhe unter das Bett, öffnete die Zimmertür, hielt weiterhin die Luft an bis sich die Zimmerdecke zu drehen schien und rief mit hochrotem Gesicht und kläglicher Stimme nach ihrer Mutter.

      Sein Lieblingssatz war beendet, danach wurde der Rest des Konzertes in den Isobar-Bereich außerhalb der Schmerzgrenze geschaltet, während nebenher das Abendbrot gereicht wurde. Der Speichel, ununterbrochenen Gezeters ihrer Eltern, würzte das Mahl, gesellte sich zu den Background-Tönen der klassischen Musik. Dieses Tongemisch endete meist abrupt mit lautem Türenschlagen.

      Eddas klagende Stimme aber, war bis in die Wohnräume zu hören gewesen. Der vertraut klappernde Schritt ihrer Mutter, die stets Schuhe mit hohem Absatz trug, begleiteten die gedrosselten Piano-Töne in Richtung Kinderzimmer. Edda hatte einen hochroten Kopf und Schweiß überdeckte ihr Gesicht. Ohne sich wirklich einer List bewusst zu sein, kratzte sie sich mit einem ihrer schwarz umrandeten Fingernägel an der inneren mittleren Nasenwand. Es war immer dieselbe Stelle die sofort aufplatzte, bei Druck oder zu starkem Reiben. Schon spritzte das Blut. Sie ließ sich auf ihr Bett sinken und hatte gerade noch drei Sekunden, um das klebrige Rot wirkungsvoll zu verteilen. Sie musste nicht am Abendbrottisch erscheinen, durfte im Bett bleiben und war an diesem Tag den unberechenbaren Launen ihres Vaters entkommen. Launen, die er besonders gerne bei Tisch zur Wirkung kommen ließ.

      Für heute Abend war sie freigestellt von lästigen Schulfragen, diese hatten stets Übelstes zur Folge. Die Fingernagel-Kontrolle fiel somit ebenfalls aus. Wehe die Nägel wiesen schwarze Ränder auf, was nach Eddas Art den Nachmittag zu verbringen, nicht zu umgehen war. Und vor allem gab es keine Strafandrohungen, die sich in die Träume zu wälzen wussten.

      Vater war meistens zu müde, selten wollte er am selben Abend seine Drohung einer Bestrafung in die Tat umsetzen. Während der Nachtstunden sollte seine Tochter Edda sich überlegen, welche Art des Prügelgerätes sie für den nächsten Tag bevorzugte. Ein feiner biegsamer Ast einer Weide, ein Ledergürtel oder die alte Pferdegerte standen ihr zur Auswahl frei. Falls sie sich für die Weide entschied, durfte sie den