Christine Boy

Sichelland


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Mädchen hatte nicht die geringste Vorstellung, was sie von hier aus überhaupt tun konnte, doch solange sie gar nichts tat, machte sie die Situation bestimmt nicht besser.

      Mit einem vagen Gedanken verließ sie schließlich den Raum und schlich dann die Gänge zur breiten Treppe hinab, von dort aus weiter in einen schmalen Flur und dann eine weitere, wesentlich schmalere Steintreppe hinunter in den Keller.

      Niemand war mehr in der Bibliothek, doch zumindest die vorderen Räume waren Tag und Nacht geöffnet, da „der Durst nach Wissen einen jederzeit übermannen kann“, so der alte Meister der Schriften, der hier tagsüber alles penibel verwaltete.

      Die flackernde Öllampe verbreitete nur schwaches Licht, aber es reichte für Sara um sich zurecht zu finden. Das, worauf sie es es abgesehen hatte, lag nicht hier vorne, sondern in einer der hinteren, abgeschlossenen Kammern, versperrt für einfache Novizinnen und nur unter strenger Aufsicht durch den Bibliothekar für höhere Tempeldienerinnen zugänglich. Hier wurde das Wissen verwahrt, das Beema für unnötig, teils sogar für unwahr oder verwerflich hielt.

      Sara gehörte nicht zu der Riege der Auserwählten, denen dieses Recht zuteil wurde, aber sie zählte zu den Lieblingen des Schriftenmeisters, da sie gelehrig und gleichzeitig umsichtig und still war. Und so war sie vor einiger Zeit Zeugin geworden, als der alte Mann den Schlüssel seiner Heiligtümer in ein Geheimfach seines Schreibtischs geschoben hatte. Er hatte Saras Anwesenheit ganz vergessen und als er sie endlich bemerkt hatte, saß sie tief über eine Schriftrolle gebeugt da und ließ nicht erkennen, dass sie von seinem Geheimnis wusste.

      Das Fach war nicht abgeschlossen, aber auch nicht für Uneingeweihte zu erkennen. Man musste die mittlere Schublade beinahe ganz herausziehen, dann ließ sich ein Teil der inneren Seitenwand des Pultes zur Seite schieben. Der Spalt dahinter war nicht groß, bot aber vier Haken Platz, an denen bronzeschimmernde kleine Schlüssel baumelten. Sie unterschieden sich beinahe unmerklich an ihren Bärten und bevor die Novizin alle in ihre Tasche gleiten ließ, merkte sie sich genau, in welcher Reihenfolge sie zuvor aufgehängt worden waren. Niemand würde merken, dass ein Fremder sie für kurze Zeit an sich genommen hatte.

      Die vier Kammern lagen nebeneinander an der Nordwand des Kellers. Sara brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass die hohen Regale des dritten Raumes das beherbergten, worauf sie aus war. Hier lagerten die alten Aufzeichnungen über die Geschichte Sacuas, über alte Mythen, Legenden und Sagen des gesamten Kontinents. 'Lügen und Märchen', wie Beema einmal gesagt hatte, als eine junge neue Novizin sie danach fragte. Die Historie spielte keine Rolle im Nebeltempel, es sei denn, es ging um Traditionen in der Heilkunst. Die wenigen Fakten, die im Tempelunterricht gelehrt wurden, waren ungenau und öde, so dass den meisten Mädchen schon nach den ersten Lektionen die Lust auf weitere Nachforschungen verging.

      Sara hingegen hatte in Menrir einen neuen Lehrer gefunden und in langen Gesprächen im Garten hatte er ihr von Dingen berichtet, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Doch auch er hatte sich über das Land Cycalas ausgeschwiegen, hatte ihr nur wenig vom Großen Krieg erzählt und immer wieder betont, dass sie das Wissen darüber erlangen würde, wenn 'die Zeit reif sei'.

      'Vielleicht ist sie das auch nie...' hatte er noch hinzugefügt.

      'Sie ist es.' dachte die Novizin jetzt und ließ das flackernde orangefarbene Licht über die Reihen der Schriftrollen und Bücher wandern. Genau wusste sie nicht, wonach sie suchte, aber sicher war, dass Berichte über den Reichtum Manataras oder über die Religion der Chaz-Priester bei ihr von nachgeordnetem Interesse waren.

      Es war unglaublich, wie viele alte Dokumente hier lagerten und verstaubten. Grundrisse von teilweise längst verfallenen Bauten, Stammbücher alter Familien, Chroniken von Dörfern und Städten, Karten von allen möglichen Regionen Sacuas und vielerlei Sammlungen von Geschichten und Aufzeichnungen über das Leben und Sterben mehr oder minder bedeutender Personen. Verzeichnisse über nicht mehr existenten Grundbesitz stapelten sich neben Auflistungen von Ernteerträgen und Berichten über hohe Festlichkeiten und unter dem Regal hatte jemand flache Körbe mit losen handbeschriebenen Pergamenten gefüllt, die mit den Jahren nahezu unleserlich verblasst waren.

      Sara fragte sich, ob der alte Meister sich in diesem Chaos irgendwie zurecht fand, denn eine Ordnung war nicht zu erkennen. Auch schienen die meisten Werke in keinem sehr guten Zustand und der ganze Raum sah aus, als wäre seit Jahren niemand hier gewesen. So sauber und gut sortiert die öffentlichen Bereiche des Archives auch waren, so vernachlässigt und unübersichtlich war der verschlossene Teil.

      Nach einiger Zeit machte sich jedoch Enttäuschung bei der Novizin breit, denn alle Schriftstücke hatten eines gemeinsam: Sämtliche Daten endeten noch vor der Zeit des Großen Krieges, aus der „Dunklen Zeit“ oder den nachfolgenden Jahren gab es jedoch keinerlei Aufzeichnungen. Außerdem beschränkten sich alle Informationen größtenteils auf das Mittelland, seltener auch auf Manatar, doch nicht über Valahir hinaus. Die Karten endeten an der Bergkette und in keinem der Texte war auch nur mit einem Wort erwähnt, dass die Welt hinter den Gipfeln nicht zu Ende war.

      Etwas ratlos ließ sich Sara auf einem wackligen Hocker nieder und dachte nach. Es musste doch auch neuere Schriften geben, irgendetwas, was nicht unter zwölf Jahre altem Staub begraben lag. Trotzdem war sie sich sicher, dass sie im richtigen Raum war. In der angrenzenden Kammer war die große Sammlung von Heilrezepten und Giftanleitungen, in der nächsten die Korrespondenz des Tempels und seine wirtschaftliche Buchführung und im hintersten Raum schließlich alles Niedergeschriebene, was über die Religion und seine Zeremonien und Mysterien vorhanden war. Und da Sara selbst viel Zeit hier unten im Keller verbrachte, wusste sie auch, dass es keine weiteren Archive gab, weder offensichtliche noch verborgene. Konnte es tatsächlich sein, dass man sich weigerte, derartige Dokumente aufzubewahren? Oder dass Beema sie nicht einmal dem alten Bibliothekar anvertrauen wollte und sie an einen anderen Ort hatte bringen lassen? Aber warum? Es war kein Geheimnis, dass die Vorsteherin ihre Novizinnen nicht zum Nachdenken bringen wollte, dass sie den Tempel über alle Zeiten und Unruhen erhaben sah und dass fremde Kulturen und Religionen ihrer Ansicht nach nur der Reinheit des Tempels schadeten – es sei denn, sie machten durch hohe Besuche von sich reden. Doch selbst in dem so kläglichen Geschichtsunterricht wurden Länder wie Cycalas oder Shanguin inzwischen, zumindest was ihre Existenz betraf, erwähnt. Warum fand sich dann hier überhaupt nichts?

      Sara dachte an die Karte, die sie Lennys gegeben hatte. Sie war viel neuer gewesen als alles andere hier unten und sie hatte offen zwischen den Schriftrollen im vorderen Bereich gelegen – warum auch immer – und niemand schien sie bisher zu vermissen. Ein seltsamer Zufall war es gewesen, fast als ob diese Rarität genau auf sie gewartet hätte ... als hätte sie jemand gerade für sie dort hingelegt.

      Sie beschloss, sich wider besseren Wissens noch einmal die anderen Kammern anzusehen und stellte den Hocker wieder in die Ecke. Dabei fiel ihr Blick auf den kleinen Schreibtisch, an dem der alte Meister wohl in den Papieren las, die er nicht mit nach draußen nehmen wollte. Darauf lag aufgeschlagen eine schlecht zusammengebundene, dünne Sammlung von kleinen Pergamentblättern, auf Vorder- und Rückseite mit sehr kleiner, enger Schrift beschrieben und insgesamt recht gut erhalten. Besser als die meisten Dokumente hier.

      Sie beugte sich darüber. Ihre schwache Lampe reichte kaum aus um die winzige Schrift zu entziffern, immer wieder verschwamm die schwarze Tinte mit dem Schatten, den sie selbst auf die Aufzeichnung warf. Vorsichtig hob Sara den Lederdeckel an, in den die Blätter gebunden worden waren.

      Kein Titel. Kein Verfasser.

      Die erste Seite begann mit einer einfachen, unauffälligen Überschrift:

      „26. Tag des Neb

      Die Küste ist menschenleer, aber wir haben auch nichts anderes erwartet“

      Sara war stutzig geworden. Das Wort 'Küste' kam ihr in diesem Schriftbild seltsam vertraut vor. Das 'K' war mit einem kleinen spitzen Haken verziert, den sie schon einmal gesehen hatte... vor gar nicht allzu langer Zeit.

      Plötzlich fiel es ihr ein. Die Karte mit den Kreuzen, die es hier eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Die Karte, die als einziger Gegenstand in diesem Keller weniger als zwölf Jahre alt war. Wer immer sie geschrieben hatte, er war auch der Verfasser dieses Pergaments.