Christine Boy

Sichelland


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die Lederdeckel wieder zusammen und schob das Manuskript unter ihren Umhang. Dann verließ sie das verbotene Zimmer wieder, schloss sorgfältig hinter sich ab und brachte die Schlüssel wieder in ihr Geheimfach im Schreibtisch zurück. Bevor sie den Ausgang zur Treppe erreichte, löschte sie noch die Lampe, um möglichen verspäteten Spaziergängern im Tempel nicht sofort aufzufallen, doch schon nach wenigen Schritten wusste sie, dass dies nicht nötig gewesen wäre. Durch die hohen Fenster in der Eingangshalle schimmerte fahles Mondlicht. Sie hatte weit mehr Zeit im Archiv verbracht, als es ihr bewusst gewesen war.

      Schnell lief sie zurück in den oberen Stock und war erleichtert, als sie unbemerkt wieder Lennys' Zimmer erreichte. Sie kam nicht gerne hierher zurück, aber dies war der einzige Ort im ganzen Tempel, an dem sie mit Sicherheit ungestört blieb.

      Sara versuchte, nicht auf das leere Bett zu achten, als sie sich unter dem Fenster auf dem Boden niederließ und die Öllampe wieder entzündete. Sie drehte das Licht hoch und plötzlich erschienen die feinen Linien und Buchstaben viel klarer und deutlicher als noch zuvor im Keller. Ohne jegliche Ahnung, was sie erwartete und ob das, was sie vor sich hatte, überhaupt von Belang war, begann sie zu lesen.

      „26. Tag des Neb

      Die Küste ist menschenleer, aber wir haben auch nichts anderes erwartet. Die Menschen hier haben Angst vor dem Meer, Angst vor der Dunkelheit, Angst vor allem. Niemand wagt sich bei Nacht hierher, sie erzählen sogar von einem Dämon, der in der Finsternis aus den Fluten steigt und ahnungslose Wanderer zu sich holt. Lächerlich, diese Leute.

      Sechs Tage hat unsere Reise gedauert, der Gegenwind hat uns viel Zeit gekostet. Doch wir hatten keine Eile. Niemand von uns sehnte sich nach einem Land, in dem unsere Brüder und Schwester gejagt und ermordet werden, in dem unser Name mit Abschaum und Schande gleichgesetzt wird. Aber wir werden sie nicht weiter sterben lassen, wir werden nicht weiter zu Hause sitzen und stumm die Nachrichten aufnehmen, die uns die wenigen überlebenden Boten bringen. Heute beginnt ein neuer Kampf.

      Vielleicht wird niemand von uns überleben. Doch wenn die Mächte, die ich anbete, mir wohlgesonnen sind, werden diese Zeilen einmal den Weg zurück zur Sichel finden und unser Volk wird dann wissen, was geschah.

      Welch ein Moment, als wir den Fuß auf diesen schmutzigen Boden der Lügen setzten. Wir fühlten uns willkommen, doch nicht von denen, die hier leben, sondern von den unseren, die uns hier erwarten. Sie brauchen unsere Hilfe nicht, sie sind stark genug, den Kampf alleine zu gewinnen. Doch es gab schon zu viele Tote und mit jedem Mann, mit jeder Frau, die heute Nacht hier gelandet sind, werden die Opfer auf der anderen Seite wachsen und die Verluste auf der unseren werden schwinden. Hier, im Schatten der Ruinen, beginnt unser Weg und wir Kinder der Nacht werden der Sonne begegnen und entgegen ihrem Lauf nach Osten wandern. Wie ihr werden wir auch unserem Feind entgegensehen und ihm nicht den Rücken kehren.

      27. Tag des Neb

      Wir kommen gut voran. Über die weiten Ebenen wären wir wohl noch schneller gewesen, aber auch wenn diese Gegend wie ausgestorben ist, wollen wir uns noch nicht zu sehr zeigen. Ich musste lachen, als Farhor von den abergläubischen Geschichten erzählte, die sich um diese Region ranken. Angeblich sollen hier die Seelen der Toten umherwandern, weshalb es trotz des fruchtbaren Bodens hier kaum Dörfer und Siedlungen gibt. Es ist nicht zu fassen, um wie viel Lebensqualität sich diese Bauern hier durch solche Gerüchte bringen. Uns kann es nur recht sein.

      Noch in der letzten Nacht haben wir uns auf den Weg gemacht und inzwischen haben wir den Wald erreicht, der östlich der Ruinen liegt. Valahir wacht stets über uns und in seinen Schatten scheint die Heimat weit weniger fern. Manches ist wirklich wie zu Hause. Die Berge über uns und wir inmitten eines dichten schützenden Forstes, der uns als einen Teil von sich aufnimmt. Doch im nächsten Moment ist das Sichelland so weit entfernt, dass es mir das Herz zerreißt. Mögen diese Zeiten bald ein Ende und wir den Weg zurück finden.

      Tagsüber ruhen wir, obwohl voller Kraft, um in der von uns so geliebten Dunkelheit weiterzugehen. Vielleicht können wir sogar bis morgen früh den großen Fluss erreichen, den sie hier Ben-Apu nennen. Vielleicht....

      Phio hat Recht, wir dürfen nichts überstürzen. Er rechnet damit, dass wir heute abend den ersten Menschen hier begegnen werden und dass diese uns nicht freundlich gesonnen sind, ist allen hier klar. Wir können jetzt keine Rücksicht mehr darauf nehmen, wer dem Bösen mehr und wer weniger zugetan ist – die wenigen Verbündeten dieses Volkes, die wir haben, werden die Einzigen sein, die wir nicht aus dem Weg schlagen.

      Morgen sollen wir auch endlich neue Nachrichten aus Goriol erhalten. Phio rechnet fest damit, dass es wenigstens einer der Boten bis zu uns schafft. Wir brennen alle auf das, was uns bevorsteht, so sehr wir diesen Boden hier auch verabscheuen. Doch jetzt, da wir endlich hier sind inmitten des Kampfes, wollen wir auch unsere Fähigkeiten beweisen – die Kräfte unseres Volkes, das zum Feind zu haben das Verderben bedeutet. Das Ende ist zum Greifen nah, auch wenn niemand von uns weiß, ob er es erleben wird. Was bedeutet schon der Tod?

      28. Tag des Neb

      Wie schwer es doch ist, jetzt die Feder zu führen, doch kann ich auch nicht an mich halten, von den Ereignissen des Tages zu berichten.

      Der Ben-Apu ist nicht mehr weit, doch noch bevor das Rauschen seiner Wasser uns erreichte, wurden wir zu einer Rast gezwungen, die uns mehr bescherte, als wir an diesem Tage zu hoffen gewagt hatten.

      Wir erwarteten eben, dass sich die Bäume lichteten, um den Blick auf die Hügel vor dem Fluss freizugeben, als wir auf ein Lager von drei Männern stießen. Ehe bevor sie uns bemerkten, konnten wir sie belauschen und schnell wurde uns klar, dass sie sich ihren Lebensunterhalt mit dem Abschlagen unserer Köpfe verdienten. Der Inbegriff der Wertlosigkeit und der Verderbtheit saß vor uns, scheinbar wartend auf sein gerechtes Ende.

      Ich weiß nicht, wann ich zuletzt solch süßes Blut gekostet habe, doch gar lange liegt es zurück. Sie hatten nicht einmal Zeit, ihre plumpen Schwerter zu ziehen, so schnell hatten unsere Klingen ihre Kehlen durchschnitten. Es war wenig Blut für uns, derer wir an die Fünfzig sind, doch genug für einen Schluck des Sieges, der uns berauschte wie eine ganze Kiste besten Sijaks.

      Phio hielt uns davon ab, mit ihren Leichen ein Zeichen zu setzen, noch sollten wir uns verborgen halten. Es fiel ihm aber schwer, sich gegen uns bluttrunkene Krieger durchzusetzen, die den Schlachten immer mehr entgegenfiebern.

      Auf Meldungen aus dem Osten warten wir noch vergebens, doch sind wir guter Hoffnung, dass noch viele unserer Brüder und Schwester nahe Goriol am Leben sind. Sicherlich wird der Ring um die Cas nicht so leicht zu durchbrechen sein und die Erwählten werden wie ein Kreis wirbelnder Schneiden all jene zur Hölle schicken, die sich heranwagen. Um sie muss man sich keine Sorgen machen.

      Noch immer schmecke ich die Tropfen auf meiner Zunge, die meine Sinne schier explodieren lassen. Welch eine Wohltat in meinem hohen Alter, den Geschmack des Feindes noch einmal in mir aufnehmen zu dürfen. Es werden mehr werden... die nächsten Tage werden ein Fest!

      29. Tag des Neb

      Hier, im Heidekraut an den steilen Ufern des Ben-Apu, brennt die Sonne besonders, doch wir haben keine Wahl. Kein Wald im Umkreis eines Tagesmarsches, keine Schatten spendenden Berge, keine Höhlen oder Vorsprünge, die uns vor dem grellen Licht bewahren würden.

      Den ganzen Tag haben wir auf Nachrichten gewartet und Phio fürchtete schon, keiner ihrer Boten habe es bis zum Fluss geschafft. Erst am Nachmittag konnten wir aufatmen. Jul-Huma, den ich selbst einst im Säbelkampf ausgebildet habe, fand uns hier in der Böschung liegend und auf den Abend wartend. Er kam direkt von den Cas und mit Erleichterung vernahmen wir, dass alle neun Erwählten wohlauf seien. Sie halten sich in dem großen Waldgebiet nördlich von Goriol auf, aber es sei schwer, zu ihnen durchzudringen, da viele Krieger und Kopfjäger des Landes in diesem Gebiet unterwegs seien. Die Neun könnten sich dort verschanzen, doch unsere Gruppe ist wohl zu groß, um ungesehen zu ihnen zu gelangen. Die anderen Cycala haben sich ebenfalls in viele kleinere Verbände aufgeteilt und versuchen, einen sicheren und schnellen Weg nach Orio zu finden. Es wird nicht leicht, sie dabei zu unterstützen. Jul-Huma erzählte, außer ihm seien noch zwei weitere unserer Brüder auf den Weg geschickt worden, aber er habe sie schon vor zwei Tagen aus den Augen verloren.