Gabriele Plate

Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum


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für den ersten Bauabschnitt, der war immer noch nicht überwiesen worden. Da kein Kapital zur Verfügung stand und er Sprit für die Baumaschinen brauchte, damit es weiterging, nahm er das Heizöl. Er war hoch verschuldet. Das Heizöl wurde immer auf Mutters Namen bestellt, da sie offiziell die Hauseigentümerin war. Also bekam sie die Anzeige wegen Zollvergehens. Irgendjemand hatte ihn verpfiffen. Das Heizöl für Wohnungen kostete zu der Zeit elf Pfennig pro Liter. Der Diesel für LKWs und Baumaschinen war doppelt so teuer. Aber deshalb hatte Vater es nicht abgezapft, sondern weil es ihm schließlich gehörte, er es dringend brauchte und kein Geld hatte, um welches zu kaufen. Das Zollamt schätzte, wie viel und wie oft er in den letzten Monaten aus dem viertausend Liter Tank, Diesel entwendet und zweckentfremdet haben könnte. Mutter bekam eine hohe Geldbuße, die sie nicht zahlen konnte. Beugehaft war die Alternative. Diese Ankündigung war keine Überraschung, denn die Drohung hatte sich über einige Wochen hingezogen, bis die freundlichen Polizisten eintrafen.

      „Bin gleich wieder da“, hatte sie Edda tröstend zugerufen. Und wahrhaftig, wenige Stunden später war sie zurück. Auf sie konnte man sich verlassen. Der Rechtsanwalt, der zahlreiche Streitereien für Vaters Firma ausgefochten hatte und dessen reichliche Honorarforderungen noch offen waren, hatte trotzdem aus seinen Privatpfründen das nötige Geld aufgebracht und Mutter ausgelöst. Das hatte eine heftige Eifersuchtsattacke ihres Ehemannes zur Folge gehabt, er wollte noch am selben Abend los, um dem Kerl die Eier abzutreten.

      Mutter konnte überzeugend auftreten, doch sie war sehr müde geworden. Wenn ihr der Rücken wehtat, rief sie manchmal nach ihrer kleinsten Tochter und nach Edda. Sie legte sich auf den Fußboden, und die beiden Kinder durften abwechselnd über ihren Rücken balancieren. Auf und ab, das machte Spaß. Mutter schnaufte in die Wolldecke unter sich und stöhnte. „Gut so, genau, da, ja, und weiter oben.“

      Etwa ein Viertel des alten Hauses war auf Vaters Anweisung hin unterkellert worden, der obere Teil, fachmännisch nach gutem Bergmannswissen, abgestützt. Es war der Teil des Wohnraumes darüber, aus dessen Bodenritzen die Brennnesseln drangen. Am Tag zuvor waren die Pfeiler gegossen worden. Der Polier meinte, es sei zu früh, um die Holzstützen zu entfernen, man solle bis zum nächsten Tag warten. Vater bediente sich einer rauen Sprache, besonders wenn er seine Arbeiter mit Witzen begeisterte. Arschlöcher und Fotzen stolperten im Rudel durch das Buschwerk seiner Annäherungsversuche an den Humor.

      Diesem Polier wurde nun aufs deutlichste empfohlen, sich seine beschissene Weisheit unter die Nille zu schieben. Edda hatte schon öfter von dieser Nille gehört, denn dahin sollten sich auch die Gläubiger etwas schieben. Sie hatte in jüngeren Jahren Ausschau gehalten, nach diesem eigenartigen Ding. Es war ein lustiges Wort, und sie hatte damals gedacht, es könnte sich vielleicht um ein kleines, bunt gefüttertes Geheimkästchen handeln. Warum schob man die empfohlene Sache nicht dort hinein, sondern darunter? Inzwischen hatte sich dieses Missverständnis geklärt.

      Der Polier verweigerte Vaters Befehl, was seine Vorhaut betraf, sowie den Abschlag der Stützen. Vater schob ihn ärgerlich zur Seite, schließlich war er auch Brückenbauer, er hatte hundertmal und mehr, Stützen entfernen lassen. So nahm er selbst den großen Vorschlaghammer zur Hand und schlug kräftig zu. Eine Holzstütze nach der anderen fiel zu Boden, es war ein Wald von Holzstämmen, den das Wohnzimmer unter sich hatte. Es abstützte!

      Vater wusste, dass der Stahlbeton wenigstens vierundzwanzig Stunden benötigte, um einen belastbaren Härtegrad zu erreichen. Ihm war auch keinesfalls fremd, dass er mindestens sechsunddreißig Stunden benötigte, um zusätzlich seiner errechneten Druck- und Zugbelastung gerecht werden zu können. Es waren aber seit Beendigung der Betonschüttung keine achtzehn Stunden vergangen.

      Mutter hörte ein komisches Geräusch. Sie war mit ihrer Ältesten im Wohnraum. Diese sah einen lebendigen Riss an der tragenden Wand. Ein Riss der sich in Sekundenschnelle vergrößerte, plötzlich in Handbreite aufklaffte und dort den Himmel ein Stück ersichtlich machte. Dann hörte man Vaters Schreie.

      „Alle Mann raus, das Haus bricht zusammen. Alle Mann raus, verdammte Bande, raus da, RAAUUUS! SOFORT!“

      Mutter ergriff in Panik das lebensgroße Ölgemälde ihrer früh verstorbenen Mutter, welches sie auf die abenteuerlichste Weise durch den Krieg geschleppt hatte und stürzte hinter ihrer Tochter her. Beide waren keine zwei Minuten draußen, in sicherem Abstand, als das Haus einstürzte. Es riss etwa ein Drittel der Ruine mit sich, also mehr als die gesamte momentan bewohnte Fläche ausmachte. Unglaublicher Lärm begleitete das Geschehen, gefolgt von einer kilometerweit sichtbaren Staubwolke. Das Haus war recht einsam gelegen, von der Straße nicht einsehbar, doch etwa zehn Minuten später standen, von der Staubwolke angelockt, fremde Schaulustige vor dem immer noch rauchenden Trümmerfeld. Doch das war etwas später, zuerst einmal gab es ein herzzerreißendes Gejammer von Eddas Mutter.

      „Edda, Edda! Mein Kind, mein Kind, nein, oh Gott!“ Sie heulte schrecklich, schrie und wühlte mit abgeknicktem Stöckelschuh in den Trümmern nach Edda.

      Vater war in seinem Element, Katastrophen lagen ihm. Er teilte sofort alle Zuschauer ein. Sie gehorchten wie hypnotisiert. Meter für Meter wurde vorsichtig, systematisch der enorme Schutthaufen geöffnet. Man vermutete unter jedem Stein die zerschmetterte Edda zu finden, das geliebte Kind.

      Auch Vater rief ununterbrochen nach ihr. „Edda, kannst du mich hören, hörst du mich!“ Das klang sehr flehend.

      Edda war nach der Fenstergeschichte, damit die Strafe auch ordentlich abgerundet wurde, auf den Speicher geschickt worden, um dort den ganzen Nachmittag vor der Riesenanzahl alter Dachfenster zu hocken und den alten Kitt mit einem Spachtel auszukratzen. Es waren wirklich viele Fenster! Edda hatte eine kurze Besichtigung gemacht und entschieden, erst einmal zu flüchten. Auf ihren Baum. Sie entwischte unbemerkt, holte sich aber vorher noch aus dem blechernen Brotkasten, in den die Mäuse keinen Einlass fanden, ein doppeltes Stück Apfelkuchen und eine Flasche Dauermilch aus dem Vorrat. Sie nahm eine Wolldecke mit und wollte schmollen.

      Kurze Zeit später hörte sie den Lärm, lief hinunter an den Waldrand und sah die Bescherung schon von weitem. Dann hörte sie ihre Mutter nach Edda jammern. Edda stockte und huschte seitlich ins Farnkraut. Sie sollen alle mal ein bisschen um mich bangen, dachte sie. Am liebsten, nachdem sie gerade verhauen worden war, stellte sie sich ihre eigene Beerdigung vor. Sie wollte ihren Vater gerne um sie heulen sehen. Aber das hier, war auch nicht schlecht. Sie würden eine ganze Zeit brauchen, diesen Schuttberg zu durchwühlen.

      Edda beobachtete einige Minuten schmunzelnd ihre trauernde Familie. Sie hörte noch wie ihr Vater die Polizisten, die inzwischen auch eingetroffen waren, ungeduldig anschnauzte. Sie sollten gefälligst einen Krankenwagen anordnen, es sei möglich, dass sich seine Tochter unter diesen Trümmern befinde. Dann wühlte er weiter nach ihr.

      Edda schlich zurück auf ihren Baum und verspeiste genüsslich den Kuchenrest, holte ihren Schmöker heraus und freute sich, dass man um ihr Leben bangte. Erst als die Dämmerung einsetzte, stieg sie herab und wagte sich langsam in den Kreis des Scheinwerferlichtes, welches die verbissen schaufelnden Männer umgab. Vater entfernte schnell und vorsichtig, total nassgeschwitzt, einen Steinbrocken nach dem anderen. Schwere große Natursteine. Er wischte sich mit dem Arm über die Stirn und sah sehr verzweifelt aus.

      Edda bemerkte, er hatte blutige Hände, das beeindruckte sie besonders. Ihre übrigen Familienmitglieder saßen niedergeschlagen am flackernden Feuer, in der Nähe des Schutthaufens. Edda kam angeschlendert, die Hände in den Hosentaschen, ihre Stimme betont lässig. „Was ist denn hier los?“

      Vater blickte auf, sah sie an und wusste Bescheid. Er stürzte aus den Trümmern, umarmte Edda wie noch nie zuvor, bedeckte sie kurz und heftig mit Küssen auf Kopf und Wangen, um sie dann übers Knie zu legen und ihr mit blutiger Hand den Hintern zu versohlen. Ohne Stock.

      Danach durfte Mutter an die Reihe, alle umarmten und herzten Edda. Man hatte bis dahin nur den toten Hund geborgen, der die Angewohnheit gehabt hatte, sobald er Vater brüllen hörte, sich eiligst unter Eddas Bett zu verkriechen. Mit diesem Bett war er in die Tiefe gestürzt. Alle Dachfenster waren zerstört. Gut, dachte Edda, dass ich mir diese blödsinnige Arbeit gespart habe. Noch nie hatte sie sich so wenig, oder besser gesagt gar nicht, gedemütigt gefühlt, wie nach dieser zweiten Tracht Prügel an diesem