Gabriele Plate

Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum


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durch die Luft. Einmal hatte Vater in seinem Eifer den Ledergürtel zu tief ergriffen, die Metallschnalle war ihm im heftigen Rückschlag gegen seine Hand geschleudert

      Er hatte „Gott Verdammte Scheiße“ geschrien, „Ich Vollidiot!“ Der Ledergürtel flog in die Ecke und er hatte sich mit verzerrtem Gesicht die verletzte Hand gehalten, sie blutete und schwoll an. Edda hatte Tränen in seinen Augen entdeckt, das hatte sie noch nie gesehen. Sie hatte Mitleid mit ihm gehabt und ein bisschen über seinen Schmerz mitgeweint. Vater war aus dem Haus gestürzt und für drei Tage verschwunden.

      Die Art, seine angedrohten Strafen zu vollziehen, war nicht sehr einfallsreich, die Auswahl gering. Sie hatte alle Angebote ausprobiert und spürte keinen Unterschied. Sie flehte minutenlang um Gnade und versprach hoch und heilig „Es“, was immer es auch gewesen sein mochte, nie wiederzutun. Sie sträubte sich mit Händen und Füssen und schrie schon, bevor Vater sie ergriff. Sie verriet ihren Stolz, kroch tief in die Welt der Unterwürfigkeit, obwohl sie sich immer wieder vorgenommen hatte, weder einen einzigen Laut des Schmerzes, noch eine Träne von sich zu geben. Das war ihr nie gelungen. Die Angst vor dem Schmerz erschien ihr weit qualvoller als der Schmerz selbst. Sie übte, sich dieser Vorfurcht zu entziehen, diesem inneren Zittern das Ruder nicht zu überlassen, an etwas Schönes zu denken, die ganze Nacht. Manchmal gelang ihr das, dann tankte sie Mut und träumte ihre Angst in die Flucht.

      Oft genug hatte Vater seine Strafandrohung am nächsten Tag vergessen, sie konnte ihm drei oder vier Tage später wieder einfallen, und erst dann setzte er sie in die Tat um. So schwebte Edda stets in Angst vor ihm. Sobald sie sein Auto oder seine Stimme von weitem hörte, war sie plötzlich unauffindbar. Ihr wurde früh bewusst, dass die Angst, sowie die Freude vor einem Geschehen, stärker waren als das reale Erleben dieser Sache. Auch die Vorfreude auf die Sommerferien reihte sich in diese kindlichen Bewusstseinsübungen ein.

      Aber an diesem Tag gab es erst einmal Ruhe und seine wortstarken Wutausbrüche und Beschuldigungen gegen unverschämte Gläubiger, Geschäftsleute, die nicht länger auf Mutters Hinhaltetaktiken eingehen wollten, schwebten dumpf über Edda hinweg. Zum Fenster hinaus. Sie hatte in früher Kindheit nicht verstanden, warum Vater diese Gläubiger so hasste. Waren sie etwa nicht die Guten? Gläubiger glaubten doch, glaubten an Gott.

      Mit einem Käsebrot und dem Nachtapfel am Bettrand, einem nassen Tuch im Nacken, Van Cliburn vor Augen und dem angenehm moosigen Geruch an den Händen, schlief sie ein.

      Viel zu lange bevor dieses Haus, zwischen Bach, Waldrand und Lärchenschonung, rechtmäßig bewohnbar gemacht worden war, hauste Eddas Familie darin. Diese alte Bruchstein-Ruine, mit ihrem halben Dach, wollte Vater umbauen und vergrößern, dreifach vergrößern! Obwohl die ursprünglichen Quadratmeter des Hauses für die sechsköpfige Familie mehr als ausreichend gewesen wäre. Sieben Köpfe, denn das Hausmädchen war ihm treu ergeben mitgezogen.

      Da sich dieses halbe Haus in einem Landschaftsschutzgebiet befand, bekam er keine Baugenehmigung für sein Vorhaben. Es sei denn, das Haus wäre schon bewohnt und nachweislich eine größere Renovierung erforderlich. Also ordnete Vater sofort den Umzug an und die ganze Bande, wie er seine Familie nannte, wohnte fortan in dieser romantischen Ruine. Sehr bald gehörte eine Latrine zum Anwesen. Man saß auf einem rohen Holzbalken, der parallel hinter sich, in etwa dreißig Zentimeter Abstand, einen zweiten Balken befestigt hatte. Von beiden Seiten war der Parallelabstand mit Brettern zugenagelt, in der Mitte war nur eine quadratische Öffnung geblieben, das notwendige Loch. Die dadurch entstandenen seitlichen Ablageflächen bewahrten den Benutzer dieser Anlage vor dem Blick in die schlammige Tiefe. Doch nur, wenn er saß. Das Ganze war wie ein Steg auf Stelzen vor den Hang gebaut, man stieg von oben ein. Der Ort war mit einem kleinen Holzdach versehen, das mit Teerpappe vernagelt und mit einem Bretterverhau bis in Sitzsichthöhe ausgestattet war. Diese Notduftvorrichtung war etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt, neben einem großen Holunderbaum. Eigentlich war diese Einrichtung anfangs nur für die Bauarbeiter gedacht, nun war es auch das Familienklo.

      Mutter protestierte, schließlich gäbe es modernere Möglichkeiten solch ein Provisorium einzurichten. Vater fegte ihren Einwand vom Tisch. Es gäbe Schlimmeres als die Benutzung eines Donnerbalkens. „Seine“ Kriegsgefangenschaft zum Beispiel! Sie solle hier bloß nicht die Gräfin rauskramen.

      Mutter hatte, zu Vaters Stolz und Ärgernis, einige Tröpfchen blauen Blutes in den Adern fließen, da konnten seine Seefahrer ahnen nicht mithalten. Er war bei weitem kein Befürworter der Monarchie, doch hätte er gerne selbst einige dieser vagen Tropfen in seinem Blut gewusst. Mutter war ihre Familienchronik lästig, er spottete zu oft darüber.

      Also stöckelte sie durch das welke Buchenlaub ins Klo-Kabuff. Dort stand ein gefüllter Metalleimer mit ungelöschtem Kalk zur Verfügung, aus welchem man gelegentlich nach vollzogenem Akt, eine kleine, halb gefüllte Schaufel Kalk durch das Loch schippte. Es streute in die Tiefe und traf nicht immer den fabrizierten Punkt. Edda übte hier mit Hingabe ihre Treffsicherheit und ließ eine Unmenge Kalk in dem Loch verschwinden.

      „Welcher Vollidiot verbraucht hier dauernd den ganzen Kalk zum Scheißen, ich habe doch deutlich genug angeordnet, nur ab und zu eine halbe Schaufel zur Desinfektion.“ So hörte man Vater über das ganze Grundstück brüllen. Holunderbeeren gab es nicht in diesem ersten Jahr, die Wurzeln waren möglicherweise durch den Kalk verbrannt, oder durch die Überdüngung.

      Etwa dreißig Schritte weiter seitlich, minimal oberhalb, war der Rest des Badezimmers angelegt worden. Eine kleine Holzbrücke führte über ein schmales Bächlein, dessen Quelle ein Kilometer weiter oberhalb entsprang und in den großen Bach mündete. Ein starker Ast, mit einer sauberen Gablung, war zur oberen Hangseite hin, mittig vor der Brücke in das Bachbett gerammt. In dieser Gablung lag, in etwa ein Meter Höhe, ein langes, eisernes Rohr fast waagerecht im fließenden Wasser. Ein großer Teil des eisigkalten, sauberen Wassers wurde in dieses Rohr abgeleitet und ließ einen vollen Strahl in handlicher Höhe in eine Emailleschüssel platschen. Man hatte fließendes Wasser.

      Edda stand breitbeinig, ein wenig gebückt, vor diesem Wasserschwall und wusch sich hastig das Gesicht. Beim Zähneputzen spuckte sie den grauen Schaum in das untere Buschwerk und versuchte jeden Tag ein anderes Blatt zu treffen. Diejenigen, die warmes Wasser für ihre Körperhygiene benötigten, mussten es ins Haus an die Kochstelle schleppen, dort erhitzen und sich mit ihrem wertvollen warmen Nass in irgendeine Ecke verkriechen, um sich, ungesehen von Maurern oder Kindern, zu waschen. Da dieser Zustand fast ein Jahr andauerte, war es im Winter eine Rutschpartie, sich auf dieser vereisten Holzbrücke um das Wasserholen zu bemühen. Diese Anlage wurde auch dann notgedrungen eifrig frequentiert, die Quelle galt in dieser langen Bauzeit als einzige Wasserversorgung für das Haus. Edda stank wie ein Frettchen. Das behauptete zumindest die Hausangestellte, die ihr mit Wurzelbürste und Seife zu Leibe rückte.

      Einige Monate lang konnte man nur ein Wohnzimmer im Erdgeschoss, ein Schlafzimmer im oberen Stockwerk und eine notdürftig überdachte Außenküche als bewohnbar bezeichnen. Der neue, nicht genehmigte Anbau, war zunächst offiziell im Rohbau steckengeblieben, er war mit einem Bauverbot und Strafandrohung belegt worden, doch heimlich wurde weitergebaut.

      Sieben Personen und ein Hund schliefen im selben Zimmer. Mutter und Vater, oder die treue Hausangestellte mit dem Vater ohne Mutter, schliefen manchmal unten auf dem Sofa. Dann lag Mutter heulend allein in ihrem kalten Bett. Edda schlüpfte gerne zu ihr.

      Im Wohnzimmer wuchsen in hellem Grün die Brennnesseln aus dem festgestampften Lehmboden. Mutter verabscheute diese ganze Situation zutiefst, besonders die Toiletten-Einrichtung. Sie stand unschlüssig in diesem Balkenhäuschen und blickte hinunter auf den anwachsenden Kalk-Gemisch-Haufen. Angewidert zerrte sie ihren engen Kostümrock in die Höhe und holte sich als einzige immer wieder Holzsplitter in den Sitzbereich ihrer Oberschenkel. Einen Nachttopf lehnte sie für das “Große“ ebenso empört ab.

      Vater war hartnäckig, es gab kein zurück. Sie hatte doch auch schon ohne Protest einen „Vierzigtonner“ samt Anhänger, voll beladen mit triefend nassem Kies, über glatte Straßen durch dunkle Winternächte gelenkt. Oder unzählige Male verschlafene Penner aus dem Obdachlosen-Asyl aufgesammelt, mit ihnen über den Stundenlohn feilschen müssen. Jene Wesen, die keinen festen Wohnsitz hatten, die am Freitagabend ihren gesamten Wochenlohn ertränkten und am Montagmorgen,