Gabriele Plate

Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum


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Spiel nicht leid, und es gab jedes Mal ein heiteres Toben der nackten Kinderfüße auf poliertem Zementboden.

      Bis eines Nachts Schwester Marlies hereinstürmte. Das Neonlicht blitzte auf, und Edda stand als einziges Kind, mit ihrer Decke im Arm, blinzelnd mitten im Saal. Die anderen Kinder stellten sich schlafend. Schwester Marlies war nicht ratlos. Sie holte Mullbandagen und fesselte Eddas Handgelenke an die Gitterstäbe, deckte sie bis zur Nasenspitze zu, löschte das Licht und verließ den Schlafsaal. Bis zum nächsten Morgen lag Edda in ihrem kalten Bett ohne Decke und tränengetränkten Entenfedern im Kopfkissen. Die Zudecke war von den Kindern in die hinterste Ecke des Bettchens geschoben worden. Es war Winter. In diesen Jahren waren auch Kinderheime mit uralten, schlecht entlüfteten Heizkörpern ausgestattet. Edda erkrankte an einer Lungenentzündung. Sie war fünf Wochen in diesem Heim.

      Als sie am Bahnhof von ihrer Mutter aus den Händen der Aufsichtsperson befreit wurde, war sie blass und hatte tiefe Schatten unter den weit aufgerissenen Kinderaugen. Sie sprach kein Wort. Hastig griff sie die Hand ihrer besorgten Mutter und krallte sich dort fest, ohne Tränen. Sie beantwortete keine, der mit lieblicher Stimme gestellten Fragen ihrer Mutter. Als sie nach sechs Monaten immer noch nicht sprach, fürchtete man ernstlich um ihren Verstand. Vermutlich hatte das hohe Fieber diesen Schaden angerichtet. Die Einschulung stand bevor, das wurde zu einem Problem. Eine ihrer Schwestern war bereits in der ersten Schulklasse. Edda hatte mit Eifer bei deren Hausaufgaben dabei gesessen und wie im Spiel mitgelernt. Sie konnte inzwischen schreiben und lesen wie ihre Schwester, doch niemand hatte ihre geschriebenen Buchstaben beachtet, niemand hörte sie lesen, sie machte das lautlos, nur mit den Lippenbewegungen. Der Behördenarzt fand das sofort heraus und alle waren erstaunt. Auch ein außergewöhnlich empfindliches Gehör wurde festgestellt. Ein Psychologe wurde zu Rate gezogen, das war damals etwas sehr Außergewöhnliches, aber Eddas Mutter bestand darauf. „Dekadent“, knurrte Vater widerwillig.

      Beide Ärzte begegneten sich in Anwesenheit von Edda. „Das Problem ist, Herr Kollege“, sagte der Schularzt und stellte Edda vor, „die Kleine kann nicht sprechen.“

      Edda hüpfte von ihrem Stuhl, zog den neuen, netten Doktor, der keinen weißen Kittel trug, zur Seite und flüsterte dem erstaunten Mann ins Ohr: „Sprechen kann sie, will sie aber nicht.“

      Dieser bestätigte, dass Edda zwar etwas übersensibel sei, unterernährt und mit zurückgebliebener Egobildung, aber besonders aufnahmewillig und mit erfreulicher Intelligenz gesegnet. Sie könne auf jeden Fall Ostern eingeschult werden.

      „Na, was habe ich gesagt“, dröhnte Vater, „meine Kinder brauchen keinen Seelenflicker.“

      Vater, war er ein Opfer seines Vaters? Der Lehrer, der Gesellschaft, des Militärs, des Krieges? Wie lange konnte ein Jeder auf der Vergangenheit herumreiten? Besonders auf dem Sattel der Kindheit, der verschlissenen Schuld der Anderen. Und wer kann sich rühmen kein Opfer zu sein! Meistens findet sich schon bei oberflächlichem Graben ein Quäler. Aus der Kindheit muss er sein! Edda hörte den barschen, ungeduldigen Ton ihres Vaters immer noch. „Wenn du noch einmal hustest, gibt es den Arsch voll und ab ins Bett.“

      Sie hustete gerne, es ging in ein Bellen über, und der besorgte Arm ihrer Mutter legte sich um sie. Aber sie kotzte nicht mehr. Eine Zank- und Beißaktion mit ihrer Schwester, endete kniend, angebunden am Fuße des Kleiderschranks im Elternschlafzimmer. Beide Kinder sollten unaufhörlich Wau-Wau rufen. Wenn diese Belllaute verstummten und in ein Schluchzen übergegangen waren, erhob sich Vater grinsend aus seinem Sessel im Wohnzimmer. Mit einem Holzkleiderbügel gab es dann einen Klaps auf den Popo. „Wenn sie sich wie die Köter beißen können, sollen sie auch bellen wie die Köter!“ Mutter versuchte sich empört einzumischen. „Das wird so gemacht und damit basta“, schnauzte er. Er war zufrieden über seinen gelungenen Erziehungseinfall und gab ihn später gerne vor seinen Gästen zum Besten. Dann imitierte er eindrucksvoll die schluchzenden Wau-Laute seiner kleinen Töchter, und er lachte herzhaft dazu.

      Edda saß geschützt hoch oben in ihrer Buche. Mit Kissen und verbotenen Comics, mit Taschenlampe, Proviant und den Vogelstimmen ganz nahe. Ihre fälligen Schulaufgaben waren in sehr weite Ferne gerückt. Ein großes Loch in der Erde diente auch manchmal als Versteck, abgedeckt mit Verschalungsplatten und lehmiger Erde darüber, auf der das zarte Unkraut einen Teppich gebildet hatte, der diesen Rückzugsort noch unsichtbarer machte. Gefüllt mit Matratze, Farnkraut, Kerzen, Konservendosen und voller Träume. Ihr Irisch Setter liebte dieses feuchte Loch ebenfalls.

      Manchmal verlangte es sie danach, über das Geländer der Eisenbahnbrücke einer stillgelegten Bahnlinie zu balancieren, in schwindelerregender Höhe, als sei sie ihr eigener Henker. Dann sollte Vater schon sehen, er würde sie vermissen. Aber sie fiel nicht hinunter.

      Die Spiele mit Laub und Moos, mit Pflanzen, Lehm und Fels fühlten sich gut an. Das Material atmete hörbar, sprach mit ihr und antwortete. Sanfte Geborgenheit in der Lärchenschonung, die auf einem einzigen Quadratmeter unendlich weit erscheinende Landschaften der Fantasie bieten konnte. Feinste Grashalme konnten dabei in Bäume verwandelt werden, und zwei nebeneinander liegende Steinbrocken zu einem Gebirgszug. Niemand flog mit.

      Mutters, über die Flucht geretteten Anlegelöffel, neunhunderter Sterling Silber, dienten als Minibagger. Das verlangte „den Arsch voll“. Aus Kerzenwachs entstanden unter ihren Händen alle Wesen ihrer Wahl. Lehm und Erde kneten, Wälle bauen, Bäche stauen, das war Edda. Vaters Schuhe waren wieder nicht ordentlich geputzt.„Edda, verdammt noch mal, wie oft soll ich dir noch einbläuen, die Creme schmiert man nicht über den Dreck aufs Leder.“ Die guten „Zwiegenähten“ glänzten nicht wie erwünscht.

      „Um sieben bist du zu Hause, keine Widerworte!“ Es konnte sieben sein um Fünf, oder sechs um acht. Um zehn? Nein, um zehn fühlte sie deutlich, es war schon sieben vorbei. „Arsch voll“ und ab ins Bett, kein Abendessen.

      Warum sollte sie in den Ferien, in den himmlischen Sommerferien, schon um sieben im Haus sein! Sie schlich scheinbar schuldbewusst aus Vaters Blickfeld, mit hängendem Blick auf ihre Fußspitzen. Hinein in ihr Kinderzimmer und zum Fenster wieder hinaus in die Sommernacht. Barfuß durch den Tau, Kuhfladen und frische Maulwurfhügel zwischen den Zehen. Sie stürmte über die Weiden, mied die Nachtkühe und landete in einem schützenden Heuschober am Wiesenrand. In solchen Einrichtungen lebte es auch des Nachts. Zahlreiches Kleingetier wurde durch Eddas Anwesenheit nicht von seinem Treiben abgehalten. Es raschelte und piepste, sie lag ganz still. Man konnte in diesen Nestern aus duftendem Heu träumen, trotzen, weinen, lachen oder auch verliebt sein. So wie Edda, in den tödlich verunglückten Michael Grzimek, sie weinte um ihn. Sie kannte ihn gar nicht, nur vom Foto aus einem Buch, das sein Vater geschrieben und ihm gewidmet hatte. Dieses Ganzblattfoto hatte sie herausgerissen und versteckt, immer griffbereit. Van Cliburn war in den Hintergrund getreten.

      Sie konnte im Heuschober singen und wunderbar schlafen. Außerdem konnte sie den Kopf ein wenig nach draußen legen und ihrem Lieblingsstern zublinzeln, dem winzigen Kleinen, der vielleicht der Größte war. Der über dem zweiten Oberen des „Wagens“ hockte und nur bei wolkenloser Nacht zu erkennen war.

      Nur Eddas neuer Hund bemerkte, wenn sie heimlich das Haus verlassen hatte. Er kratzte so lange an der Haustür und winselte, bis Mutter ihn genervt hinaus ließ. „Der Köter geht wildern“, schimpfte Vater, „sie werden ihn erschießen.“

      „Er muss nur schnell seine Lusche machen“, flötete Mutter. Der Hund schoss wie der Blitz durch den Türspalt, nahm Eddas Fährte auf und raste davon. Jetzt interessierte ihn kein Reh mehr, kein Kaninchen. Er fand seine Herrin und kuschelte sich zu ihr ins Heu.

      Aus heiterem Himmel kamen Schulranzenkontrollen über Edda gepoltert. Sie ekelte sich vor Leberwurst, schon der Geruch ließ sie würgen, das war niemandem im Hause unbekannt. Mindestens zweimal in der Woche aber, steckte das Hausmädchen ihr diese Leberwurststullen in die Schultasche, und ebenso regelmäßig vergaß Edda diese Relikte rechtzeitig dem Hund zu geben. Diese elenden, angeschimmelten Uraltbrote klapperten zu Vaters Füssen. Hefte mit gesammelten Fünfern und seiner Unterschrift, die er nicht geleistet hatte, taten sich zusätzlich vor seinem Blick auf.

      Der Stempel für diese Unterschrift wurde in seiner Schreibtischschublade deponiert. Falls Mutter dringend seine Unterschrift benötigte,